01.01.1999

Bilder erzählen ihre eigene Geschichte: Eine Reportage mit Folgen

Von Christine Horn

Eine ausführliche Zusammenfassung von Thomas Deichmanns Artikel über das Bild des Gefangenenlagers Trnopolje.

Am 5. August 1992 entstand das wohl bekannteste und einflussreichste Bild des Bürgerkriegs in Bosnien. Ein britisches Reporterteam besuchte auf Einladung des damaligen Anführers der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, mehrere Kriegslager, darunter Omarska und Trnopolje in der Region Prijedor in Nordbosnien. Penny Marshall und Ian Williams vom britischen Nachrichtensender Independent Television News (ITN) und Ed Vulliamy von der britischen Tageszeitung The Guardian hatten sich wenige Tage zuvor von London aus auf den Weg gemacht, um von Journalisten und der bosnisch-muslimischen Regierung in Sarajevo in Umlauf gebrachte Gerüchte über die Existenz "serbischer Konzentrationslager" zu überprüfen. Marshall, Williams und Vulliamy waren die ersten westlichen Reporter, die Omarska und Trnopolje betraten und Zeugnis ablegten über die menschenunwürdigen Bedingungen vor Ort.

Das ITN-Team bezeichnete weder Omarska noch Trnopolje als KZ. Doch Bilder erzählen ihre eigene Geschichte, und so schockierten die Fernsehreporter die Welt dennoch mit Aufnahmen aus dem Lager Trnopolje: Das Bild des bis auf die Rippen abgemagerten jungen Mannes mit nacktem Oberkörper hinter einem Stacheldrahtzaun wurde über Nacht zum Symbol der Grauen des Krieges. Und mehr: Es wurde zu einem Dokument der Zeitgeschichte; zum vermeintlichen Beweis für die Existenz der von Serben betriebenen Konzentrations- und Todeslager, die angeblich zum Zwecke des Völkermords an der muslimischen Bevölkerung eingerichtet worden waren. Das Bild des ausgemergelten muslimischen Mannes, der wenige Monate nach den Aufnahmen als Fikret Alic identifiziert wurde und heute als Flüchtling in Dänemark lebt, erinnerte an Bilder von der Befreiung der deutschen Konzentrationslager; an Bilder von kurz vor dem Hungertod gefilmten Männern, Frauen und Kindern in Auschwitz und Bergen-Belsen, eingepfercht hinter Stacheldraht in den Todesfabriken der Nazis.

Dieses Bild aus Trnopolje wurde erstmals am 6. August 1992 während mehrerer ITN-Nachrichtensendungen ausgestrahlt und ging wie ein Lauffeuer um die Welt. In Hunderten von Nachrichtensendungen wurde es überall auf der Welt präsentiert, und Zeitungsredakteure ließen es millionenfach nachdrucken. "The Proof" ("Der Beweis") war schon am 7. August in großformatigen Lettern über dem Stacheldrahtbild auf der Titelseite der Daily Mail zu lesen; "Belsen 92" titelte die Daily Mirror. Journalisten, Politiker und normale Medienkonsumenten weltweit waren sich darin einig, dass spätestens von nun an Analogien zwischen dem bosnischen Bürgerkrieg und dem Holocaust sowie den Serben und den deutschen Nazis legitim waren.

Die ITN-Aufnahmen hatten beträchtlichen Einfluss auf das öffentliche Meinungsbild wie auf politische und militärische Entscheidungsprozesse im Westen. Krisensitzungen von Führungsstäben wurden spontan einberufen, und es wurde darüber beraten, ob und wie eine härtere Gangart gegen die Serben einzuschlagen sei. Am 13. August 1992 autorisierte der UN-Sicherheitsrat erstmals die eigenen Truppen zur Gewaltanwendung und stellte die Bestrafung von Kriegsverbrechern in Aussicht. Am 18. August kündigte die britische Regierung an, eine mehrere tausend Mann starke Armee nach Bosnien zu schicken; die Regierung in Paris folgte wenige Tage später. Die Ausstrahlung der ITN-Bilder war sicher nicht der alleinige, aber doch ein wichtiger Grund für die Forcierung und Militarisierung westlicher Initiativen auf dem Balkan. Der ehemalige Angestellte des US State Departments, George Kenney, hat hierüber ausführlich berichtet1

Auch der renommierte britische Journalist Nik Gowing hat in einer autoritativen Studie festgestellt, dass das Stacheldrahtbild von ITN die Politik auf höchster Ebene beeinflusste.2

 Vier Jahre nach ihrer ersten Ausstrahlung wurden die ITN-Aufnahmen sogar Beweismaterial im ersten Kriegsverbrecherprozess gegen den bosnischen Serben Dusko Tadic vor dem Internationalen Tribunal in Den Haag.

Die Recherche Deichmanns

Im Frühjahr 1997 veröffentlichte der Journalist und Novo-Redakteur Thomas Deichmann in sieben verschiedenen Ländern seine detaillierte Untersuchung der Entstehungsgeschichte und der Bedeutung dieser bekanntesten Fernsehaufnahmen des Bosnienkrieges.3

 Er entlarvte das Stacheldrahtbild mit dem ausgemergelten Fikret Alic als eklatante Medientäuschung, weil nicht, wie dem Betrachter vermittelt, das Lager und die bosnischen Muslime von Stacheldraht eingezäunt waren, sondern die britischen Reporter selbst, die auf einem umzäunten Grundstück in unmittelbarer Nähe des eigentlichen Lagergeländes standen und von dort durch den Stacheldraht hindurch heraus filmten. Der Stacheldraht grenzte lediglich ein kleines Areal ab, eine Art Bauhof der lokalen Behörden. Der Zaun war lange vor dem Krieg angebracht worden, um den Diebstahl von untergebrachten landwirtschaftlichen Gütern zu verhindern. Die ITN-Reporter kamen zu ihren sensationellen Aufnahmen, indem sie selbst dieses Grundstück betraten, es überquerten und durch den Zaun hindurch die bosnischen Muslime filmten. Deichmann, der diesen Hergang ausführlich schilderte und mit Skizzen verdeutlichte, nutzte als zentralen Beleg für die Korrektheit seiner Thesen unbearbeitetes und nicht ausgestrahltes Filmmaterial des britischen Nachrichtensenders. Im Rahmen einer Untersuchung für die Verteidigung im ersten Kriegsverbrecherprozess in Den Haag erhielt er im Herbst 1996 Zugang zu diesen ITN-Bändern und begann daraufhin mit seiner Recherche. Bestärkt wurde er dabei von Ermittlungsergebnissen des renommierten niederländischen Rechtsanwalts, Prof. Mischa Wladimiroff, der bis Frühjahr 1997 als Verteidiger von Dusko Tadic fungierte und eigene Zweifel an deren Authentizität der im Gerichtssaal vorgeführten Stacheldrahtbilder geäußert hatte.4

Objektivität der Berichterstattung

Deichmann stellte nicht in Frage, dass es während des Bosnienkrieges zu brutalen Gräueltaten auf allen Seiten kam und dass die Situation in Lagern wie Trnopolje für die dort untergebrachten Menschen nur schwer zu ertragen war. Er hielt in seinen Artikeln fest, dass es auch in Trnopolje zu Übergriffen auf wehrlose Zivilisten, zu Morden und Vergewaltigungen kam. Er widersprach jedoch dem Bild, dass Trnopolje ein Todeslager war, das mit einem KZ der Nazis zu vergleichen wäre. Er berief sich dabei nicht nur auf eigene Untersuchungen, sondern auch auf Stellungnahmen unabhängiger internationaler Beobachter, die Trnopolje im Sommer 1992 als Flüchtlings-, Transit- oder Durchgangslager beschrieben, in das vertriebene muslimische Zivilisten gebracht wurden oder in das sie sich, unter Berücksichtigung der unfreien Verhältnisse während des eskalierenden Bürgerkriegs, aus eigenen Stücken schutzsuchend begaben. Deichmann äußerte zweifelsohne diskussionswürdige und für viele Beobachter und Betroffene des Bosnienkrieges unangenehme Thesen.

Im Zentrum seiner Untersuchung stand und steht bis heute jedoch die Frage nach den journalistischen Sorgfaltspflichten bei der Kriegsberichterstattung. In den Augen der Autorin dieser Zeilen kritisierte Deichmann die britischen Reporter zurecht dafür, ein täuschendes Bild in Umlauf gebracht zu haben. Das Bild des ausgemergelten Fikret Alic hinter Stacheldraht legte die Interpretation nahe, dass die Muslime in einem von Stacheldraht umringten Lager eingepfercht waren. Deichmann bezeichnet dieses Vorgehen der ITN-Reporter als unprofessionell.

Zentraler ist jedoch sein zweiter Kritikpunkt, der ebenfalls die journalistische Sorgfaltspflicht berührt: Er machte den ITN-Reportern den Vorwurf, die weltweite Interpretation ihrer Aufnahmen als Beweis für einen Holocaust in Bosnien nicht durch die Erklärung der wirklichen Verhältnisse am Drehort korrigiert zu haben. Deichmann hob hervor, dass Penny Marshall und Ian Williams sich zwar besorgt darüber äußerten, dass die Berichte anderer Medien über die ITN-Bilder zu weit gingen, dass die Journalisten aber hätten offen darlegen sollen, wie sie zustande gekommen waren und was es mit dem Stacheldrahtzaun auf sich hatte. Auch in dieser Hinsicht scheint Deichmann im Recht. Statt die weltweiten Vergleiche mit den deutschen KZs in Frage zu stellen, präsentierte ITN seit der ersten Ausstrahlung der Bilder am 6. August 1992 voller Stolz die journalistische Leistung seiner Reporter und erhielt dafür zahlreiche Auszeichnungen. Nachdem ITN auf die Enthüllungen Deichmanns zunächst mit dem Argument reagierte, die eigenen Reporter hätten Trnopolje nicht als nazi-ähnliches Konzentrationslager bezeichnet – eine Anschuldigung, die zu keinem Zeitpunkt erhoben wurde –, widmete der Frankfurter Journalist sich in weiteren Untersuchungen im Frühjahr 1997 ausdrücklich dieser Frage und kam zu einschlägigen Ergebnissen.5

Medien klagen gegen Medien

Die Geschichte über das täuschende ITN-Bild wurde ab Januar 1997 in renommierten Zeitungen in verschiedenen Ländern veröffentlicht: Am 9. Januar in der ZüricherWeltwoche, tags darauf im Wiener Standard, einige Tage später im Groene Amsterdammer, und schließlich auch im Frankfurter Magazin Novo. Daraufhin erschien Deichmanns Artikel unter dem Titel "The Picture that fooled the World" in der Februarausgabe des britischen Monatsmagazins LM(früher Living Marxism). Später wurde der Artikel auch in Schweden und den USA veröffentlicht.

Mit der LM-Veröffentlichung wendete sich das Blatt, und eine Diskussion über journalistische Sorgfaltspflichten, die gerade im Urheberland des Bildes, Großbritannien, sinnvoll erschien, wandelte sich in einen Rechtsstreit. Der Nachrichtensender ITN reichte am 31. Januar 1997, fast einen Monat nach der ersten Veröffentlichung des Artikels in der Weltwoche in der Schweiz, eine Verleumdungsklage gegen LM ein. Dass die Veröffentlichung nur in Großbritannien zu einer Klage führte, ist einzig und allein durch die sehr repressive englische Gesetzeslage zu erklären, bei der die Sachlage eher zweitrangig ist und finanzstarke Kläger begünstigt werden.6

Bereits vor der Veröffentlichung des Deichmann-Artikels erhielt der Herausgeber von LM, Mick Hume, ein Schreiben von ITN, in dem er aufgefordert wurde, sich öffentlich für die Verbreitung einer Presseerklärung zu entschuldigen, in der die zentralen Thesen Deichmanns angekündigt wurden. Außerdem sollte LM sich öffentlich verpflichten, dessen Anschuldigungen nicht zu wiederholen, sämtliche Exemplare des bereits gedruckten Magazins einzustampfen, eine Entschädigungszahlung wegen Verleumdung zu leisten und bereits entstandene ITN-Anwaltskosten zu erstatten. Nachdem LM diese drakonischen Forderungen zurückwies und darauf bestand, dass es auch in Großbritannien eine offene Diskussion über Deichmanns Vorwürfe geben müsse – Mick Hume forderte auf einer Pressekonferenz Ende Januar vergeblich, ITN solle die unbearbeiteten Aufnahmen vom August 1992 in voller Länge ausstrahlen und die Öffentlichkeit selbst entscheiden lassen –, reichte ITN eine Klage ein.

Das Verhalten von ITN gilt als Novum in der britischen Mediengeschichte: Ein Nachrichtensender mit einem Jahresumsatz von mehreren Millionen machte sich eine Gesetzeslage, die üblicherweise von finanzstarken Politikern und Unternehmen eingesetzt wird, um unliebsame Kritiker zum Schweigen zu bringen und die von Journalisten deshalb als Bedrohung der Presse- und Meinungsfreiheit empfunden wird, gegen ein relativ kleines Monatsmagazin zu Nutze. "Zensur zum Mieten", lautet die Bezeichnung der britischen "libel laws" in englischen Medienkreisen.

Während ITN im Frühjahr 1997 die Klage gegen LMvorbereitete, sorgte gerade der umstrittene Prozess des Fast-Food-Herstellers MacDonalds gegen einige mittellose Umweltaktivisten, die mit Flugblättern gegen Aspekte der Lebensmittelproduktion protestiert hatten, für Aufsehen und internationalen Protest.

Doch ITN ließ sich davon nicht beeindrucken und gab sich stattdessen nicht einmal mit der Klage gegen LMzufrieden. Obwohl wiederholt scheinheilig hervorgehoben wurde, es gehe dem Nachrichtensender nicht darum, eine faire, öffentliche Diskussion zu unterbinden, wurden Schritte eingeleitet, um der gesamten Medienwelt in Großbritannien einen Maulkorb vorzuhängen. Etliche Journalisten, die Deichmanns Behauptungen diskussionswürdig fanden und überprüften und von ITN eine Stellungnahme einforderten, wurden direkt an deren Rechtsanwaltskanzlei verwiesen. Ihnen wurde angekündigt, im Falle einer Berichterstattung selbst mit einer Verleumdungsklage bedacht zu werden.

Die PR-Agentur Two-Ten-Communication, die die LM-Presseerklärung im Januar zirkulierte, erhielt ebenfalls sofort ein Schreiben von ITN, in dem mit einer Klage gedroht wurde. Nach Abwägen der möglichen Konsequenzen und der Geschäftsinteressen, entschuldigte sich Two-Ten im April 1997 vor ITN vor dem High Court in London. Obwohl diesem Schritt keinerlei Untersuchung des Sachverhalts zu Grunde lag, präsentierte ITN die Entschuldigung als Rechtserfolg und konnte ein Exempel statuieren; denn jedes andere Medium musste nun wirklich fürchten, sich ebenfalls eine Klage einzuhandeln. Selbst Redaktionen renommierter Medienanstalten wie des BBC und des Independent on Sunday, deren Journalisten Deichmann bereits Ende Januar interviewt und Teile seines Beweismaterial gesichtet hatten und zum Schluss gekommen waren, dass darüber berichtet werden sollte, zogen ihre Absichten angesichts der drohenden Klagen zurück.

Zu welchen Schritten ITN bereit war, um eine Diskussion über den LM-Artikel zu unterbinden, zeigte sich auch daran, dass der Druckerei von LM juristische Schritte angedroht wurden, sollte sie das Magazin weiter herstellen. Die LM-Produktion musste daher unter hohem Kosten- und Arbeitsaufwand ins Ausland verlegt werden. Zeitgleich wurde in Zeitungen wie dem Guardian und Observer von Ed Vulliamy und anderen wenigen, mit ITN sympathisierenden Journalisten Artikel und Informationen verbreitet, die einzig darauf abzielten, die persönliche und professionelle Integrität des Autoren sowie die Motive des LM-Herausgebers in Frage zu stellen.

Diskussion auf Nebenkriegsschauplätzen

Die von ITN verlautbarten Stellungnahmen verdeutlichen, dass von Anfang an keine Diskussion über die Methoden bei der Herstellung der berühmten Stacheldrahtaufnahmen stattfinden sollte. In einer ersten Pressemitteilung, noch vor dem Erscheinen von LM, wurde am 23. Januar 1997 behauptet, Deichmann würde empörende und falsche Behauptungen aufstellen. ITN wies darauf hin, dass die eigenen Reporter die gefilmten Lager nicht als "nazi-ähnliche Konzentrationslager" bezeichnet hatten. Deichmann hatte das nicht behauptet und sogar, im Gegenteil, ausdrücklich hierauf hingewiesen.

Dass ITN dem zentralen Argument hinsichtlich der Platzierung des Stacheldrahts in Deichmanns Artikel auswich und auch nicht widersprechen konnte, zeigte sich erstmals deutlich im April 1997 an der vor dem High Court in London in Sachen Two-Ten von ITN-Anwälten verlesenen Erklärung, in der es hieß, Penny Marshall und Ian Williams hätten nie behauptet, es habe um das Lager Trnopolje einen Stacheldrahtzaun gegeben. Ebenso wurde, im weitgehenden Einvernehmen mit Deichmanns Beschreibungen, hervorgehoben, die Journalisten hätten in ihren Berichten auch erwähnt, dass sich in Trnopolje Muslime aufhielten, die freiwillig gekommen waren und das Lager als Zufluchtsort nutzten. Zur Frage, wo das Kamerateam zum Zeitpunkt der Aufnahmen positioniert war, wurden umständliche Formulierungen gewählt, die den Schluss nahe legten, das man Deichmann im Grunde Recht gab.

Demzufolge wurde auf Betreiben von ITN seit Januar 1997 das Gewicht der Klage, die von vornherein darauf abzielte, den Tatbestand Verleumdung in den Vordergrund zu rücken, immer weiter auf Nebenschauplätze verlagert. ITN hat zu diesem Zwecke neue Anschuldigungen formuliert, die mit dem eigentlich brisanten Thema der Einhaltung journalistischen Sorgfaltspflichten kaum mehr in Verbindung stehen.

Dies wurde in einem im Juli 1997 an LM überstellten Prozessdokument deutlich. ITN erhob darin weitere, schwerwiegende Vorwürfe gegen LM. Die Klage wurde erweitert auf den Tatbestand einer böswilligen Verleumdung. LM wurde fortan unterstellt, in böser Absicht verleumderische Äußerungen gegen ITN verbreitet zu haben, um den Ruf des Nachrichtensenders und seiner Journalisten zu schädigen. Um zu zeigen, dass die Beklagten ein Interesse daran hatten, Verleumdungen wegen solcher Motive zu verbreiten, präsentierten die ITN-Anwälte in dem mehr als 20-seitigen Dokument eine Auflistung von Artikeln zum Thema Balkankrieg, die in den letzten Jahren in LM erschienen waren. Hiermit sollte die These untermauert werden, LM sei eine marxistisch orientierte Publikation mit pro-serbischer Ausrichtung. In dieser Artikelliste findet sich beispielsweise auch ein Interview, das Deichmann im Frühjahr 1996 mit dem Schriftsteller Peter Handke über dessen umstrittenes Buch Gerechtigkeit für Serbien geführt und in mehreren Zeitungen, darunter LM, veröffentlicht hatte. Dieses Interview und andere Texte wurden von den ITN-Anwälten als Indiz für die Behauptung aufgeführt, LM hätte den umstrittenen Artikel über die ITN-Aufnahmen aus Trnopolje veröffentlicht, um seiner "pro-serbischen Kampagne Auftrieb zu verleihen" und "Erfolge im Einsatz für den revolutionären Kommunismus und/oder für die marxistische Ideologie" zu erzielen. Die Koordinatorin für Rechtsfragen von LM, Helen Searls, wies diese absurden Vorwürfe sofort zurück.7

Diese Verschärfung der ITN-Klage soll allem Anschein nach bewirken, dass eine juristische Auseinandersetzung über den Inhalt von Deichmann Artikels vollkommen umgangen wird. Aus derartigen Vorwürfen ergeben sich zudem Schadensersatzansprüche, die doppelt so hoch ausfallen können als bei gewöhnlichen Verleumdungsklagen. Entscheidend ist zudem, dass für LM einer der wichtigsten Verteidigungslinien geschlossen wird, sollte sich ITN mit der Klage auf böswillige Verleumdung durchsetzen können: Wer nach der britischen Gesetzeslage eine verleumderische Äußerung aus böswilliger Absicht gemacht hat, kann sich nicht mehr darauf berufen, diese im öffentlichen Interesse verlautbart zu haben.

Die Entwicklung ist aber von noch größerer Tragweite: Zum ersten Mal in der Geschichte der britischen Verleumdungsgesetze wird einer angeklagten Partei der Vorwurf der Böswilligkeit gemacht, weil sie eine bestimmte politische Meinung vertritt. Wird dies von den Richtern akzeptiert, dann könnte eine politische Meinung zukünftig immer den Vorwurf der Böswilligkeit und somit erhöhte Schadensersatzansprüche nach sich ziehen.

ITN-Kritiker

ITN hat wegen der geschlagenen Kapriolen, die dank der intensiven Öffentlichkeitsarbeit von LM nicht ganz im Verborgenen blieben, mittlerweile auch in Großbritannien Kritik auf sich gezogen. Im Sommer 1997 wurde die Medienblockade, über die sich Journalisten hinter verschlossenen Türen beschwerten, teilweise aufgebrochen. So geißelte Harold Evans, einer der angesehensten britischen Journalisten (ehemals Herausgeber der Times und Sunday Times), im Mai 1997 das Verhalten von ITN auf einer weit beachteten Medienkonferenz in London als unproduktiv und zynisch. Etwa zeitgleich publizierte das Magazin des britischen Journalistenverbandes journalist in seiner Mai/Juni-Ausgabe einen Artikel unter dem Titel "This picture does not tell the truth", in dem ITN wegen der Verleumdungsklage gegen LM angegriffen wurde.8

Wohl wissentlich, dass es äußerst kontraproduktiv wäre, der Journalistengewerkschaft mit einer Verleumdungsklage zu drohen, verzichtete ITN auf juristische Gegenmaßnahmen.

Im Mai 1997 wurde erstmals auch in The Spectator inhaltlich über den anstehenden Prozess berichtet. ITN-Chefredakteur Richard Tait meldete sich mit einem eigenen Beitrag zu Wort, in dem er sich und seine Reporter erstmals als Opfer einer Kampagne präsentierte.9

Auch in der Financial Times und in The Sunday Telegraph gab es kurz darauf vorsichtige Sympathiebekundungen für LM. Im Mai veröffentlichte zudem eine Gruppe prominenter Medienexperten, darunter Noam Chomsky aus den USA und der britische Autor Phillip Knightley, einen offenen Brief in mehreren britischen Zeitungen, in dem sie sich ausdrücklich gegen die Verleumdungsklage im Interesse der Presse- und Meinungsfreiheit aussprachen.10

Die Verlegerin von LM, Helene Guldberg, die von ITN ebenfalls angeklagt wurde, lancierte einen Aufruf in eigener Sache, der von zahlreichen Künstlern, Schriftstellern und Verlegern unterzeichnet wurde. Zudem wurde in Großbritannien der "Off the fence Fund" gegründet, mit dem Ziel, Gelder für die Anwalts- und Prozesskosten von LM zu sammeln.

Der Aufruf "Für das freie Wort" und seine Unterzeichner

In Deutschland wurde im Frühjahr 1997 von einer kleinen Gruppe aus Bürgerrechtlern und Akademikern (Klaus Vack, Wolf-Dieter Narr), Schriftstellern (Lothar Baier, Peter Handke) und Christine Horn (die Autorin dieser Zeilen und Koordinatorin der Initiative) die Initiative "Für das Freie Wort" ins Leben gerufen. Die Initiative agiert auf Grundlage eines gleichnamigen Aufrufs, der die Freiheit der Presse verteidigt und sich gegen die ITN-Klage ausspricht. In der Wochenzeitung Die Zeit vom 11. Juli 1997 und im Septemberheft des Monatsmagazins Blätter für deutsche und internationale Politik wurde dieser Aufruf mit insgesamt 62 Erstunterzeichnern und -unterzeichnerinnen veröffentlicht. Seit Sommer 1997 sind zahlreiche weitere Unterstützer und Unterstützerinnen hinzugekommen.

Die Initiative "Für das Freie Wort" möchte dazu beitragen, dass eine breite Öffentlichkeit über den bevorstehenden Prozess informiert und eine umfassende, sachliche Diskussion ermöglicht wird, die der Wahrheits- und Gerechtigkeitsfindung dient. Die Initiative hat im Interesse der Presse- und Meinungsfreiheit explizit Partei gegen die ITN-Verleumdungsklage und für das Magazin LM, dessen Existenz bereits jetzt wegen der enormen Kosten bei der Prozessvorbereitung auf dem Spiel steht, Partei ergriffen. Auch wenn in Großbritannien Initiativen gestartet wurden, scheint es den Initiatoren wichtig, auch hierzulande Unterstützungsarbeit zu leisten. Diese Unterstützung aus dem Ausland, wo es die repressiven britischen "libel laws" nicht gibt, fand in Großbritannien bereits positives Echo. Nicht zuletzt geht es der Initiative "Für das Freie Wort" auch darum, Arbeitskreise von Juristen und Medienexperten zu unterstützen, die eine grundlegende Reform der britischen Verleumdungsgesetze anstreben. Ein rechtsvergleichender Aufsatz, der anhand der Gesetzeslage in England und Deutschland aufzeigt, warum eine derartige Klage in Deutschland nicht möglich wäre, ist bereits in Arbeit und wird hoffentlich bald veröffentlicht werden. Eine kürzerer Artikel, der die juristische Situation kurz beschreibt, ist bereits im Aprilheft der Fachzeitschrift Ansprüche des "Forums demokratischer Juristinnen und Juristen" erschienen.11

aus: Novo, Nr. 34, Mai/Juni 1998, S.30-33

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