01.01.1999

“Opacic wurden die ITN-Aufnahmen vorgeführt”

Von Mischa Wladimiroff

Thomas Deichmann sprach am 9. November 1996 in Den Haag mit dem Verteidiger von Dusko Tadic, Prof. Mischa Wladimiroff, über dessen Erkenntnisse bezüglich des Stacheldrahts in Trnopolje.

Novo: Herr Wladimiroff, Sie waren öfters in Trnopolje, um als Verteidiger Dusko Tadics Nachforschungen anzustellen. Zeuge "L", jetzt bekannt als Dragan Opacic, hatte Ihren Mandanten beschuldigt, in Trnopolje an Vergewaltigungen und Morden beteiligt gewesen zu sein. Hatten Sie bereits früh Zweifel an der Richtigkeit seiner Aussagen?

Mischa Wladimiroff: Zweifel kamen bereits bei seiner ersten Vernehmung im Zeugenstand im August 1996. "L" war der letzte Zeuge der Anklage. Auf Grundlage unserer zu diesem Zeitpunkt eher noch allgemeinen Kenntnisse über das Lager Trnopolje hatten wir aber sofort das Gefühl, dass sich seine Schilderungen seltsam anhörten. Er sprach beispielsweise oft von dem "weißen Haus", und wir wussten, dass die meisten, wenn nicht alle Häuser im Lager und in unmittelbarer Nähe weiß waren. Er berichtete zudem über einen bestimmten Ort, wo die Lagerwärter arbeiteten.

Kein anderer Zeuge hatte zuvor jemals von diesem Ort gesprochen. Andere Zeugen gaben an, dass in Trnopolje etwa 50 Wärter beschäftigt waren. Opacic hingegen sprach von 4 Wärtern, die im Dienst waren. Was wir gehört hatten, war genug, um dem Gericht mitzuteilen, dass wir den Zeugen "L" nicht entlassen würden und stattdessen das Kreuzverhör zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen wollten.

Wir sind dann noch mehrere Male vor Ort gewesen und haben die Gebäude und den Platz, auf dem die Lagerinsassen notdürftig kampierten, genau untersucht. Wir konzentrierten uns beispielsweise auf die Aussage von "L", im Keller eines weißen Hauses habe sich Tadic an Vergewaltigungen beteiligt. Es gab jedoch kein weißes Haus mit einem Keller – keines der Häuser dort hat einen Keller.

So haben wir verschiedene Details nachrecherchiert. Wir haben auch herausgefunden, dass "L" Verwandte in der Gegend Trnopolje hatte. Im Zeugenstand hatte er ausgesagt, sein Vater sei verstorben und seine Mutter lebe allein mit seiner Schwester. Als wir uns sicher waren, dass Opacics Vater noch am Leben war und dass er statt einer Schwester, zwei Schwestern und drei Brüder hatte, ahnten wir, dass er nicht die Wahrheit sagte. Ein paar Wochen später beschloss ich, Opacics Vater und einen der Brüder nach Den Haag einzufliegen und sie ihm direkt gegenüberzustellen. Nach etwa einer halben Stunde gab er zu, dass seine ganze Geschichte über Dusko Tadic gelogen war.

Sie sagten, Sie seien eher zufällig auf Hinweise gestoßen, dass an diesen Bildern von Penny Marshall mit ausgemergelten Lagerinsassen hinter einem Stacheldrahtzaun möglicherweise etwas nicht stimmt?

Ein Detail, das uns fragwürdig erschien, war der Hinweis von Zeuge "L" auf einen Stacheldrahtzaun, der angeblich um das Lagergelände herum gestellt war. Das erinnerte uns an die Aufnahmen von Penny Marshall. Als "L" seine diesbezügliche Aussage machte, habe ich mir notiert, dass ich von diesem Zaun noch nie gehört hatte, aber ich erinnerte mich dann an dieses Bild und dachte, es wäre wohl sinnvoll, auch diese Aussage nachzuprüfen.

 

Abb. 1: Handgemalte Skizze eines Zeugen im Prozess gegen Dusko Tadic vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Der Zeuge "L", alias Dragan Opacic, zeichnete in diese Skizze den angeblichen Verlauf des Stacheldrahtzauns. Die Positionen 1 bis 4 sollten zeigen, wo die Wärter postiert waren, die gestrichelte Linie zwischen diesen Positionen den Stacheldrahtzaunverlauf. Opacics Einzeichnungen wurden von Thomas Deichmann zur Verdeutlichung hervorgehoben.
 

Als wir später erneut vor Ort Untersuchungen durchführten, haben wir einen Mann getroffen, der früher als Lagerwärter in Trnopolje arbeitete. Er war in der Lage, uns sehr detaillierte Informationen und eine Reihe von Namen zu geben, wodurch sich uns die Möglichkeit bot, der Sache auf den Grund zu gehen. Bei unserem Aufenthalt im Oktober 1996 habe ich mich dann bei den Untersuchungen auch auf diesen Zaun konzentriert. Ich traf wieder diesen ehemaligen Lagerwärter und er zeigte mir, wo sich dieser Stacheldrahtzaun befand. Mir wurde klar, was damals vor sich gegangen sein musste: Folgte man den Aussagen dieses Mannes, dann hatte Penny Marshall ein Gelände mit einer Scheune und einem Elektrohäuschen neben dem eigentlichen Flüchtlingslager betreten. Dieses Gelände war mit Stacheldrahtzaun umgeben, der an Pfosten festgemacht war. Er erklärte uns, dass das Fernsehteam auf dieses Gelände gelaufen sein musste, um dann das Lager zu filmen. Ich habe eigene Videoaufnahmen von der Gegend gemacht, und die Aussage dieses Mannes deckt sich mit allem, was ich gesehen habe.

Nachdem Dragan Opacic überführt war, habe ich ihn noch einmal ausführlich befragt. Er teilte mir mit, dass er von der bosnischen Polizei unter Androhung seiner Tötung auf seine Falschaussage vorbereitet wurde und dass sie ihm Videobänder mit den Aufnahmen von Penny Marshall vorführten. Deshalb hatte er dieses Bild mit Männern hinter Stacheldraht im Kopf.

Hatten Sie Probleme bei den Recherchen und das Gefühl, die bosnisch-serbischen Behörden oder Zivilisten wollten etwas vertuschen?

Anfang 1995 hatte ich zunächst sehr große Probleme. Es war extrem schwierig, überhaupt in diese Region zu gelangen, auch wenn es sich nicht mehr um direktes Kriegsgebiet drehte. Jede männliche Person im Alter zwischen 18 und 60 Jahre war mobilisiert. Personen mit offiziellen Ämtern, z. B. Polizisten, war es nicht gestattet, mit mir zu sprechen. Ich musste mich mit Frauen, Kindern und Älteren als Gesprächspartner zufrieden geben. Oder mit Männern, die heimlich mit mir sprachen aber nicht bereit waren, vor Gericht auszusagen. Die Machthaber trauten mir anfangs nicht.

Eine Maßnahme, die ich ergriff, war anzufragen, ob ich Radovan Karadzic treffen könnte, um ihm zu erklären, dass diese Situation ein Ende haben muss, dass ich meine Arbeit durchzuführen habe, mit normalen Leuten und mit Amtsträgern in der Region zusammentreffen und mit ihnen reden möchte. Ich habe Karadzic indirekt kontaktiert, und nach einigen Verhandlungen willigte er ein: Er teilte mir aber mit, dass es sich nur um ein inoffizielles Treffen handelte, weil er das Tribunal nicht anerkannte. Er versprach, die regionalen Amtsinhaber würden jetzt mit mir kooperieren. Er wollte mir das nicht schriftlich geben, aber er führte in meiner Anwesenheit einige Telefonate. Aber es änderte sich nichts. Das eigentliche Problem war Simo Drljaca, der Polizei- und Sicherheitschef in der Region Prijedor.

Die Dinge änderten sich erst im April 1996 nach der Unterzeichnung des Daytoner Abkommens. Die Machthaber wurden ein bisschen offener. Einen großen Schritt vorwärts machte ich im August 1996, als ich die neue bosnisch-serbische Präsidentin, Biljana Plavsic, traf. Mir war es möglich, von ihr einen Brief zu erhalten, in dem es hieß, jede Person solle mit mir kooperieren. Aber auch mit diesem Brief machte ich die Erfahrung mit Simo Drljaca, dass er sagte "Ich akzeptiere diesen Brief nicht", "Ich mache was ich will" und "Ich werde es nicht erlauben, dass Zeugen im Oktober nach Den Haag reisen". Deshalb waren einige Zeugen auch nicht persönlich in Den Haag, sondern machten ihre Aussagen über Video.

Ist es nicht möglich, dass im Lager Trnopolje Spuren, z.B. der Stacheldrahtzaun, nach dem Krieg beseitigt wurden? Haben Sie nach diesbezüglichen Hinweisen gesucht?

Ich habe keine solchen Hinweise gefunden. Das Schulgebäude wird heute teilweise als Flüchtlingslager benutzt. Das andere große Gebäude der örtlichen Verwaltung steht leer. Auch die Häuser in unmittelbarer Nähe des Lagers standen bei meinem letzten Besuch leer. Als ich kürzlich noch einmal das Filmmaterial von Penny Marshall sichtete, fiel mir auf, dass es in der Ecke dieses Geländes, das mit Stacheldraht eingezäunt war, direkt neben dem Elektrohäuschen ein kleines Gebäude gab. Dabei handelte es sich möglicherweise um eine Art Garage. Diese Konstruktion steht heute nicht mehr. Aber alle anderen Gebäude stehen noch. Man kann sich leicht ein Bild davon machen, wie es damals dort aussah.

Wenn sich Ihre Vermutung über diese ITN-Bilder als korrekt herausstellen würde, wie würden Sie ihr Zustandekommen erklären?

Ich glaube, dass Penny Marshall und ihr Team, als sie im Lager waren, nach den besten Aufnahmemöglichkeiten Ausschau hielten, so wie das wohl jeder Kameramann oder Reporter tun würde. Und ich denke, dass sie vielleicht erst später realisierte, dass es sehr gehaltvolle, sehr starke Aufnahmen waren, eine sehr direkte Erinnerung an die Lager während des Zweiten Weltkriegs. Dann sah sie aber wohl nicht die Notwendigkeit, das Zustandekommen dieser Bilder näher zu erläutern. Es liegt an ihr zu erklären, warum sie das nicht machte. Ich habe keine Ahnung. Ich kann aber sagen, dass ihre Aufnahmen in gewisser Weise sogar hilfreich für unsere Ermittlungen waren. Denn wenn "L" nicht zusammengebrochen wäre und wenn er nicht zugegeben hätte, dass er die Unwahrheit sagte, hätten wir die Videobänder als Beweismittel gegen ihn in den Prozess eingebracht.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Die Anwaltskanzlei Wladimiroff & Spong in Den Haag ist in Sachen Strafrecht die renommierteste in den Niederlanden. Derzeit arbeiten dort etwa 16 Anwälte. Einer von Ihnen, Alfons M.M. Orie, ist kürzlich für den Obersten Gerichtshof in den Niederlanden vorgeschlagen und akzeptiert worden. Prof. Wladimiroff ist 52 Jahre alt und seit etwa 25 Jahren als Jurist tätig. Er unterrichtet an mehreren Universitäten und ist Vorsitzender der Abteilung Strafrecht des Niederländischen Anwaltsverbandes. Bevor er den Fall Tadic übernahm, beteiligte er sich an der Ausarbeitung der "Rules of Procedure and Evidence" des Kriegsverbrechertribunals bezüglich der Arbeit des Tribunals mit Anwälten. Er ist in den Niederlanden geboren, sein Großvater verließ Russland während der Revolutionsperiode 1919/1920.

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