01.01.1999
ITN unter der Lupe
Von Thomas Deichmann
Vor fünf Jahren überzeugten ITN-Bilder von ausgemergelten Männern hinter Stacheldraht die Welt davon, dass die Serben in Bosnien nazi-ähnliche Konzentrationslager betrieben. Da ITN selbst jede Schuld an diesen Vergleichen zurückweist, schaute sich Thomas Deichmann die Beweislage anhand der Berichterstattung von 1992 nochmals genau an.
ITN hat auf meinen in Novo, LM und vier weiteren europäischen Ländern erschienenen Artikel "The Picture that fooled the World", der ITNs preisgekrönte Reportage als äußerst zweifelhaft entlarvte, in Großbritannien auf zweierlei Weise reagiert: Sie strengten einerseits eine Verleumdungsklage gegen LM an. Andererseits gaben sie eine Stellungnahme ab, worin es hieß, ITN stehe "zu seiner Berichterstattung über die Entdeckung von Internierungslagern, die nicht als ‘Konzentrationslager in der Art der Nazis’ bezeichnet wurden" (23.1.1997). Dies wirft interessante Fragen auf: Wenn ITN die serbischen Lager Omarska und Trnopolje in Nordbosnien nicht als Konzentrationslager bezeichnet hatte, wie kam es dann, dass die ganze Welt an deren Existenz glaubte? Warum war jeder überzeugt, dass das ITN-Team um Penny Marshall und Ian Williams den Beweis für einen bosnischen Holocaust gefunden hatte? Litten hochrangige Politiker, leitende Redakteure und Millionen von Fernsehzuschauern, als sie die ITN-Sendungen anschauten, unter einer kollektiven Halluzination?
Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, habe ich mir die ITN-Reportagen vom 6. und 7. August 1992 nochmals angesehen. In einer Hinsicht hat ITN recht: Sie bezeichneten die Lager nicht als nazi-ähnlich und auch nicht als Konzentrationslager. Aber das habe ich auch nie behauptet. Meine Kritik richtete sich erstens gegen die irreführende Art und Weise, mit der die Bilder produziert und präsentiert wurden; erst dadurch konnte der Eindruck entstehen, Trnopolje sei ein Konzentrationslager gewesen. Zweitens kritisierte ich, dass ITN – als die ganze Medienwelt diese Interpretation verbreitete – keineswegs Einspruch erhob und die Sache richtig stellte, sondern sich dafür feiern ließ. Beide "Anklagepunkte" lassen sich ganz klar belegen.
Die beiden entscheidenden ITN-Nachrichtensendungen, die die Lager-Story exklusiv präsentierten, waren die "Channel 4 News" um 19 Uhr am 6. August, also einen Tag, nachdem die Bilder aufgenommen wurden, sowie die "News at Ten" am selben Abend. Der Aufhänger, mit dem beide Sendungen begannen und der immer wieder gezeigt wurde, war das Bild des ausgemergelten Fikret Alic – dem Anschein nach umgeben von Stacheldraht im Lager Trnopolje. Dieses Bild hinterließ einen enormen Eindruck und beeinflusste die Meinung der Weltöffentlichkeit, es lud unmittelbar zu Vergleichen mit Bildern von Konzentrationslagern der Nazis wie etwa Dachau, Bergen Belsen oder Auschwitz ein – Bilder, auf denen halb verhungerte jüdische Gefangene hinter mächtigen Stacheldrahtzäunen zu sehen sind, die darauf warten, in die Gaskammern geschickt zu werden. "Das sind Szenen wie die in schwarz und weiß flimmernden Bilder aus fünfzig Jahre alten Filmen über Konzentrationslager der Nazis", stand in der Daily Mail am Tag nachdem ITN das Bild im Fernsehen gezeigt hatte (7.8.1992).
Dennoch handelte es sich bei diesem Bild – wie ich in früheren Artikeln ausführlich erklärte – um eine Täuschung. In Wahrheit gab es keinen Stacheldraht um das Flüchtlings- und Transitlager Trnopolje, und auch keinen Stacheldraht um Fikret Alic und die anderen bosnischen Muslime. Nach fünf Jahren des Schweigens hat ITN dies im April 1997 vor Gericht nun endlich selbst eingestanden. Tatsache ist auch, dass das ITN-Team von Stacheldraht umgeben war: Es filmte aus einem kleinen landwirtschaftlichen Gelände neben dem eigentlichen Lager heraus. Dieses Gelände war lange vor dem Krieg mit Stacheldraht umzäunt worden. Die ITN-Reporter filmten Alic durch diesen Zaun hindurch und vermittelten so der Welt den Eindruck, Alic und das Lager seien von Stacheldraht umgeben gewesen. Sie schürten damit Befürchtungen, Gefangene würden in nazi-ähnlichen Lagern verhungern.
Es geht hier nicht um fotografische Tricks. Es ist ein großer Unterschied, ob man die von ITN gefilmten Orte für Lager oder für Konzentrationslager hält. Das Flüchtlings- und Transitlager Trnopolje war zweifellos schlimm, und das Internierungs- und Untersuchungslager in Omarska war gewiss noch schlimmer – aber keines der Lager in Bosnien kann mit einem Konzentrationslager verglichen werden, in dem die Nazis Millionen von Menschen ermordeten. Jeder, der einen Vergleich zwischen Trnopolje und Auschwitz nahe legt, verdreht nicht nur auf gefährliche Art und Weise die Wahrheit über den Konflikt in Bosnien, der ein Bürgerkrieg war und kein Genozid. Er wird auch den Opfern des Nazi-Holocaust nicht gerecht, denn er verniedlicht das größte Verbrechen des Jahrhunderts.
ITN scheint indes nichts getan zu haben, um solchen Vergleichen entgegenzuwirken. Schaut man sich die Nachrichten vom 6. August 1992 an, so wird deutlich: Die ITN-Redakteure nutzten ihr starkes Bild mit dem Stacheldraht optimal aus und zeigten es wieder und wieder, um den größtmöglichen Eindruck zu erzeugen.
Wie meine Nachforschungen auch ergeben haben, hat ITN nur die sensationsträchtigsten Ausschnitte aus den Interviews mit den Muslimen durch den Stacheldraht gesendet. Beispielsweise wurde die Szene, in der ein Mann, der neben Alic stand, erzählte, er fühle sich im Lager ganz sicher und glaube, dass es ein Flüchtlingslager und kein Gefängnis sei, herausgeschnitten; das Bild von Alic hinter Stacheldraht wurde aber in der Sendung fast permanent gezeigt (vgl. "Genauso, wie es passierte?",Novo, Nr.28).
Beide besagten Nachrichtensendungen hatten als Kern einen Exklusivbericht der Reporter: Penny Marshall berichtete für "News at Ten", Ian Williams für "Channel 4 News". Beide Journalisten waren in ihren Beschreibungen eher vorsichtig: Beide erklärten, dass sich in Trnopolje Flüchtlinge aufhielten, die – laut Williams – "einfach deshalb hier sind, weil sie keinen anderen Platz haben, wohin sie gehen könnten, da ihre Häuser zerstört wurden". Beide sagten, dass sie für Gräueltaten keine Beweise aus erster Hand hätten.
Dennoch ließen Marshall und Williams die Frage offen, um welche Art von Lager es sich eigentlich handelte. Marshall begann ihre Reportage in "News at Ten" mit den Worten: "Die bosnischen Serben bezeichnen Omarska nicht als Konzentrationslager...". Damit deutete sie offensichtlich an, dass andere es als Konzentrationslager bezeichneten. Sie äußerte sich aber nicht dazu, wer von beiden Recht hatte.
Ian Williams erklärte in den "Channel 4 News", die britischen Reporter hätten "sieben der angeführten Lager [gesehen], die auf der ursprünglichen bosnischen Liste mit vermuteten Konzentrationslager verzeichnet waren". In Hinblick auf fünf von diesen, sagte er, "sind wir überzeugt, dass es keine Konzentrationslager sind, sondern eher Flüchtlingssammelzentren." Doch im Hinblick auf die anderen beiden Lager in Nordbosnien gebe es "ernste Bedenken" hinsichtlich "schwerwiegender Misshandlungen". Williams nannte Omarska und Trnopolje nicht Konzentrationslager, doch welche Schlussfolgerung soll man sonst aus seiner Unterscheidung zwischen fünf Nicht-Konzentrationslagern und zwei anderen ziehen?
Auch wenn Marshall und Williams die Frage offen ließen, ob es sich um Konzentrationslager handelte oder nicht, so stellte doch ITN sicher, dass nur eine Antwort wahrscheinlich war: Der ganze Aufbau der Sendungen und der Ton war so irreführend wie die Stacheldrahtbilder selbst.
Im Anschluss an Ian Williams’ Bericht zeigte ITN einen Beitrag, der mit dem Bild Alics hinter dem Stacheldrahtzaun begann und mit "Verbrechen des Krieges" überschrieben war. Illustriert mit Schwarz-Weiß-Bildern von Kriegsgefangenen aus dem Zweiten Weltkrieg, wurde erklärt, wie nach den Horrorerfahrungen mit den Nazis Kriegsverbrechen definiert und unter Strafe gestellt wurden. Damit wurde ein klarer Zusammenhang zwischen den Naziverbrechen und den Behauptungen "möglicher Kriegsverbrechen" in den bosnischen Lagern hergestellt.
Es folgte ein Beitrag über die Reaktionen von US-Politikern auf die ITN-Bilder aus Omarska und Trnopolje. Bill Clinton, damals noch Präsidentschaftskandidat der Demokraten, wurde gezeigt, als er sagte, man könne nicht "den Massenmord zulassen und einfach daneben sitzen und zusehen, wie er geschieht". Es schloss sich ein langes Interview mit Tom Lantos an, einem Kongressabgeordneten der Demokraten und Mitglied des "Komitees für Internationale Beziehungen", der erklärte, dass "solch furchtbare Bilder Erinnerungen an die Konzentrationslager der Nazis während des Zweiten Weltkriegs, abzüglich der Gaskammern" hervorriefen: "Die zivilisierte Welt schaute in den frühen 40er-Jahren zu, weil sie unehrlicherweise behauptete, nicht zu wissen, was dort vor sich ging. Jetzt wissen wir, was dort passiert. Nacht für Nacht können wir es im Fernsehen verfolgen."
Tatsächlich war "es" (dieser Film aus den Lagern) bis zu diesem Zeitpunkt nur an einem einzigen Abend auf den Fernsehschirmen der Welt zu sehen gewesen. Niemand saß herum und schaute "dem Massenmord" zu. Die Vorstellung nazi-ähnlicher Konzentrationslager "abzüglich der Gaskammern" ist ohnehin ein Widerspruch in sich. Dennoch präsentierte "Channel 4 News" all das kritiklos und ließ zu, dass die Bewertung einer wichtigen internationalen Angelegenheit vereinnahmt wurde vom moralischen Gehabe amerikanischer Wahlkampfreden.
Der Aufbau und die Botschaft von ITNs "News at Ten" waren dementsprechend: Penny Marshall lieferte ihren Bericht von den Lagern, anschließend wurden US-Politiker aufgefahren und erhielten die Gelegenheit, haltlose Parallelen zur Nazi-Vergangenheit zu ziehen. Senator Alfonso d’Amato erklärte, dass "vor 50, 60 Jahren die Führer der Welt sagten, sie wüssten nicht, was vor sich geht, und es wurde falsch ausgelegt. Heute wissen wir, was vor sich geht." Tom Lantos wurde ein weiteres Mal präsentiert und verkündete, "die Welt müsse nun die Churchills von den Chamberlains von 1992 unterscheiden."
Danach berichtete "News at Ten", der bosnische Serbenführer Radovan Karadzic habe angekündigt, einen leichteren Zugang zu den Lagern zu ermöglichen und die Bedingungen dort zu verbessern; er streite aber ab, dass es sich bei Omarska und Trnopolje um Konzentrationslager handele. Der ITN-Kommentator fügte hinzu: "Man sollte vielleicht anmerken, dass Herr Karadzic im Ruf steht, Waffenstillstände zu versprechen, die dann nie einzutreten scheinen. Und die Sicht des bosnischen Vizepräsidenten ist – wenig verwunderlich – eine ganz andere."
Der bosnisch-muslimische Vizepräsident Ejup Ganic versicherte den ITN-Zuschauern daraufhin, "ethnische Säuberungen und Konzentrationslager [seien] in Bosnien Realität". Niemand bei ITN schien es für notwendig zu erachten, "vielleicht anmerken" zu sollen, dass die bosnisch-muslimische Regierung auch keine schlechtere Vorstellung als andere ablieferte, wenn es darum ging, Kriegspropaganda als unzweifelhafte Tatsache zu präsentieren.
Nein, die berühmten ITN-Sendungen vom 6. August 1992 bezeichneten die Lager von Omarska und Trnopolje in Nordbosnien nicht als nazi-ähnliche Konzentrationslager. Aber nachdem ich mir die Sendungen genau angesehen habe, muss ich sagen: Es hätte mich ziemlich überrascht, wenn irgendwer die ITN-Nachrichten anders interpretiert hätte.
Die Welt betrachtete die ITN-Nachrichten als Beweis für Konzentrationslager und einen neuen Holocaust in Bosnien. Als Reaktion auf meine Kritik sagt nun ITN, diese Auffassung sei nicht ihre Schuld. Wie aber reagierten sie auf die weltweite Hysterie, die ihre Bilder auslösten?
Die ITN-Mittagsnachrichten des nächsten Tages, des 7. August 1992, liefern die Antwort: Weit davon entfernt, das "Missverständnis" aufzuklären, warb ITN für die eindeutige Interpretation und schwelgte gar darin. Gleichzeitig tat man so, als habe der plötzliche internationale Konsens über die Existenz von Konzentrationslagern in Bosnien nichts damit zu tun, wie man am Abend zuvor die eigenen Bilder präsentiert hatte. Als Hintergrund im Nachrichtenstudio diente wiederum das Bild von Fikret Alic mit Stacheldraht im Lager Trnopolje. Der Beitrag schilderte, wie die Medien in aller Welt auf die ITN-Bilder vom Vorabend reagiert hatten:
"ITNs Bilder von den Internierungslagern waren überall auf der Welt zu sehen. Die Bilder lieferten den ersten wirklichen Beweis für die Brutalität gegenüber Gefangenen in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens. Und sie führten zu starken Reaktionen beim amerikanischen Fernsehen."
Dann folgten einige Beispiele dieser "starken Reaktionen", beginnend mit Ausschnitten aus den amerikanischen ABC-Nachrichten, die die ITN-Bilder übernommen hatten:
"Gesichter und Körper, die an Grausamkeiten vergangener Zeiten erinnern. Doch dies ist nicht Geschichte, dies ist Bosnien. Bilder aus den Lagern: Ein flüchtiger Blick auf den Völkermord."
Der ITN-Sprecher erklärte begleitend, es handele sich um "den Beweis, auf den die Welt gewartet hatte", und führte auch aus, wofür die ITN-Bilder als Beweis herhalten durften:
"Die Bilder rasten rund um die Welt. In den Niederlanden war von Konzentrationslagern die Rede, in der muslimischen Türkei sagte man, die ITN-Bilder hätten Ähnlichkeit mit Hitlers Lagern und Schande über die Menschheit gebracht; und die Deutschen sagten, die Bilder erinnerten an den Zweiten Weltkrieg."
Anschließend präsentierte man Ausschnitte aus großen Zeitungen mit Schlagzeilen wie "Belsen 92" und Reproduktionen der berühmten Stacheldrahtbilder. ITN berichtete hierzu:
"Heute gab es in der britischen Presse keinen Zweifel, wie diese Bilder zu verstehen sind. Der Druck auf die Regierung, im jugoslawischen Konflikt zu intervenieren, wurde erhöht".
Die Art und Weise, wie ITN also am Folgetag über die Reaktionen auf ihre Bilder berichteten, zeigt meiner Meinung nach ganz deutlich, dass sie keinerlei Probleme damit hatten, wie die Berichte aufgenommen wurden. Als die Reaktionen so richtig ins Rollen kamen und die Forderung nach weiterer westlicher Intervention förderten, schien ITN die Sache keinesfalls unangenehm zu sein – vielmehr schien der Sender sich darin zu gefallen, zum politischen Akteur geworden zu sein.
"Für den Moment", so beendete ITN die Nachrichten am 7. August, "beherrschen Horrormeldungen aus Bosnien die Schlagzeilen. Sie haben zu einer klaren Reaktion in den Vereinigten Staaten geführt. Ihre längerfristigen Auswirkungen werden davon abhängen, ob es den Medien gelingt, mehr davon zu liefern."
So gratulierte sich ITN im August 1992 selbst dazu, die Welt davon überzeugt zu haben, dass es in Bosnien Konzentrationslager und einen Genozid gebe. Dennoch beharrt ITN seit der Veröffentlichung meines Artikels "The Picture that Fooled the World" darauf: Es komme einzig darauf an, dass ihre Reporter die Lager nicht als nazi-ähnliche Konzentrationslager bezeichnet haben. Was soll das?
aus: Novo, Nr.29, Juli/August 1997, S.30ff