15.11.2017

Der Sturz des Ikarus

Von Kolja Zydatiss

Titelbild

People von Konstantin Yuon (1923) via WikiArt

Hundert Jahre nach der Oktoberrevolution glaubt kaum noch jemand an die Möglichkeit einer besseren Zukunft. Wie ist es dazu gekommen? Und wie kann es weitergehen?

Mitte des 18. Jahrhunderts riss die industrielle Revolution die westliche Welt aus den feudalen Gesellschaftsformen, in denen sie jahrhundertelang verharrt hatte. Es begann eine Zeit, die von enormen technologischen und sozialen Umwälzungen geprägt war. Millionen zogen in die Städte. Industrielle Produktion, Eisenbahnen, Dampfschifffahrt, Elektrizität, neue Kommunikationstechnologien und die Produkte der chemischen Industrie ermöglichten ungeahnte Produktivitätssprünge.

Politisch war diese Ära ein wirres Knäuel aus gesellschaftlichen Fortschritten und Rückschritten, eine Abfolge von Befreiungsschlägen und Repression. In erster Linie war sie vom Siegeszug des Liberalismus geprägt. Seit der Renaissance hatten westliche Denker zunehmend Vernunft, Würde und Eigenverantwortung des Menschen ins Zentrum gerückt und religiöse und monarchische Autoritäten hinterfragt. Der Liberalismus politisierte diese Ideen. Seine Vertreter wollten staatliche Willkür durch Verfassungen und Gesetze beschränken. In einem zähen Kampf setzten sie sich langsam durch. In vielen Staaten wurden einklagbare Rechte errungen, die den Schutz des Privateigentums, freie Religionsausübung, politische Mitsprache und vieles mehr garantierten sollten.

„Von Anfang an war der Liberalismus von Widersprüchen und Doppelmoral durchsetzt.“

Von Anfang an war der Liberalismus jedoch von Widersprüchen und Doppelmoral durchsetzt. „Freiheit“ bedeutete vor allem die Freiheit der besitzenden Klassen. Liberale Vordenker wie John Locke verurteilten die absolute Monarchie und verteidigten im nächsten Atemzug die Sklaverei. Die junge amerikanische Republik baute diese Institution sogar aus. Für die „freien“ Lohnarbeiter war das Leben im frühen Kapitalismus wenig besser als Sklaverei. Viele lebten im Elend. Bergarbeiter trugen Halsbänder mit den Namen ihrer Lohnherren, Diener konnten körperlich gezüchtigt werden. Diskriminierende Regelungen beim Wahlrecht verwehrten großen Teilen der Bevölkerung Einfluss auf die Politik.

Wirkliche gesellschaftliche Fortschritte wurden oft Menschen errungen, die sich nicht als klassische Liberale begriffen. In der Französischen Revolution, den Sklavenaufständen in der neuen Welt und den europäischen Revolutionen von 1848/49 griffen die Unfreien das Freiheitsversprechen des Liberalismus auf, radikalisierten und universalisierten es. Es ging nicht mehr primär um ökonomische Freiheit, sondern vor allem um politische Freiheit, Selbstbestimmung und eine gerechtere Wirtschaftsordnung.

Die Philosophen Karl Marx und Friedrich Engels beriefen sich auf diese Tradition und entwickelten sie weiter. Während frühere Radikale wie der Aufklärungsdenker Thomas Paine oder die Jakobiner für Einzelmaßnahmen wie Preiskontrollen oder Erbschaftssteuern eintraten, die die Situation der Armen verbessern sollten, forderte der Marxismus eine komplette ökonomische Umwälzung. Die Arbeiter selbst sollten die Kontrolle über die Produktion übernehmen und sie in einer Weise gestalten, die allen zugutekommt. Die Pariser Kommune, der erste Versuch, eine solche selbstverwaltete sozialistische Gesellschaft zu schaffen, wurde 1871 nach nur sieben Wochen zerschlagen. 1917 war es wieder soweit. In der rückständigsten, kriegsmüdesten europäischen Großmacht fiel die Monarchie. Wenig später gelang es den Bolschewiki, die sehr unpopuläre provisorische Folgeregierung zu stürzten.

„Der Markt erwies sich als unfähig, für Wohlstand, Arbeit und Stabilität zu sorgen. Doch auch die sowjetische Systemalternative wurde schnell entzaubert.“

Hoffnungsträger Kommunismus

1922 hatten die Roten im gesamten Russischen Reich die Kontrolle erlangt. Die hohen Erwartungen, die viele in ihren neuen Staat setzten, lassen sich heute nur noch schwer nachempfinden. Befreit vom Chaos und Ineffizienz der Marktwirtschaft würden die Menschen gezielt ihre Lebensumstände verbessern können. Sie würden Gartenstädte und Musterhäuser bauen, öffentliche Waschanstalten, Restaurants und Kulturzentren. Kanäle, Staudämme und andere Großprojekte würden kontinuierlich den Wohlstand steigern. Sogar das Klima würde man verbessern. Die Arbeit (maschinell erleichtert) und die Freizeit wären im Gleichgewicht, das Leben der Menschen mit Literatur, Kunst, Musik und Tanz gefüllt.

Zuerst sah es so aus, als würden die Hoffnungen erfüllt werden. Nach dem Bürgerkrieg gelang es den Bolschewiki, rasch die Versorgung zu verbessern und den Lebensstandard anzuheben. Wissenschaft und Kultur erlebten eine kurze Blüte. Ein Klima des Fortschrittsoptimismus und der Experimentierfreude ermöglichte unter anderem die Gleichstellung der Frau, die Entkriminalisierung der Homosexualität und humanistische Ansätze in der Pädagogik.

Rückschritte

Der Soziologe Frank Furedi hat in seinem Buch „First World War: Still No End in Sight“ den Ersten Weltkrieg als Zäsur beschrieben, die die alte imperiale Weltordnung und das Selbstbewusstsein der westlichen Eliten erschütterte. Die Weltwirtschaftskrise, die ab 1929 den Westen erfasste, verstärkte diese Selbstzweifel. Der Markt erwies sich als unfähig, für Wohlstand, Arbeit und Stabilität zu sorgen. Doch auch die sowjetische Systemalternative wurde schnell entzaubert. Zensurkammern, Geheimdienste und Einschränkungen der Demokratie, während des Bürgerkriegs zur Absicherung der Revolution geschaffen, waren zu Dauerregelungen geworden und ermöglichten Joseph Stalin, eine Diktatur zu errichten.

„Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten viele die Aufklärung grundsätzlich in Frage.“

In Italien und Deutschland entstand der Faschismus. Erneut versank die Welt in einem Blutbad. Bereits der Erste Weltkrieg hatte den Glauben an die Unausweichlichkeit des Fortschritts unterhöhlt. Hiroshima, Nagasaki und die industriellen Massenmorde der Nazis lösten eine noch tiefere Sinnkrise aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten viele die Aufklärung – und die modernen Industriegesellschaften, die sie hervorgebracht hatte – grundsätzlich in Frage. Der Holocaust wurde von Denkern wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer nicht als Rückfall in die Barbarei, als diametrales Gegenteil der humanistischen Werte der Aufklärung, gesehen, sondern absurderweise als logische Konsequenz des modernen Strebens nach Rationalität und Fortschritt.

Auch aus der Machtergreifung der Nazis wurden vielfach die falschen Schlüsse gezogen. Die NSDAP und andere rechtextreme Kräfte hatten jahrelang mit Duldung (oder gar Ermutigung) des konservativen bürgerlichen Establishments darauf hingearbeitet, die Weimarer Demokratie zu zerstören. Opfer ihres Terrors waren neben den Juden und anderen unerwünschten Minderheiten vor allem sozialistische und kommunistische Parteien, die mit Gewalt, Vandalismus und Attentaten auf ihre Anführer überzogen wurden. Nach dem Krieg wurden diese Zusammenhänge – teils bewusst – verdrängt. Nach der heute kaum noch hinterfragten Erzählung seien vor allem die „einfachen Leute“, die „verführbaren Massen“ für den Aufstieg des Faschismus verantwortlich; letztlich war Hitler das Resultat von „zu viel Demokratie“.

Im Osten festigte der stalinistische Staatsapparat seine totalitäre Gewaltherrschaft. Der Marxismus, eine Ideologie, die im Sinne Marx‘ für die fortschrittlichsten, liberalsten und demokratischsten Gesellschaften der Welt konzipiert war, und diese durch Demokratisierung der wirtschaftlichen Sphäre noch freier machen wollte, wurde zunehmend zum Synonym für die autoritäre Hau-Ruck-Modernisierung rückständiger Staaten. Die karge und erdrückende Welt des real existierenden Sozialismus wurde zu einem mächtigen Symbol, zu einer Mahnung, was passieren kann, wenn Menschen versuchen, die Welt zu verändern.

„Der Krieg diente als Entwicklungskatalysator für eine Vielzahl neuer Technologien.“

Hochmoderne

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es im Westen zu einem unerwarteten Wirtschaftsboom. Dieses „goldene Zeitalter“ des Kapitalismus war keinesfalls das spontane Produkt marktwirtschaftlicher Dynamik. Wie der Ökonom Phil Mullan beschreibt, hatten die Kampfhandlungen in vielen Staaten im großen Stil Kapitalwerte vernichtet und Raum für Investitionen in neue, bessere Produktionsmittel geschaffen. Der Krieg diente auch als Entwicklungskatalysator für eine Vielzahl neuer Technologien wie Strahlantrieb, Kernenergie und programmierbare elektronische Computer, die anschließend breite zivile Anwendung erfuhren.

Politisch war diese Zeit alles andere als radikal. Vergessen waren die linken Träume von Arbeiterherrschaft und direkter Demokratie. Es setzten sich soziale Marktwirtschaft, Technokratie und von Parteien der Mitte dominierte repräsentative Demokratie durch. In Europa legitimierte die vermeintliche Gefahr von „zu viel Demokratie“ bürgerferne, supranationale Gebilde wie Montanunion und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die Nationalstaaten gaben zunehmend Souveränität an diese technokratischen Institutionen ab, aus denen später die Europäische Union (EU) hervorging.

Obwohl ihr politischer Einfluss beschränkt war, ging es vielen normalen Bürgern im Westen materiell besser als je zuvor. Arbeiter hatten Tarifverträge, Autos, Urlaubsreisen und modern ausgestattete Wohnungen. Auch der Ostblock erlebte einen (bescheideneren) ökonomischen Aufschwung. Selbst ärmere Staaten widmeten sich ambitionierten Projekten wie dem Bau von U-Bahnen, neuen Stadtvierteln oder komplett neuen Städten. Rückblickend spricht man heute von der Hochmoderne (Engl.: high modernity), einem Zeitalter, das von einem großen Vertrauen in Wissenschaft und Technik und einem ebenso großen sozialen und technologischen Gestaltungsoptimismus geprägt war.

„Die bereits vorhandene Skepsis gegenüber der industriellen Moderne bekam durch die Umweltbewegung einen weiteren großen Schub.“

Apokalypse Now

Die Zuversicht währte nicht lange. Ab den 1960er-Jahren kam es zu verschiedenen Verwerfungen, die für eine düstere Grundstimmung sorgten. Der Westen wurde von Wirtschaftskrisen getroffen, die durch den Ölpreisschock verschärft wurden. Keynesianische Rezepte zur makroökonomischen Steuerung stießen an ihre Grenzen. Die bis dato äußerst erfolgreichen Nachkriegseliten waren in ihrem Selbstverständnis erschüttert. Doch auch die kommunistische Systemalternative wurde durch die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings und die Stagnation der Breschnew-Ära endgültig diskreditiert.

Im Westen führten Wirtschaftsdepression, Vietnamkrieg und das autoritär-konservative Gesellschaftsklima zu einer kurzen Wiederbelebung radikaler Politik. Die „neue Linke“ wurde nicht zuletzt wegen ihrer elitären Geringschätzung von Populärkultur und materiellem Wohlstand jedoch nie zu einer Massenbewegung. Ihre Protagonisten glitten in sinnlose Gewalt ab (RAF, Rote Brigaden) oder wurden Teil des Establishments, wo sie sich mit großem Erfolg „weichen“ gesellschafts- und zunehmend auch umweltpolitischen Themen widmeten. Ihre Weltsicht, eine seltsame Melange aus sozialer Öffnung und Liberalisierung bei gleichzeitiger Desillusionierung mit der Menschheit und ihren Gestaltungsmöglichkeiten, prägt die Gesellschaft bis heute.

Umweltverschmutzung ist nichts Neues. Sie geht seit Urzeiten mit menschlicher Aktivität einher. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wuchs im Westen das Bewusstsein für das Thema. Die Politik verschärfte die Gesetze, was schnell Erfolge brachte. Trotzdem nahm das Thema ab den 1970er-Jahren eine immer größere Bedeutung ein. Einige Probleme, wie die Verschmutzung der Flüsse oder das Ozonloch, waren real, aber relativ einfach zu lösen. Bei anderen, wie dem Waldsterben, handelte es sich um Hysterien. Im allgemeinen Klima der Verunsicherung stellten sie jedoch aus Sicht vieler Menschen Vorboten des Weltuntergangs dar. Nicht nur direkt wahrnehmbare Umweltprobleme beschäftigten die Menschen. Man steigerte sich zunehmend in Ängste vor Szenarien wie „der Überbevölkerung“ oder dem Versiegen „der natürlichen Ressourcen“ hinein, bei denen unklar ist, ob sie überhaupt jemals eintreten werden oder können.

„Nach dem Ende des Nachkriegsbooms stürzten beide Blöcke in eine Sinnkrise.“

Die bereits vorhandene Skepsis gegenüber der industriellen Moderne und aufklärerischen Idealen wie Vernunft, Wahrheit und Naturbeherrschung bekam durch die Umweltbewegung einen weiteren großen Schub und wurde endgültig zum Mainstream. Von ARD bis Brigitte, von den staatlichen Schulen bis zur den etablierten Kirchen, herrschte eine Auffassung vor, die das Primitive, Mystische und „Natürliche“ aufwertete. Viele Dinge, die zuvor als gut und wünschenswert gesehen wurden, galten fortan als gefährlich und unmoralisch. Das Auto, das Millionen normaler Bürger eine beispiellose Mobilität ermöglicht hatte, wurde auf Unfälle, Stress und Verschmutzung reduziert. Die moderne „industrielle“ Landwirtschaft, die den Hunger weltweit zurückgedrängt hatte, wurde zum Problem erklärt, ebenso die vermeintlich seelenlose „Schulmedizin“.

TINA

Nach dem Ende des Nachkriegsbooms stürzten beide Blöcke in eine Sinnkrise. Im real existierenden Sozialismus nahmen die Menschen an den absurden Ritualen eines Systems teil, an das nicht einmal mehr die Eliten glaubten, und konzentrierten sich ansonsten auf die Herausforderungen des Alltags in einer verfallenden Mangelwirtschaft. Aber auch im Westen war der Optimismus verflogen. Von großen Würfen hatte man sich verabschiedet. Deregulierung, Privatisierung und die Schwächung von Arbeitnehmerorganisationen brachten zwar eine gewisse wirtschaftliche Erholung, gingen jedoch mit stagnierenden Löhnen und einer zunehmenden Prekarisierung des Erwerbslebens einher. Bis 1990 blieb dem Westen wenigstens noch die moralische Überlegenheit gegenüber dem Ostblock. Dieses negativ definierte Selbstverständnis war jedoch ein schlechter Ersatz für positive Ziele. Politikverdrossenheit machte sich breit. Viele Bürger verabschiedeten sich von der Vorstellung, die Gesellschaft aktiv mitgestalten zu können, was sich in sinkender Wahlbeteiligung und dem starken Mitgliederverlust kollektiver Organisationen wie Parteien und Gewerkschaften niederschlug.

Der politischen Klasse ist die Kluft bewusst, die sich zwischen ihnen und vielen Bürgern aufgetan hat. Seit den 1990er-Jahren haben westliche Politiker daher versucht, sich als Politik-Manager und „Kümmerer“ neu zu erfinden. Mittels technokratischer Maßnahmen wie „Sündensteuern“ für als ungesund betrachtete Lebens- und Genussmittel oder verpflichtender „gendergerechter“ Sprache sollen vermeintlich „falsche“ Einstellungen oder Lebensstile von oben herab korrigiert werden. Dieser therapeutische und paternalistische Politikstil hat keine stärkere Bindung zwischen Staat und Bürgern geschaffen. Im Gegenteil: Viele Menschen begreifen, dass sie von Politikern nicht mehr als Bürger einer Demokratie ernst genommen werden, sondern eher als Kinder oder Patienten gesehen werden, und wenden sich entnervt von „der Politik“ ab.

„Seit den 1990er-Jahren haben westliche Politiker versucht, sich als Politik-Manager und ‚Kümmerer‘ neu zu erfinden.“

Seine mangelnde Beliebtheit ist für das politische Establishment kein Anlass für Reflexion oder Selbstkritik. Es ist im Gegenteil bissig und intolerant geworden. In den 1980er-Jahren prägte die marktliberale, konservative britische Premierministerin Margaret Thatcher das Credo TINA (es gibt keine Alternativen zu Marktwirtschaft und globalisiertem Kapitalismus). Heute haben wir es mit einer noch restriktiveren Version von TINA zu tun, die jede Abweichung vom technokratischen Zentrismus abstraft. Innerhalb der EU verbieten die gemeinsamen Statuten bestimmte, früher als legitim betrachtete politische Handlungsoptionen, etwa die Verstaatlichung des Schienenverkehrs. Problematischer als solche formalen Einschränkungen der Demokratie ist jedoch das gesellschaftliche Klima, das den Status Quo zur besten aller möglichen Welten erklärt. Ein ganzes Arsenal an Begriffen soll unerwünschte, vermeintlich „extreme“ Sichtweisen diskreditieren: Wer darauf hinweist, dass unser „freier Markt“ in Wahrheit eine korporatistische Privilegienwirtschaft ist, und nicht will, dass der Staat mit Steuergeldern Unternehmer spielt, wird als „neoliberal“ abgestempelt. Wer Entspannung im Verhältnis zu Russland will, ist „Putinversteher“. Kritik am teuren und in Sachen Klimaschutz weitgehend wirkungslosen Ausbau erneuerbarer Energien ist „Klimaleugnung“. Wer souveräne, demokratische Nationalstaaten der bürgerfernen EU vorzieht, gilt schnell als „Rechtspopulist“ oder Schlimmeres.

Ausblick

Wo stehen wir also, 100 Jahre nach der Russischen Revolution? Wie Ikarus aus der griechischen Mythologie ist der Mensch im 20. Jahrhundert zur Sonne emporgestiegen und jäh auf die Erde zurückgefallen – ein Bild, das die französische Soziologin Chantal Delsol in ihrem Buch „Ikarus Fallen“ hinsichtlich der Conditio humana des postmodernen Menschen prägte. Die Schrecken von Stalinismus, Maoismus und Roter Khmer zerstörten seinen Glauben an grenzenlosen sozialen Wandel. Bewusste Wirtschaftsplanung erwies sich als schwieriger als gedacht. Umweltprobleme ließen ein lineares Fortschrittsverständnis naiv erscheinen. Im aktuellen sozialen Klima sind Versuche, eine grundsätzlich andere Gesellschaft zu erkämpfen, vollkommen undenkbar. Von der Oktoberrevolution trennen uns nur vier Generationen, doch dieses epische historische Ereignis ist für uns heute nicht weniger irreal als die Handlung von „der Herr der Ringe“ oder „Star Wars“.

Die zeitgenössische Linke ist nur noch ein blasser Abklatsch jener progressiven und freiheitlichen Kraft, die sie von der Französischen Revolution bis ins frühe 20. Jahrhundert war. Viele ihrer ursprünglichen Positionen wurden ins Gegenteil verkehrt: Universalismus und Solidarität wurden durch die trennende und zunehmend narzisstische Identitätspolitik ersetzt. Aus dem Kampf gegen Elend und Knappheit wurden Technophobie, die Verklärung ländlicher, vorindustrieller Lebensweisen und „degrowth“. Vom jahrhundertelangen Kampf „einfacher Menschen“ für Selbstbestimmung, Meinungsfreiheit und politische Teilhabe will man nichts mehr wissen. Wer heute „links“ ist, befürwortet meist Nanny-Staat, Sprachreglementierung und supranationale Organisationen, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen.

„Im aktuellen sozialen Klima sind Versuche, eine grundsätzlich andere Gesellschaft zu erkämpfen, vollkommen undenkbar.“

An die Stelle der politisch organisierten Arbeiterklasse, die für ihre eigenen Interessen eintritt, ist ein oberflächlicher, ambitionsloser „Antikapitalismus“ getreten. Er kombiniert ökologistisch-wachstumsskeptische Positionen mit einer mitleidig-paternalistischen Haltung gegenüber „sozial Schwächeren“, denen man durch staatliche Umverteilungsmaßnamen helfen will. Dieser Antikapitalismus ist „institutionalisiert“, in dem Sinne, dass er von tonangebenden gesellschaftlichen Kreisen ausgeht und von staatlichen Stellen nicht bekämpft, sondern gefördert wird. Sein Einfluss geht weit über „linke“ Milieus hinaus. Selbst die Wirtschaftseliten hinterfragen kaum (zumindest nicht öffentlich) seine Glaubenssätze von der Begrenztheit natürlicher Ressourcen und der Gefährlichkeit des technischen Fortschritts.

So betrachtet erscheint die heutige Ziel- und Orientierungslosigkeit als Resultat einer doppelten Krise: Weder die Bourgeoise noch die Arbeiterklasse, deren Gegensatz die westlichen Gesellschaften seit Beginn der industriellen Revolution prägte, sind in unserer Zeit noch sonderlich vital. 1 Die lohnabhängigen Massen sind als historisches Subjekt entmachtet und die postmodern geprägte Linke hat bereits vor Jahrzehnten den Glauben an menschliche Subjektivität überhaupt verloren, wie der britische Autor James Heartfield in „The Death of the Subject Explained“ darlegt. Doch auch die kapitalistische Klasse ist in der Defensive. Ihre Verunsicherung und Selbstzweifel sind so groß, dass sie immer weniger in zukünftige Unternehmungen investiert, nicht mehr in der Lage ist, ihre Werte und Kultur als gesellschaftliche Standards zu verteidigen, oder wenigstens zu vermitteln, dass die industrielle, kapitalistische Moderne die Menschen nicht vergiftet, sondern immer länger und gesünder leben lässt.

Der aktuelle Zeitgeist entstand vor dem Hintergrund des 20. Jahrhunderts. Wir meinen, wichtige Lehren aus der Erfahrung stalinistischer und faschistischer Regime, aus Planungseuphorie, „Machbarkeitswahn“ und den Schattenseiten des technologischen Fortschritts, gezogen zu haben. Ironischerweise trägt der neue, vermeintlich „realistische“ Blick auf den Menschen jedoch selbst äußerst besorgniserregende Züge.

„Weder die Bourgeoise noch die Arbeiterklasse, deren Gegensatz die westlichen Gesellschaften seit Beginn der industriellen Revolution prägte, sind in unserer Zeit noch sonderlich vital.“

Im Westen stagniert die Wirtschaft. Der „grüne“ Zeitgeist verhindert jedoch ein politisches Bekenntnis zu Wachstum und Fortschritt, das der breiten Masse neue Lebens- und Freiheitsperspektiven eröffnen würde. In der Entwicklungszusammenarbeit scheint es heute vor allem darum zu gehen, nicht die „Fehler“ des Westens zu wiederholen und kleinbäuerliche Lebensstile zu schützen. Eine vermeintlich „nachhaltige“ Politik, die die Armen in Wirklichkeit nur zu weiterer Armut, Knochenarbeit und fortgesetztem Raubbau an der Natur verurteilt.

Der Argwohn gegenüber politischer Veränderung und den vermeintlich irrationalen und leicht verführbaren Massen hat die Demokratie geschwächt. Immer mehr Entscheidungen werden heute von ungewählten, technokratischen Gremien getroffen. Die Programme der Parteien gleichen sich zunehmend an. Auch die Meinungsfreiheit ist unter Beschuss. Bei Themen wie Ernährung, Rauchen oder Alkoholkonsum greifen staatliche und staatsnahe Instanzen heute in einem Ausmaß in die private Lebensführung ein, vor dem selbst totalitäre Systeme zurückgeschreckt haben.

Viele Bürger erkennen, dass ein alternativloses „Weiter so“ nicht mehr möglich ist. Die jüngsten Wahlen in westlichen Staaten wurden von vielen genutzt, um dem politischen Establishment einen Denkzettel zu verpassen. Diese Revolten an der Wahlurne sind ein bunter Strauß. Doch egal wie man persönlich zum Brexit oder „Außenseitern“ wie Trump oder Macron steht: Der Wunsch nach politischer Veränderung ist offensichtlich. Nun gilt es, diese Stimmung in eine positive, zukunftsorientierte politische Vision zu überführen. Im Gegensatz zu Delsol, die den gefallenen Ikarus als unausweichliches Schicksal eines durch Desillusionierung aufgeklärten Menschen letztlich guthieß, sollten wir uns dabei wieder zutrauen, groß und ambitioniert zu träumen. Wesentlich ist dabei, was wir bereit sind, den Menschen zuzutrauen: politische Freiheit, individuelle Freiheit und die Möglichkeit, mittels Wissenschaft und Technik die Umwelt zu gestalten. Ideologisch motivierte Regulierungen, die das Unternehmertum behindern, müssen abgeschafft werden. Gleichzeitig sollte die Gesellschaft auch wieder größeres Vertrauen in die Möglichkeiten des Staates setzten, wirtschaftliche Dynamik und Innovation voranzutreiben. Das Reich der Notwendigkeit zu verkleinern und das Reich der Freiheit zu erweitern – Marx’ Vision, die vor hundert Jahren so viele der besten Köpfe begeistern konnte –, bleibt auch im 21 Jahrhundert die Herausforderung für alle, die an das Projekt des menschlichen Fortschritts glauben.

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