09.09.2013

Wie die EU die Menschen von der Politik fernhält

Essay von Bruno Waterfield

Ende letzten Jahres befeuerte die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU erneut den Mythos, diese gewährleiste den Frieden auf dem Kontinent. Dabei erfüllt der EU-Apparat eine völlig andere Funktion.

Kann es etwas Zynischeres geben als die Vergabe des Friedensnobelpreises an die Europäische Union Ende 2012? Der Preis wurde zum Leben erweckt, weil sein Gründer, der schwedische Waffenhändler Alfred Nobel, ein schlechtes Gewissen hatte. Obwohl er als „Händler des Todes“ die Munition lieferte, die während des Ersten Weltkrieges viel Tod und Zerstörung verursachte, und 90 Waffenfabriken besaß, nannte sich Nobel einen Pazifisten. Diese heuchlerische Tradition hält Nobels Heimatland, das „neutrale“ Schweden, bis zum heutigen Tag bei. Ohne einen direkten Nachfahren, dem er etwas vererben konnte, und mit der Absicht, seinen Namen in den Augen der Nachwelt reinzuwaschen, stiftete er sein großes Vermögen, um die berühmten Nobelpreise zu gründen.

Der Nobelpreis ging immer wieder an die großen Heiligenfiguren der Weltgeschichte, wie etwa Nelson Mandela oder den Dalai Lama. Doch seine Tradition liegt auch darin, sich den Mächtigen dieser Welt anzubiedern. 1973 ging der Preis an den amerikanischen Außenminister Henry Kissinger, um seinen Beitrag im Friedensprozess mit Vietnam zu honorieren. Le Duc Tho, der vietnamesische Führer, der ebenfalls den Preis bekommen sollte, lehnte ab. Der Krieg war noch nicht zu Ende, und Kissinger verantwortete damals die Bombenattacken gegen die Truppen des Vietcong in Kambodscha. Als der amerikanische Satiriker Tom Lehrer von der Preisverleihung an Kissinger erfuhr, sagte er: „Satire ist überholt“.

2007 erreichte der Preis mit seiner Verleihung an Al Gore und den Weltklimarat einen weiteren Tiefpunkt. Das geheimniskrämerische Nobel-Komitee überging dabei Irena Sendler, die heldenhafte polnische Widerstandskämpferin, die 2.500 jüdische Kinder aus dem Warschauer Ghetto geschmuggelt und sie vor den Todeslagern gerettet hatte. Anders als Gore, der ungeachtet seiner „unbequemen Wahrheiten“ kaum für seine Ansichten leiden musste, geriet Sendler 1943 in Gefangenschaft – sie wurde gefoltert und zum Tode verurteilt. Nachdem sie es schaffte, der Gefangenschaft zu entkommen, setzte sie ihren Widerstand fort. Sie starb 2008, dem Jahr, an dem der Preis an Martti Ahtisaari ging – einen obskuren Diplomaten der Vereinten Nationen, der zum Zwecke der Krisenbeilegung in Konflikte entsandt wurde, die durch westliche Interventionen beispielsweise im Irak verursacht wurden.

2009 war die Preisverleihung an Barack Obama, der damals noch nicht einmal neun Monate im Amt war, Anlass für eine Kontroverse – zu einer Zeit, als Obama die Truppenverstärkungen in Afghanistan veranlasst hatte. In den letzten Monaten wurde Obama wiederholt für die anhaltenden Drohnenangriffe in Pakistan kritisiert, die Dutzende von Zivilisten töteten.

Der Friedensnobelpreis hat wenig mit wirklichem Frieden zu tun. Eher geht es darum, die Großen und Guten der internationalen Gemeinschaft zu feiern. Dass ausgerechnet die EU nach Jahrzehnten ihrer Existenz nun auf einmal den Preis gewonnen hat, ist deshalb nicht besonders überraschend.

Die Gründungsmythen der EU

Der Mann hinter der Preisvergabe an die EU war Thorbjorn Jagland. Er ist ein hochrangiger norwegischer Politiker und Generalsekretär des Europarates – einer nicht mit der EU zu verwechselnden Organisation, die ihren Mitgliedstaaten gerne Lektionen über „Menschenrechte“ erteilt. Jagland, dessen erste Entscheidung als Vorsitzender des Nobel-Komitees die Verleihung des Preises an Barack Obama war, bezeichnet sich selbst als einen „Europhilen“. Wie die übrige norwegische Elite drängt er weiterhin auf eine EU-Mitgliedschaft seines Landes, obwohl schon zwei Volksabstimmungen, 1972 und 1994, dies ablehnten.

In der Ansprache zum Friedensnobelpreis ertönt die Klage über die gegenwärtigen „ernsten wirtschaftlichen und sozialen Unruhen“ in der EU. Kein Wunder, haben doch die wirtschaftlichen Fehlkonstruktionen des Euro einige Länder Südeuropas ruiniert und große Teile des europäischen Wirtschaftsraumes in die schlimmste Rezession seit den letzten 80 Jahren gestürzt. Augenscheinlich sollte die Preisverleihung die Völker Europas daran erinnern, dass die EU aus den Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges hervorgegangen war. Das Nobel-Komitee hält der EU zugute, seit über 60 Jahren erfolgreich neue Konflikte eingedämmt zu haben – vor allem zwischen Deutschland und Frankreich. So wird auch die angebliche Leistung der EU gepriesen, den Übergang Spaniens und Portugals vom Faschismus zur Demokratie in den achtziger Jahren zu bewerkstelligen. Die Rolle der EU bei der Bewältigung der Wirren in Osteuropa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wird ebenfalls hervorgehoben – mit vielen Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes als Mitgliedstaaten der EU. „Die Union und ihre Vorläuferorganisationen haben seit über sechs Jahrzehnten zu Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten beigetragen“, so die Begründung der Preisverleihung.

Manch einer zeigt sich überrascht, dass der Preis zu einer Zeit vergeben wurde, wo die Eurozone auseinanderzubrechen droht und Südeuropa von einem Crash heimgesucht wird, der durch die wirtschaftlichen Ungleichgewichte und Mängel der Europäischen Einheitswährung verursacht wurde. Doch wie Jagland erklärt, wurde der Preis gerade deshalb vergeben, weil Wirtschaftskrise und wachsende politische Spannungen die politische Ordnung der EU aufzulösen drohen. „Wir sollten alles tun, um den Fortbestand der EU zu sichern. Wir dürfen die EU nicht auseinanderfallen lassen. Wenn der Euro einmal zerbricht, kommt der Nationalismus zurück“, sagte er.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel verstand sofort, dass der Preis vergeben wurde, um den Mythos der EU als einem Friedensprojekte der Nachkriegszeit weiter bestehen zu lassen. In einem Moment, wo ausgerechnet der Friedensgedanke durch Machtspiele und Souveränitätsverletzungen zum Zwecke der Erhaltung des Euro desavouiert wird, sagte sie: „Ich habe es schon oft gesagt: Der Euro ist mehr als eine Währung. Wir sollten nicht vergessen, dass wir in diesen Wochen und Monaten viel Arbeit aufgebracht haben, um den Euro zu stärken. Es läuft schließlich alles auf die ursprüngliche Idee einer Union des Friedens und der Werte hinaus.“

Jagland lehnte sich ebenfalls an den Gründungsmythos der EU an, indem er argumentierte, dass die politische Ordnung der Europäischen Union das Verhältnis der europäischen Nationen neu arrangiert und das Aufflammen des Nationalismus und neuer Konflikte verhindert habe. Hier handelt es sich um ein fadenscheiniges Argument. So war die deutsch-französische Versöhnung eine zwischen Frankreich und zunächst nur einem Teil von Deutschland. Der deutschen Wiedervereinigung widersetzten sich Frankreich und Großbritannien zunächst. Sie akzeptierten sie schließlich zähneknirschend, als der Euro entworfen wurde – dieser sollte das erstarkte Deutschland an die Leine nehmen. Osteuropa wiederum, dessen willkürliche Grenzen in den Kanzleien von Versailles gezeichnet wurden, wurde von den Westmächten auf der Konferenz von Jalta an die stalinistische Diktatur überantwortet.

Die Geschichte ist ein ständiges Sich-Durchwursteln. Europas Nachkriegsgeschichte ist, wie Tony Judt einmal sagte, „von einem Schweigen überschattet“. „Der Kontinent war einmal ein fein verwobener Flickenteppich einander überlagernder Sprachen, Religionen, Gemeinschaften und Nationen“, so Judt in seinem Buch Postwar: A History of Europe since 1945. „Zwischen 1914 und 1945 wurde dieses Europa zerstört. Ein Europa mit voneinander abgegrenzten Nationen ging in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts daraus hervor. Aufgrund von Krieg, Besatzung, Grenzveränderungen, Vertreibungen und Völkermord lebte nun jeder im ‚eigenen‘ Land und Volk. Und für 40 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges lebten die Europäer in beiden Hälften Europas in hermetisch abgeriegelten nationalen Einheiten, in denen die verbliebenen religiösen oder ethnischen Minderheiten – beispielsweise die Juden in Frankreich – einen winzigen Prozentsatz der Gesamtbevölkerung bildeten und dort vollständig integriert wurden.“

Indem Judt auf den „moralischen Preis der europäischen Wiedergeburt“ hinweist, erinnert er uns daran, dass das europäische „Friedensprojekt“ eine weitaus komplexere Angelegenheit war, als die rosaroten Verlautbarungen des Nobel-Komitees suggerieren. Judt sagt: „Seit 1989 wurde immer deutlicher, dass die Stabilität des Nachkriegs-Europas vor allem ein Werk von Joseph Stalin und Adolf Hitler war.“ Laut Judt wurde der Kontinent zwischen diesen beiden Diktaturen zerquetscht – so wurde die Grundlage für einen weniger komplizierten Kontinent geschaffen.

Aus einem ethnisch „gereinigten“ und durch den Kalten Krieg geteilten Europa ging die EU hervor. Sie stilisiert sich selbst zur „größten friedensschaffenden Institution der Menschheitsgeschichte“. Doch sie trug in der Nachkriegsperiode nur wenig zum Frieden bei. Vielmehr schuf sie eine neue politische Ordnung: Diese beruht auf der Prämisse, dass eine ungehinderte, öffentliche und durch „völkische“ Leidenschaften angetriebene Politik, in der nationale Interessen in einen Konflikt zueinander geraten, zu Krieg führt.

Das nämlich ist der Gründungsmythos der EU: Wenn nationale Wählerschaften „völkische“ Leidenschaften freisetzen, führt das zu einem aggressiven Nationalismus, sofern dies alles nicht in eine Form der supranationalen Beschränkung und Kontrolle gebracht wird. Nach dieser Geschichtsauffassung führte letztlich das Fehlen einer wirksamen Einhegung von populärer Politik zu den Weltkriegen. Die Wählerschaften wurden nach dieser Vorstellung vor allem im Zuge der Wirtschaftskrise von dunklen Leidenschaften angetrieben, und genau das brachte, so meinen viele Leute, in den 1930er Jahren die Faschisten und Nazis an die Macht. In dieser Weltsicht hat die EU die Aufgabe, die politischen Leidenschaften der europäischen Völker zu beruhigen und zu kontrollieren. Ohne die EU droht laut Jagland eine neue Welle des „Extremismus und Nationalismus“.

Der Einfluss faschistischen Denkens

Diese pessimistische Betrachtungsweise hat ihre Wurzeln jedoch ausgerechnet in der faschistischen Ära. Es waren konservative und rechtsradikale Denker wie beispielsweise der Kronjurist des Dritten Reiches, Carl Schmitt, die den Krieg als immanenten Bestandteil der Politik betrachteten. Schmitt argumentierte, dass sich Gesellschaften vor allem auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen in einem Freund-Feind-Verhältnis zueinander verhielten. Wie Helmut Rumpf ausführt, sah Schmitt die sozialen Beziehungen weniger als „einen Krieg der Individuen (…) [als vielmehr als] den Kriegszustand von Gruppen und vor allem Nationen“ an. Liberale Demokratie und repräsentative Parlamente waren für Schmitt nur künstliche Attrappen, die von der gewalttätigen Realität des politischen Konfliktes ablenkten.

„Der spezifische politische Unterschied, auf den alle politische Handlungen und Motive schließlich hinauslaufen, ist der zwischen Freund und Feind“, schrieb Schmitt in seinem 1932 veröffentlichten Buch Der Begriff des Politischen. „Der Freund, der Feind und der Begriff des Kampfes bekommen ihre eigentliche Bedeutung gerade deshalb, weil sie sich auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung beziehen. Krieg folgt aus Feindschaft. Krieg ist die existenzielle Negation des Feindes (…) Krieg ist weder das Ziel noch die Absicht und auch keineswegs der Inhalt der Politik. Doch als eine präsente Möglichkeit liegt er all dem als eine Vorannahme zugrunde, die auf eine charakteristische Weise das menschliche Handeln und Denken bestimmt und auf diese Weise das besondere politische Verhalten hervorbringt.“

Wie Hannah Arendt beobachtet hat, begünstigte diese neue Art politischer Theorie einen neuen Ansatz in der politischen Praxis. Dieser basierte nicht mehr auf der Rationalität autonomer Menschen, die bewusst ihre Interessen verfolgen. Nun stand die Idee im Vordergrund, dass Menschen durch ihre tiefere, irrationale Identifikation mit bestimmten politischen Gruppen oder gar Rassen motiviert sind. „Die Nazis brauchten gegnerische Argumente nicht zu widerlegen; sie zogen immer Methoden vor, die in Tod statt Überzeugung mündeten (…) Sie präsentierten Argumente als bloße Ausflüsse tief verwurzelter natürlicher, sozialer oder psychologischer Quellen jenseits der Kontrolle des Einzelnen und deshalb jenseits der Kraft der Vernunft“, schrieb Arendt über die Nazimethode in den Origins of Totalitarianism (1951), deren deutsche Fassung im Jahr 1955 unter dem Titel Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft erschien.

Natürlich ist es ein Mythos, dass die faschistischen Diktatoren wie Adolf Hitler und Benito Mussolini aufgrund einer Rückendeckung durch die Bevölkerungsmehrheit an die Macht kamen. Als er 1933 die Macht ergriff, waren Hitlers Wahlerfolge bereits wieder rückläufig. Er hatte niemals eine Mehrheit, und seine Nazi-Partei drohte zu zerbrechen, bevor ihn die Allianz mit Franz von Papen, einem traditionellen Konservativen, das politische Überleben rettete. Im Juli 1932 gewannen die Nazis noch 37,3 Prozent der Stimmen – das war vor ihrer Machtergreifung ihr Höhepunkt. Im November 1932 sank der Stimmenanteil auf 33,1 Prozent, und Hitler war mit einer Revolte seiner eigenen SA-Truppen konfrontiert. Er konnte sich nur deshalb retten, weil der deutsche Staat den Pessimismus à la Carl Schmitt akzeptierte, wonach Politik ein Kampf um Leben und Tod war und Hitler bei diesem existenziellen Kampf als die tauglichste Figur erschien. Sogar als die NSDAP schließlich im März 1933 die Reichstagswahlen gewann und auf diese Weise die Reichskanzlerschaft Hitlers ermöglichte, erreichte er mit nur 43,9 Prozent weniger als die Hälfte der Stimmen.

Wie Robert O. Paxton in The Anatomy of Fascism (2005) darlegt, war der Aufstieg Hitlers primär auf die „Seichtigkeit liberaler Traditionen“ zurückzuführen. Hinzu kam, dass „die Konservativen andere Möglichkeiten zurückwiesen“. Stattdessen „wählten sie die faschistische Option (…) Dabei hätte es nicht dazu kommen müssen“. Die Faschisten kamen nicht deshalb an die Macht, weil „völkische“ Leidenschaften die Gesellschaft vereinnahmten, sondern weil die politischen Eliten die Demokratie aufgaben. Das erkannte sogar Mussolini, als er 1933 in seinem Artikel Die Geburt der Zivilisation schrieb: „Die Ideologien des 19. Jahrhunderts kollabieren, und keiner verteidigt sie mehr (…) Da sind Demokraten, die nichts mehr mit Demokratie zu tun haben wollen, und Liberale, die glauben, dass die liberal-demokratische Phase der westlichen Staaten vorüber ist.“

Die Antipathie der EU gegen Volk und Leidenschaften

In Form einer geschichtlichen Wendung ist die EU das Spiegelbild zur pessimistischen Weltsicht Carl Schmitts. Nach Auffassung der EU muss die Öffentlichkeit von der Erörterung und Entscheidung politischer Schlüsselfragen ferngehalten werden. Sonst drohten vor allem in Zeiten der Wirtschaftskrise völkische Leidenschaften schnell zu nationalen Aufwallungen zu führen, die sich nicht mehr kontrollieren ließen. Ein profunder Pessimismus prägte auch die Intellektuellen, die als Ideenlieferanten zum Aufstieg der EU nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beitrugen. Die Vorstellung, dass ein nationaler und politischer Konflikt eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt, formte das politische Denken sowohl von Rechts als von Links.

Joseph Schumpeter, ein österreichischer Sozialdemokrat, glaubte wie Schmitt, dass die Funktionstüchtigkeit der repräsentativen Demokratie, basierend auf der Vorstellung autonomer Menschen, die ihre Interessen aushandeln, ein Mythos war. Sein 1942 veröffentlichtes Buch Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie wurde mir seitens eines hochrangigen EU-Beamten als „Bibel“ nahegelegt. „Wir unterliegen der praktischen Anforderung, dem Einzelnen solche Qualitäten der Unabhängigkeit und Rationalität beizumessen, die insgesamt betrachtet unrealistisch sind“, argumentierte Schumpeter. „Man darf nicht vergessen, dass das Phänomen der Massenpsychologie beileibe nicht auf den Mob beschränkt ist, der in den engen Straßen Lateinamerikas sein Unwesen treibt. Jedes Parlament entfaltet, in welch milderen Formen auch immer, einige dieser Eigenschaften (…), vor allem ein verringertes Maß an Verantwortlichkeit und gedanklicher Intensität und ein höheres Maß an nicht-logischen Einflüssen.“

Während Schumpeter zwar keine Diktatur befürwortete, unterstützte er doch eine minimalistische Demokratie, in der die Wähler periodisch zwischen technokratischen politischen Parteien wählen, die mittels einer ausgeprägten Bürokratie die Programme über die Köpfe der verwirrten Wähler hinweg verordnen. „Demokratische Politik hat sich als ungeeignet erwiesen, um eine anständige Stadtregierung zu erzeugen; wie also können wir das bei Nationen erwarten?“, fragte er.

„Es reicht nicht aus“, so fährt Schumpeter fort, „dass die Bürokratie eine effiziente Verwaltung bildet und kompetenten Rat erteilt. Sie muss auch stark genug sein, um die Politiker zu führen und, wenn nötig, Anweisungen an diejenigen Personen zu erteilen, die den Ministerien vorstehen. Die Bürokratie muss eine Position einnehmen, die es ihr erlaubt, ihre eigenen Prinzipien zu entwickeln“. Sie müsse „unabhängig genug“ sein, um „diese Prinzipien dann auch zu behaupten. Sie muss eine Macht aus eigenem Recht sein.“

Das ist eine gute Vorhersage dessen, was sich in den meisten europäischen Staaten schließlich durchsetzte. Die Welt offiziöser Verlautbarungen hat allmählich die Nation, verstanden als eine Ansammlung öffentlicher Interessen, ersetzt. Sie ist zur wichtigsten Macht und Autorität geworden. Schumpeter, ein linksgerichteter Sozialdemokrat, ist der Vorfahre von Denkern wie Jürgen Habermas, die eine Abneigung gegenüber der Idee hegen, dass Menschen und Völker die Fähigkeit zur Selbstregierung haben – vor allem, wenn sie sich in Nationen versammeln. In vielerlei Hinsicht hat sich die EU zu einer Union von staatlichen Bürokratien entwickelt. Diese Union wirkt als „unabhängige“ Macht. Sie ist aus sich selbst heraus legitimiert. Sie soll die „unvernünftigen“ Regungen der Wähler einhegen.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums steht der österreichische Ökonom und Philosoph Friedrich August von Hayek. Auch er plädierte zeit seines Lebens für europäische Strukturen, die oberhalb der nationalen Politik angesiedelt sind. In seinem 1939 veröffentlichten Essay The Economic Conditions of Inter-State Federalism argumentierte Hayek für europäische Institutionen, die mit voller Absicht auf Abstand von den Nationalstaaten gehalten werden. Auf diese Weise sollten sie den freien Markt und kapitalistischen Wettbewerb gegen den nationalstaatlichen Protektionismus schützen, der in den 1930er Jahren dominant war. „Im Nationalstaat machen es einem die gegenwärtigen Ideologien einfach, den Rest der Gesellschaft zu überzeugen, dass es in ihrem Interesse ist, ‚ihre‘ Industrie zu schützen“, schrieb er. „Die Macht der Staaten, aus denen sich die Föderation zusammensetzt, wird aber beschränkt sein. Viele der staatlichen Interventionen in das Wirtschaftsleben, an die wir uns gewöhnt haben, werden in einer föderalen Organisation insgesamt nicht mehr praktikabel sein.“ Während Hayeks liberale Jünger heute prominente Kritiker von „Brüssel“ sind, so erinnern seine Empfehlungen doch stark an die „Prinzipien des freien Marktes“ und an die „Grundfreiheiten“, die in den europäischen Verträgen heute fest verankert sind.

Sowohl rechte als auch linke Theoretiker wollten politische Schlüsselfragen aus der Sphäre populärer Leidenschaften entfernen. Sie legten den intellektuellen Grundstein für eine politische Praxis, die oberhalb des Feldes des demokratischen Streites angesiedelt ist – also oberhalb der Nation und des Nationalstaates. Weil die Bürokratien in der Nachkriegsära immer weiter wuchsen, wurden die politischen Eliten immer mehr des Umstand gewahr, dass die Verlagerung der Entscheidungsfindung von der nationalen zur supranationalen Ebene die traditionellen Mechanismen der Rechenschaftspflicht schwächt, die in einer nationalen repräsentativen Demokratie noch vorzufinden sind. Das sorgt insgesamt für einen „ungestörteren“ Ablauf der politischen Geschäfte.

Der Gründungsethos der EU besteht also nicht darin, dass sie sich primär als ein Friedensprojekt versteht. Er liegt vielmehr in der Annahme, dass den Bürgern und Völkern Europas die Fähigkeit fehlt, sich selbst zu regieren. Die EU basiert auf der Idee, dass es gefährlich ist, den Leidenschaften des Volkes einen bestimmenden Einfluss auf die Politik zu ermöglichen. Deshalb hat sie wohlwissentlich Institutionen geschaffen, die dem Volk entfremdet sind – Institutionen, die „unabhängig“ sind und die Bürger nicht repräsentieren. Die EU hat die Nationalstaaten transformiert: Diese drücken nicht mehr vorrangig die Interessen der Bürger aus, die durch die repräsentative Demokratie ermittelt werden. Sie agieren stattdessen als bloße Mitgliedstaaten einer umfassenderen Organisation. So soll auf der europäischen Ebene das Management von Interessenskonflikten ermöglicht werden – im Privaten und fern der populären Einflüsse.

Ein Staatswesen, das gegen das Volk gerichtet ist

Die heutige EU verortet sich stolz oberhalb der gängigen Interessenskonflikte. In einer 2008 gehaltenen Rede erklärte der ehemalige Außenbeauftragte der EU, Javier Solana, dass die europäischen Strukturen dazu da seien, Konflikte, die im Namen des nationalen Interesses ausgetragen werden, zu managen und zu vermeiden: „Das Konzept des ‚nationalen Interesses‘ kann als überholt gelten (…), wir verbinden diese Idee heute vor allem mit der zynischen Verfolgung eigener Interessen. Eine rücksichtslose Verfolgung nationaler Interessen passt nicht zur europäischen Methode der Konsensbildung.“

Seit den neunziger Jahren hat die EU sehr belastbare und geheimniskrämerische Strukturen geschaffen, die Interessenskonflikte innerhalb der Staaten und zwischen den Nationen behandeln – vor allem um die Interessen eines wiedervereinigten Deutschlands nach 1990 einzudämmen. Die europäische Regierungskaste hat sich mittlerweile in der „europäischen Methode der Konsensbildung“ eingerichtet – einer Form der Entscheidungsfindung, die Interessenskonflikte hinter verschlossenen Türen und mittels Konklaven von Beamten, Ministern und Regierungschefs aushandelt.

Als ein Netzwerk von Staaten ging es der EU nie darum, nationale Interessen zu überwinden. Es ging eher darum, nationale Interessen auf eine für die politischen Klassen Europas bequeme Art zu managen. Die EU waltet in einer geheimniskrämerischen Welt der Diplomatie. Indem sie nationale Interessen aus der Öffentlichkeit herausnimmt, werden sie zu technischen Fragen, die man nicht mehr als repräsentativ ermittelte Interessen auffassen kann. Auf diese Weise verkümmern Interessen zu bloßen Differenzen zwischen Beamten, Politikern und Diplomaten.

Die neue politische Ordnung hat vor allem im Zuge der Eurokrise zu einer Wiederbelebung der Kultur und der Praktiken der Geheimdiplomatie geführt. Diese Praktiken haben sich über das traditionelle Feld der internationalen Beziehungen hinaus ausgedehnt – sie erstrecken sich nun auch auf die Verwaltung der Bürger durch ihre Regierungen. In den beiden letzten Jahren war Geheimdiplomatie das Instrument, durch das Regierungen ihrer Souveränität beraubt und einer EU-Verwaltung unterstellt wurden. Geheime Treffen von Beamten und Regierungen der mächtigsten Staaten Europas haben dazu geführt, dass sogar Regierungen gestürzt und durch Technokraten ersetzt wurden.

Administrative Programme haben nationale Interessen beiseitegeschoben. Darunter sind auch Maßnahmen, die den innenpolitischen sozialdemokratischen Konsens erschüttern. Die EU erweist sich als ein Instrument, durch das die Eliten einen Staats- und Verwaltungsapparat am Leben erhalten, der zu einem reinen Selbstzweck verkommen ist. Ein Apparat ist entstanden, der sich gegen die Bedürfnisse des Volkes richtet und den Erfordernissen sich verändernder Lebensbedingungen trotzt. Das hat zerstörerische Folgen für Europa. Es gefährdet unsere europäischen Ideale, weil Institutionen zu Mechanismen der Dominanz von Ländern und Völkern mutieren.

Weil die EU so aufgebaut ist, dass sie frei von den Interessen der europäischen Völker agieren kann, trifft sie Entscheidungen, die den wechselnden Lebensbedingungen und ökonomischen Fakten nicht gerecht werden. Die Austeritätsprogramme für Griechenland, Portugal und andere Länder haben streng genommen keine ökonomische Basis. Die EU klammert sich an die Regeln, die der Vertrag von Maastricht, der 1992 die Grundlage für den Euro schuf, in Stein gemeißelt hat. Das führt zu einer Verabreichung von ökonomischem Zwang. Um als EU funktionieren zu können, muss sie sich an „europäische Werte“ anlehnen, die über den nationalen Interessen stehen und unabänderlich sind. Das muss sie vor allem auch deshalb tun, um die anhaltende Dominanz der mächtigsten Staaten zu verhüllen.

Die Demokratie verwirklicht das Recht der Völker, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Sie verwirklicht sich in dem Moment, wo neue gesellschaftliche Begebenheiten präsent werden und durch das Wirken von oppositionellen Kräften in politische Alternativen münden. Dann können die Wähler ihre Regierungen stürzen und politische Ordnungen zu Fall bringen, die den Interessen der Bürger nicht mehr entsprechen. Dieser Prozess politischer Rechenschaftspflicht ist historisch im Nationalstaat angesiedelt. Doch heute kommt dieser Prozess bestenfalls abgeschwächt in Gang, weil der Nationalstaat durch seine Transformation zu einem bloßen Mitgliedstaat der EU seinen repräsentativen Charakter verliert. Mit der EU, die ihr Staatswesen gegen die Bildung öffentlicher Interessen richtet, ist uns jedenfalls schlecht gedient.

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