12.06.2013
„Wir bauen die EU in ein oligarchisches, intransparentes und zentralistisches Regierungssystem um.”
Interview mit Roman Huber
Im Gespräch mit Kai Rogusch erklärt Roman Huber – Vorstandsmitglied des Vereins „Mehr Demokratie“, einem Mitinitiator der EZB-Verfassungsklage – wieso wir einen Bürgerkonvent über die Zukunft der EU brauchen. Das Interview ist zuerst in der aktuellen Novo-Printausgabe erschienen.
Novo: Herr Huber, mit Blick auf das von Ihnen vertretene Anliegen, den europäischen Einigungsprozess zu demokratisieren, könnte man zwei verschiedene Positionen ausmachen: Die einen sagen, dass eine Demokratie in der Europäischen Union unmöglich sei, weil die in ihr vereinigten Länder und Völker schlicht zu „unterschiedlich“ seien in Mentalität, Sprache, Kultur und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, als dass sich eine politische Öffentlichkeit oder gar ein europäisches Staatsvolk herausbilden könnte. Demgegenüber vertritt Ihr Verein „Mehr Demokratie“ den Ansatz, sowohl den Prozess der zukünftigen Fortentwicklung der europäischen Integration als auch die Institutionen durch einen reformatorischen Ansatz bürgernäher zu gestalten. Was sind die Hauptprobleme, die einer europäischen Demokratie im Wege stehen?
Roman Huber: Die Entwicklung der EU mag historisch verständlich sein, wenn wir annehmen, dass das Hauptziel der ersten Verträge die Friedenssicherung zwischen verfeindeten Staaten war. Aus demokratiepolitischer Sicht wurde die EU fundamental falsch konstruiert. Denn die europäische Gemeinschaft baut auf zwischenstaatlichen Verträgen auf und verbleibt somit in der Kontrolle der Regierungen. Schicksalhaft dabei ist nun, dass die Außenpolitik typischerweise der am wenigsten demokratisch kontrollierte Politikbereich ist. „Kooperation der Staaten“ bedeutet daher eher eine „Kooperation der Regierungen“ und kaum „Kooperation der Parlamente und Bürger der Mitgliedstaaten“. Das ist vor allem deswegen bedenklich, weil je nach Lesart und Untersuchung heute zwischen 60 und 80 Prozent aller neuen Gesetzgebungsakte aus Brüssel kommen. Unbestritten ist: Es werden jährlich mehr.
Die Ursache für die zunehmende Gesetzesflut ist: Seit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte im Jahr 1986 werden immer mehr Kompetenzen auf die europäische Ebene verlagert. Das Demokratie-Problem hierbei ist stets: Erst werden Kompetenzen auf ein gouvernementales System verlagert, danach wird dieses System ein wenig demokratisiert. Die Demokratisierung hinkt also immer hinterher. Dadurch wird das Demokratiedefizit größer. Die derzeitige Praxis, immer mehr Kompetenzen von den schon zunehmend undemokratischen Nationalstaaten auf die noch undemokratischere EU zu verlagern, ist im Grunde ein Demokratieabbau. Die Kontrolle der Macht wird noch schwieriger, der Lobbyeinfluss ungleich größer, die Exekutive noch dominanter. Hinzu kommt ein typisches Problem großer Staatsgebilde mit Zentralgewalt: Zentralistische Lösungen werden heterogenen Verhältnissen und unterschiedlichen Lebensrealitäten kaum gerecht.
Insofern ist die Demokratisierung der Europäischen Union nicht eine Aufgabe wie jede andere, sondern ein moralisches Postulat. Wenn wir zu der Überzeugung kämen, dass dies nicht zu bewerkstelligen sei, müssten wir zwingend die Machtfülle der europäischen Institutionen beschneiden und Kompetenzen in die Mitgliedstaaten und deren Untergliederungen zurückverlagern. Wer diese Konsequenz nicht ziehen möchte, müsste zumindest ehrlich der Tatsache ins Auge sehen, dass ein massiver Demokratieabbau stattfindet und wir die EU in ein zunehmend oligarchisches, intransparentes und zentralistisches Regierungssystem umbauen.
Was wären die wesentlichen Schritte, die unternommen werden müssen, um hier Fortschritte zu erreichen?
Bevor wir konkrete Schritte diskutieren, ist es generell sinnvoll, sich auf ein gemeinsames Demokratieverständnis zu einigen, also den Maßstab zu betrachten, nach dem gemessen wird. Für eine Organisation wie Mehr Demokratie, deren Schwerpunkt in der Einführung und sinnvollen Ausgestaltung von direkt-demokratischen Verfahren liegt, bemisst sich der Wert einer Demokratie maßgeblich an den effektiven Einflussmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger über verbindliche Verfahren. Unter „demokratischer Kontrolle“ verstehen wir insofern die Fähigkeit von politischen Systemen und Verfahren, auf sich ändernde Mehrheitsverhältnisse unter den Bürgern mit einem entsprechenden Politikwechsel zu reagieren. Demokratische Kontrolle schließt unserem Verständnis nach auch die „Letztkontrolle“ mit ein, also etwa die Möglichkeit, über Verfahrens- und Verfassungsfragen abstimmen zu können, aber auch über Gesetzesvorlagen.
Ich habe persönlich den Eindruck, dass es heute in Zeiten der Eurokrise einerseits große Gefahren, aber auch Chancen für unsere Demokratie gibt: Einerseits gibt es die ständigen „Rettungsgipfel“ und Notstandsmaßnahmen, die sich kaum mehr auf dem Boden des Rechts vollziehen und vollendete Tatsachen schaffen, die, wenn überhaupt, nur eine elitäre Minderheit in ihrer Tragweite überblicken kann. Auf der anderen Seite aber wirft unsere krisengeprägte Zeit wieder ein wenig die „Systemfrage“ auf. Das führt unter anderem dazu, dass vor den Augen des allgemeinen Publikums komplexe volkswirtschaftliche und finanzwissenschaftliche Fragen in Bestsellern und Talkshows dargelegt werden, die in normalen Zeiten in verschlossenen Gefilden versteckt gehalten wurden. Sehen auch Sie eine solche Entwicklung? Birgt sie nicht große Chancen für „Mehr Demokratie“?
Ja, auch ich erlebe es so, dass wir immer mehr zu den Kernfragen der politischen Gestaltung vordringen, zu schlichten Fragen: Wer hat tatsächlich Macht, wer entscheidet wirklich? Welche Interessen setzen sich durch? Cui bono? Ich bin kein Anhänger der manchmal geäußerten Theorie, dass das „System“ an sich schuld sei und wir seien mehr oder weniger durch eine Verstrickung unglücklicher Zustände in die heutige Lage gekommen. Mein persönliches Weltbild ist simplifiziert gesprochen: Wenn auf der Welt irgendetwas geschieht, dann deshalb, weil dies irgendjemand auch so gewollt hat. Natürlich entsteht eine Gesellschaft nicht aus monokausalen Verkettungen von Ursache und Wirkung. Eine Gesellschaft ist ein komplexes adaptives System, das auf Eigenschaften wie Kommunikation, Emergenz und Selbstorganisation beruht. In einer multidimensionalen Krise wie heute – es gibt kaum einen Lebensbereich der nicht an seine Grenzen kommt, sei es die demografische Entwicklung, die Umwelt- und Energiefrage, die Gesundheitspolitik und natürlich und Wirtschafts- und Geldordnung – besteht die Chance, die zugrunde liegenden Prämissen kritisch zu untersuchen.
Drei Themen erscheinen mir persönlich wichtig. Erstens: Nach welchen Spielregeln wollen wir gemeinsam leben? Wie gestalten wir unsere Zukunft? Das sind die Demokratiefrage und die Frage des Rechts. Das zweite Thema umfasst Fragen der politischen Ökonomie: Wie gestalten wir die Wirtschaft, die die Grundlage für den sozialen Organismus jeder Gesellschaft bildet und diese trägt? Und im Speziellen: Wie definieren wir den Lebenssaft der Wirtschaft, das Geld? Brauchen wir eine neue Geldordnung? Doch am grundlegendsten erscheint mir, drittens, die Frage nach unserem Menschen- und Weltbild. Gibt es den freien Willen? Gibt es Bewusstsein? Ist unser rein materialistisch-naturwissenschaftliches Denken überhaupt noch zeitgemäß, ja wissenschaftlich zu halten? Wenn wir ein ganzheitliches Weltbild zugrunde legen würden, würde dies weite Bereiche der Bildung, der Schulen, der Landwirtschaft, das gesamte Gesundheitssystem etc. revolutionieren.
Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen, sagt ein chinesisches Sprichwort. Bei „Mehr Demokratie“ sehen wir in den mit der Krise einhergehenden Veränderungen große Chancen, da wir seit jeher an Metafragen interessiert sind und sehr grundsätzliche Reformen anstreben.
Ihr Verein streitet vor allem für die Ausweitung der direktdemokratischen Einflussmöglichkeiten der Bürger auf die Politik. Wenn man ins Grundgesetz schaut, sind die bisherigen Möglichkeiten der Bürger, sich auf bundespolitischer Ebene an der Gesetzgebung zu beteiligen, äußerst spärlich, während es zum einen auf der europäischen Ebene immerhin die im Lissabonner Vertrag vorgesehene Europäische Bürgerinitiative gibt und zum andern auf der Ebene der Bundesländer ein größeres Repertoire an direktdemokratischen Initiativen vorhanden ist. Worin liegen die wesentlichen Unterschiede in den rechtlichen Möglichkeiten der Bürger in Hinblick auf diese drei verschiedenen Ebenen, direktdemokratisch zu agieren?
Auf der Ebene der Bundesländer, wie auch auf kommunaler Ebene, können die Bürger verbindlich über einen Teil der Bereiche entscheiden, die auch die von ihnen gewählten Repräsentanten entscheiden können. Die Hürden, um bindende Volksentscheide zu erreichen, sind unterschiedlich. Manche sind nach den Maßstäben von Mehr Demokratie bürgerfreundlich, andere noch prohibitiv. Wir veröffentlichen hierzu regelmäßig ein Ranking und benoten die einzelnen Bundesländer. Schmerzlich ist jedoch, dass in den meisten Bundesländern ein entscheidendes Thema von der Volksgesetzgebung ausgeschlossen ist: finanzwirksame Fragen. Das Gegenteil lebt uns die Schweiz vor: Ab einer bestimmten Größenordnung müssen die Bürger für finanzwirksame Projekte ihre Zustimmung geben. Dies hat segensreiche Auswirkungen auf die Haushalte der Kantone, auf die Steuerlast, die Effizienz staatlicher Leistungen, aber auch auf die Steuerzahlermoral und die wirtschaftliche Produktivität der Menschen.
Mit der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) ist es seit 1. April 2012 Bürgerinnen und Bürgern unterschiedlicher EU-Staaten möglich, gemeinsam die Europäische Kommission aufzufordern, sich mit einem Thema zu befassen oder eine Gesetzesinitiative zu ergreifen. Die EBI ist damit ein unverbindliches Beteiligungsinstrument, mit dem Anregungen für EU-Gesetzesvorhaben gegeben werden können. Allerdings kann mit der EBI nicht durchgesetzt werden, dass die Bürgerinnen und Bürger auch selbst entscheiden. Die EBI ist im EU-Reformvertrag verankert und geht zurück auf eine Initiative von Mehr Demokratie. Die demokratiepolitische Bewertung fällt je nach Betrachter sehr unterschiedlich aus, vom Feigenblatt bis zu „bahnbrechend“ für die Bürgerbeteiligung auf europäischer Ebene. Immerhin haben die Bürger damit genauso viele (also tatsächlich wenige) Rechte wie das EU-Parlament in diesem speziellen Bereich. Das Parlament kann auch nur Gesetzesvorschläge initiieren, aber nicht verbindlich auf die Tagesordnung setzen. Das kann nur die EU-Kommission. Dennoch ist die EBI ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Die Bundesebene ist die Terra incognita der direkten Demokratie. Das muss sich ändern, sind doch Volksentscheide bereits im Grundgesetz angelegt. Der Artikel 20 definiert den grundlegenden Staatsaufbau und formuliert im zweiten Absatz: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Wir sind zuversichtlich, dass in der nächsten Legislaturperiode Volksentscheide auf Bundesebene eingeführt werden, wenn sich genügend Menschen dafür einsetzen.
Rechtliche Möglichkeiten, direktdemokratisch zu agieren, sind das eine. Das andere ist die Frage, ob man für die eigenen politischen Ziele auch tatsächlich Gleichgesinnte findet, mit denen man eine Gemeinschaft bildet. Was sind Ihre Erfahrungen, die Sie bisher auf der europäischen Ebene gesammelt haben? Gab es da Momente, in denen die Idee einer grenzüberschreitenden Bürgerschaft greifbar wurde?
Auf der europäischen und internationalen Ebene war und ist die wichtigste persönliche Erfahrung das Weiten des eigenen Horizonts. Um sein eigenes Land besser zu verstehen, betrachtet man es am besten auch einmal von außen und mit den Augen anderer. Um Europa zu verstehen, sollte man Europa auch einmal verlassen und andere Kontinente bereisen. Ob auf einem Weltsozialforum im Gespräch mit einem Aktiven aus Südindien über den Zusammenhang von Demokratie und Armut oder bei den Unruhen in Athens Stadtviertel Exarchia im Jahr 2009, als wir im CS-Gas-Nebel mit den Demonstranten über ihre Motive sprachen – man sieht die Welt danach mit anderen Augen.
Das grundlegende Motiv ist weltweit das Gleiche: Menschen wollen gehört werden, Menschen wollen ihr Leben selbst gestalten können, Menschen wollen faire Spielregeln für alle. Ab dem Moment, wo es verbindliche Verfahren auf europäischer Ebene gibt, werden sich Menschen nicht nur in persönlichen Begegnungen, sondern in konkreten Kampagnen verbinden, zumal die jüngere Generation heute vollkommen anders vernetzt ist. Die meisten aktiven Menschen sind aber auch ziemlich realistisch und überlegen sich genau, ob es tatsächlich Sinn macht, eine Million Unterschriften zu sammeln, wenn die dann nach einer Pressemeldung wieder im Papierkorb verschwinden können.
Deswegen haben wir gemeinsam mit anderen Demokratie-Initiativen aus Österreich, Bulgarien, den Niederlanden und Spanien das europaweite Netzwerk Democracy International gegründet. Gemeinsam haben wir nach mehreren europaweiten Konferenzen, auf denen wir uns kennen- und schätzen gelernt haben, eine europaweite Kampagne durchgeführt – die European Referendum Campaign. Die ERC hatte das Ziel, dass die Bürger jedes Landes in einer Volksabstimmung über die europäische Verfassung entscheiden können und in der Verfassung europaweite Volksentscheide verankert werden. Die beiden wichtigsten Ergebnisse waren die Europäische Bürgerinitiative (EBI) und das Referendum in den Niederlanden im Jahr 2004 über den Europäischen Verfassungsvertrag. Wenn es tatsächlich verbindliche Volksentscheide in der EU gäbe, würde ich schon morgen nach Spanien, Portugal, Irland und Griechenland reisen und dann durch ganz Europa, um das erste EU-weite Volksbegehren zur Demokratisierung der EU und der Regulierung der Finanzmärkte zu starten.
Eine Ihrer Forderungen zielt auf einen „Europäischen Konvent“ ab, der direkt von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern gewählt wird und viermal so viele Mitglieder umfasst, wie es Staaten in der EU gibt. Nach einem Beitritt Kroatiens wären das also 112 Personen, die die Aufgabe hätten, eine Art Verfassungsentwurf, also den Entwurf eines Grundlagenvertrages, zu erarbeiten. Wie und woraus sollen sich die Konventsmitglieder rekrutieren?
Die Kandidierenden könnten über europaweite Listen von europäischen Parteienbündnissen nominiert werden. Das ist sicher nicht die kreativste Idee, aber eine praktikablere Idee haben wir noch nicht. Vielleicht könnten den Parteien bestimmte Vorgaben für die Nominierung gemacht werden, z.B. ein bestimmter Prozentsatz Nicht-Parteimitglieder. Zwischen der Nominierung und der Wahl zum Konvent sollen alle Kandidierenden die Gelegenheit bekommen, sich öffentlich mit ihren Positionen vorzustellen. Zusätzlich braucht es eine Regelung für die Staaten, die den Status eines Beitrittslandes haben. Diese Staaten könnten Beobachtende entsenden, wie es auch bei dem Verfassungskonvent 2002/2003 der Fall war.
Die Hälfte der Konventsmitglieder würde von den nationalen Parlamenten ernannt werden, die andere Hälfte würde aus den Ländern direkt gewählt – und zwar europaweit und am selben Tag. Vom Parlament des jeweiligen Staates würden zur Wahl mehrere Kandidierende aufgestellt, die geachtete Personen des öffentlichen Lebens, der Politik, der Wissenschaft oder der Zivilgesellschaft sein sollten. Ein solches Verfahren wäre vergleichbar mit dem zur Nominierung von Kandidierenden für die Bundespräsidentschaft. Bedenkenswert wäre auch ein Kandidaturrecht ab einer bestimmten Unterschriftenzahl.
Die Kandidierenden der europäischen Parteienbündnisse würden auf gesamteuropäischen Listen für alle Bürgerinnen und Bürger Europas zur Wahl stehen, wobei jede Stimme gleich zählen sollte. Dabei sollte das Verhältniswahlprinzip gelten, sodass die Parteienbündnisse nach prozentualem Stimmenanteil im Konvent vertreten wären. Den Wählenden sollte es möglich sein, Einfluss auf die Zusammensetzung der Listen zu nehmen, indem sie ihre Stimmen direkt einzelnen Listenkandidierenden geben.
Eine wichtige Aufgabe dieses Konventes bestünde darin, erst einmal zu ermitteln, welche Politikbereiche sinnvoll auf der europäischen Ebene angesiedelt sein sollten. Das ist eine zentrale Frage, weil eine europäische Demokratie erst dann greifbar erscheint, wenn sich ein Disput über das Für und Wider einer gesamteuropäischen Politik entfaltet. Welche inhaltlichen Fragen eignen sich nach Ihrer Auffassung für einen europäische Grenzen überschreitenden Meinungskampf?
Zunächst mal muss es darum gehen, wie wir uns über inhaltliche Fragen überhaupt verständigen wollen und inwieweit wir grenzübergreifend diskutieren und entscheiden wollen. Dazu braucht es den Konvent: Er hätte den Auftrag, einen Entwurf für einen neuen Grundlagenvertrag zu erarbeiten. Folgende Grundkonzeptionen für ein zukünftiges Europa wären denkbar und könnten den Bürgerinnen und Bürgern zur Entscheidung vorgelegt werden: Mehr europäische Integration, das bedeutet, auf die EU werden weitere wichtige Kompetenzen im Bereich Wirtschafts-, Fiskal- und Finanzpolitik etc. übertragen, die EU wird weiter entwickelt in Richtung der „Vereinigten Staaten von Europa“. Es könnte auch einfach der Status quo beibehalten werden. Der Vertrag von Lissabon sieht bereits in vielen Bereichen gemeinsames Handeln auf EU-Ebene vor. Am Ende des Konvents-Prozesses könnte auch die Entscheidung stehen, diesen Stand zu halten. Denkbar wären auch weniger Kompetenzen für Europa. Ebenso ist denkbar, dass es einen Entwurf gibt, der bestimmte Kompetenzen wieder auf die Ebene der Nationalstaaten oder der Regionen zurück verlagert. Der Konvent könnte zudem einen Vorschlag anbieten, in dem die Bürgerinnen und Bürger jeweils zwischen verschiedenen Integrationstiefen für ihr Land auswählen können. Das Ergebnis wäre ein nach Vorgaben der Bevölkerung maßgeschneidertes Europa, in dem verschiedene Mitgliedstaaten unterschiedlich eng zusammenarbeiten.
Dies sind nur einige mögliche Varianten, um aufzuzeigen, dass von „Alternativlosigkeit“ keine Rede sein kann. Das würde unglaublich spannende Diskussionen in allen Mitgliedsstaaten, in ganz Europa, ja vermutlich in der ganzen Welt erzeugen.
Ein Problem besteht darin, dass Art. 48 der europäischen Verträge zwar für Vertragsänderungen einen Konvent vorsieht, dieser sich aber von Ihren Vorstellungen in Hinblick sowohl auf seine Zusammensetzung als auch auf seine Prozeduren wesentlich unterscheidet. Was fehlt dem in Art. 48 vorgesehenen Konvent in demokratischer Hinsicht?
Die Spielregeln, nach denen der Konvent arbeitet, müssten so gestaltet sein, dass sich in ihm die wirkliche Fülle der Positionen der europäischen Bürgergesellschaft widerspiegeln kann. Genau das fehlt dem in Art. 48 EU vorgesehenen Konvent bislang, weil die Regierungen hier letztlich die Zügel in der Hand halten. Hinzu kommt, dass die bisherigen Dokumente in einer unverständlichen Sprache verfasst sind, die nur für die juristische Fachwelt gedacht ist. Der Text eines Vertrages sollte übersichtlich und von möglichst geringem Umfang sein.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass das in Art. 48 EU vorgesehene Verfahren keine hinreichende Öffentlichkeit des Konvents sichert. Seine Sitzungen würden demgegenüber nach den Vorstellungen von Mehr Demokratie in allen Teilnehmerstaaten von öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten live übertragen. Seine jeweiligen Arbeitsergebnisse wären im Internet einsehbar. Zugleich bestünde nun auch die Möglichkeit der Anregungen und Eingaben aus der Bevölkerung. Einzelne Bürgerinnen und Bürger, zivilgesellschaftliche Gruppierungen und Organisationen könnten beim Konvent jederzeit Vorschläge einreichen, sofern sie von mindestens 100.000 EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern unterstützt würden. Anregungen und Eingaben könnten per Internet gemacht werden. Der Konvent wäre verpflichtet, diese Vorschläge zu diskutieren, könnte aber trotzdem einen endgültigen Entwurf nach seinen Vorstellungen vorlegen.
Eine besonders wichtige Neuerung des Konventsverfahrens bestünde in der Eröffnung von Entscheidungsalternativen und damit eines möglichst unvoreingenommenen Prozesses. Denn bei zentralen, aber zugleich umstrittenen Aspekten des neuen Vertrags könnte der Konvent auch alternative Vorschläge ausarbeiten. Wenn eine qualifizierte Minderheit von mindestens einem Drittel der Konventsmitglieder so eine Alternative unterstützt, müsste diese in den Konventsvorschlag und damit in die Abstimmungsvorlage aufgenommen werden, und die Bürger könnten dann zwischen den verschiedenen Varianten wählen. Daraus könnte so ein einheitlicher europäischer Vertrag resultieren – aber auch ein Europa der Regionen und unterschiedlichen Geschwindigkeiten, bei dem sich die Bevölkerung jedes Mitgliedstaates für die Integrationsstufe entscheidet, die sie für angemessen hält. Wichtig ist, dass die wesentlichen Richtungsentscheidungen darüber, wie es in Europa weiter gehen soll, erst per Referendum in jedem Mitgliedstaat getroffen werden.
Um Ihre Konventsvorstellungen durchzusetzen, müsste man, wenn man dies auf europarechtlichem Boden erreichen wollte, zunächst einmal Art. 48 EU selbst ändern, und das ginge, weil es sich um eine sehr grundlegende Vertragsänderung handelte, nur mittels der in ebendiesem Artikel enthaltenen Personen und Prozeduren. Ist damit Ihr Projekt eines Europäischen Konvents nicht zum Scheitern verurteilt?
Ja, in der Tat, das ist eines der zentralen Probleme bei allen Veränderungen, die die Spielregeln des Machterwerbs und -erhalts betreffen. Wenn es keine Revolutionen gibt, müssen die Sklavenhalter den Sklaven ihre Freiheit geben, müssen die Männer den Frauen das Wahlrecht zugestehen, müssen die Mächtigen Macht abgeben und somit über Ihre eigenen egoistischen Motive hinauswachsen. Menschen sind zur Transzendenz in der Lage. Menschen können gemeinwohlorientiert entscheiden. Am schönsten ist es, wenn sie dies aus freiem Willen und Einsicht tun.
Mit den alten Ideen und Konzepten wird keine Krise zu bewältigen und keine EU der Zukunft zu bauen sein. Die Rückverlagerung aller Kompetenzen auf die Nationalstaaten scheint wenig sinnvoll. Bestimmte Problemstellungen verlangen nach enger internationaler Zusammenarbeit, wie zum Beispiel die Themen Menschenrechte, Frieden, soziale und ökologische Mindeststandards oder Verkehr. Alle weiteren politischen Felder müssen nicht, können aber gemeinsam gestaltet werden, wenn die Bürgerinnen und Bürger dies wünschen.
Ein demokratischer Konvent ist nur eine Idee, um die schwierige Aufgabe der Demokratisierung der EU zu bewältigen. Wenn es zu einem Konventsverfahren kommt, muss gewährleistet sein, dass es sich um mehr als eine Schein-Beteiligungs-Veranstaltung handelt, nach der eine Verfassung bzw. neue EU-Verträge letztlich zur Ratifizierung durch die Parlamente gedrückt werden.
Die große Chance eines fair gestalteten Konventsverfahrens liegt auf der Hand: Indem wir die Weisheit und die Kreativität der Vielen nutzen, indem wir das Beste in den handelnden Menschen ansprechen, durch konsequent demokratische Verfahren, werden wir bei der Weiterentwicklung einer transnationalen Demokratie, wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hat, wirklich vorankommen.