28.06.2017

Weniger ist weniger

Kommentar von Christoph Lövenich

Titelbild

Foto: Health Gauge via Flickr / CC BY 2.0

Mit einer Nationalen Reduktionsstrategie sollen die Deutschen dazu gebracht werden, weniger Salz, Zucker und Fett zu essen. Hinter ihrem Rücken wird der Geschmack von Nahrungsmitteln eingeschränkt.

Eine „Nationale Reduktionsstrategie für Salz, Zucker und Fett“ müsse her, forderten die Koalitionsfraktionen im Bundestag schon vor Jahren. Verbraucherpolitiker wie die SPD-Abgeordnete Elvira Drobinski-Weiß haben Druck gemacht, und nun legt das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) einen Plan vor. Man spricht jetzt von einer „Reformulierungsstrategie“, was sich auf geänderte Rezepturen von Fertiggerichten bezieht. Reformulierter Titel – Ziel bleibt aber weiterhin die „Reduktion“ der genannten Bestandteile.

Denn: Die Deutschen sollen gefälligst weniger Zucker, Fett und Salz zu sich nehmen. Politiker gönnen sich Diäten, wollen aber den Bürger auf Diät setzen. Moment mal: Bestimmen in einer Demokratie die Bürger über den Staat oder umgekehrt der Staat über die Bürger, ihre Lebensgewohnheiten und Mahlzeiten? Im Rahmen eines „ganzheitlichen ernährungsbezogenen Ansatzes für einen nachhaltig gesundheitsförderlichen Lebensstil“ (zu solchen Künast-Phrasen führt die Schwemme halbgebildeter Akademiker) sei weniger besser.

Dabei ist weder nachgewiesen, dass Zucker krank macht, noch dass eine niedrigere Salzzufuhr ohne weiteres der Gesundheit nützt. Auch das Fett taugt nicht als bequemer Buhmann. Aber wen stören schon Fakten? Die kann man gleich mit verbieten. „Dass Traubenzucker positive Effekte für den Energiestoffwechsel hat, stimmt zwar – diese Tatsache darf aber laut EuGH auf der Verpackung von Glucosetäfelchen trotzdem nicht erwähnt werden“. Denn für die Europäische Union ist Zucker böse und deshalb darf der Verbraucher „nicht durch Hinweise“ anderslautender Art „verwirrt werden“. Man darf ja auch Bio-Tabak so nicht nennen. Und die Welt wird angenehm übersichtlich, wenn andere Botschaften als die der EU nicht mehr einfach so unter die Leute gebracht werden dürfen.

„Nicht was dem Bürger, sondern was dem Staat schmeckt, soll Leitlinie sein.“

Die „Reformulierung“ der Nahrungsmittel-Rezepturen soll zwischen der Ministerialbürokratie und ihrem Umfeld einerseits und der Lebensmittelwirtschaft andererseits ausgehandelt werden, ähnlich wie schon bei einer Transfettreduzierung. Hier soll also ein Prozess hinter verschlossenen Türen ablaufen, ohne parlamentarische Beteiligung und so, dass es die Hauptbetroffenen, die Lebensmittel kaufenden und konsumierenden Bürger, nicht direkt erfahren. Fürchtet man eine öffentliche Debatte? Das BMEL will mit diesen Maßnahmen ausdrücklich „solche Bevölkerungsgruppen“ treffen, „die mit Informationen oder Aufklärung nicht oder schlecht erreicht werden.“ Wer nicht (auf Ernährungspredigten) hören will, muss eben fühlen (im Mund, wenn die veränderten Lebensmittel vordringen).

Nicht was dem Bürger, sondern was dem Staat schmeckt, soll Leitlinie sein. Teile der Industrie springen begeistert auf diesen Zug auf. Der Nestlé-Konzern möchte mit seinen Rezepturen gerne dem gesunden Staatsempfinden huldigen, und die LIDL-Supermärkte (Schwarz-Gruppe) unterwerfen sich ebenso bereitwillig: „Mit unserer Reduktionsstrategie für Zucker-, Salz- und Fettgehalte in Lebensmitteln entsprechen wir dem politischen Willen der Bundesregierung.“ Von den Kunden keine Rede, denen kommt nur die Rolle der Schachfiguren zu. So höhlt man die Marktwirtschaft immer weiter aus, wenn nämlich nicht die (Massen)Nachfrage, sondern kleine staatliche und staatsnahe Zirkel das Angebot bestimmen.

LIDL will z.B. den Zuckerzusatz für Fruchtjoghurts verringern, was zu Lasten des Geschmacks gehen kann. Cleverer: „Bei Schokoriegeln verringern wir die Größe eines Riegels. Damit erreichen wir, dass der Konsument beim Essen eines Riegels eine geringere Menge an Zucker zu sich nimmt.“ So kann man Preiserhöhungen geschickt tarnen. Bis zum Jahr 2025 soll ein Fünftel an Salz und Zucker eingespart sein. An dieser Stelle eine kleine Warnung an die Regulierungsfreunde auf der Anbieterseite: Wenn man irgendwelche Reduktionsziele – und seien so noch so fragwürdig – erreicht, steht zu erwarten, dass die deren Befürworter einfach die nächste Runde fordern werden. Es entsteht eine Abwärtsspirale des Weniger. Und mit Softwaretricks – siehe VW – wird man sich beim Essen nicht aus der Affäre ziehen können, um dem Reguliererwillen zu entsprechen.

„Zum Einheitsbrötchen passen ein Nestlé-Einheitsaufstrich aus dem LIDL und am besten noch der Einheitsmensch.“

Aber nicht alle geben sich folgsam. Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL), einer Branchenorganisation, kritisiert BMEL-Chef Christian Schmidt (CSU) hörbar: „Die Pläne des Ministers bedeuten das Aus für traditionelle ‚Berliner‘ zu Karneval oder die Salzbrezel im Biergarten“. Und die Bäcker, deren Brot an Salz einbüßen soll, finden – so der Zentralverband ihrer Innungen – die Reduktionstrategie „noch schlimmer als beim Veggie-Day. Die Konsequenz wäre ein geschmackneutrales Einheitsbrot und der Verlust von Vielfalt und Abwechslung.“ Zum Einheitsbrötchen passen ein Nestlé-Einheitsaufstrich aus dem LIDL und am besten noch der Einheitsmensch.

Der BLL weist zurecht darauf hin, dass bereits jetzt genügend Produkte mit unterschiedlichen Gehalten entsprechender Stoffe angeboten werden. Er weist auf die Rolle der Geschmacksträger hin sowie die Funktionen, dass Zucker, Salz und Fett in Lebensmitteln sonst noch erfüllen können: natürliche Konservierung, die Beeinflussung der Konsistenz, Struktur und Textur, Vitaminaufnahme oder Hemmung von Mikroorganismen. Auch sollte der Genuss nicht zu kurz kommen.

Genuss aber wird gerne als Sucht diffamiert. So hat 3sat erst kürzlich noch eine ORF-Sendung ausgestrahlt, in der eine Wiener Ärztin richtig vom Leder ziehen durfte: Zuckerkonsum sei „eine ganz, ganz gefährliche Sucht, ganz ganz gefährlich, […] im Grunde genommen nichts anderes als Heroin und Kokain.“ Ein gleichermaßen sehr gezielter wie sehr abwegiger Vergleich, teilweise darauf basierend, dass Laborratten lieber Zucker als Kokain verspeisten – wer wollte es ihnen verdenken.

„Höchste Zeit, den paternalistischen Frontalangriff auf die Geschmacksnerven zu stoppen.“

Rationale Erwägungen halten die gut geölte Maschinerie aus nationaler Gesundheits- und Verbraucherpolitik, einschlägigen Lobbygruppen, EU und WHO – alles Paten des Reduktionsansatzes – nicht auf. Diese Woche findet in Berlin unter dem Titel „Süß war gestern“ der „1. Deutscher Zuckerreduktionsgipfel“ des AOK-Bundesverbandes statt, wo nur über das Wie diskutiert werden soll, selbstverständlich nicht über das Ob und den Sinn. Als Redner darf z.B. der Hamburger Ökonom Tobias Effertz nicht fehlen, auch als Bekämpfer von Alkohol und Tabak gefragt und an seiner „wissenschaftlichen“ Publikationsliste als Missionar erkennbar. Moderatorin: Die Journalistin Tanja Busse („Ich war sehr verliebt, doch leider rauchte er, aß Fleisch und kaufte Wasser in Plastikflaschen“).

Wenn sich der Reduktions- und Reformulierungswahn durchsetzt, bekommen wir schlechtere Nahrungsmittel – in Geschmack und Zusammensetzung. Als Vorbild dient dabei die Regulierung des Lebens- und Genussmittels Tabak, wo seit letztem Jahr EU-weit ein weitgehendes Aromaverbot herrscht (Tabakproduktrichtlinie 2). Höchste Zeit, den paternalistischen Frontalangriff auf die Geschmacksnerven zu stoppen. Und die Propheten des Weniger – weniger essen, weniger Alkohol, weniger Autos, weniger Energieverbrauch, … – in ihre Schranken zu weisen. Was er in den Mund nimmt, muss der mündige Bürger selbst entscheiden können, schließlich ist er kein Mündel.

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