23.05.2016

Gesetzlicher Einheitsbrei

Analyse von Detlef Brendel

Titelbild

Foto: Alpha (CC BY-SA 2.0 / bearbeitet)

Der Nestlé-Konzern folgt wissenschaftlich fragwürdigen Trends zur „gesunden“ Ernährung und fordert EU-Politiker auf, diese in Vorschriften zu verankern. Das brächte mehr Bevormundung beim Essen.

Aus der Schweiz soll jetzt die Initiative zur Rettung der Menschheit kommen. Wie das gehen soll, präsentiert Nestlé in einem „sponsored content“ unter der Überschrift „Wanted: EU policy for better Innovation in Nutrition“ im Parlamentarier-Magazin Politico am 18. Februar 2016. Luis Cantarell, bei Nestlé verantwortlich für Europa, den Mittleren Osten und Nord-Afrika, will suggerieren, dass die Rezepturen von Nestlé in der Lebensmittelwirtschaft das alleinige Beispiel für gesunde Ernährung sind.

Die angeblich gesunde Nestlé-Strategie begründet er mit der deutlichen Reduzierung von gesättigten Fetten, Zucker und Salz in den Produkten des Unternehmens. Diese Nestlé-Rezepte sollen zur Messlatte der Ernährung werden. Die Politik solle, so Cantarell, mit Leitlinien und Verordnungen dafür sorgen, dass auch die Wettbewerber zu einem mit den Nestlé-Vorstellungen konformen Verhalten gezwungen werden. Außerdem sollen von Lehrern über Ernährungsberater bis zu NGOs alle helfen, die Wünsche und das Verhalten der Verbraucher so zu modifizieren, dass den Menschen schmeckt, was Nestlé als vermeintlich gesund auf den Tisch bringt. So dreist und offensichtlich wird selten versucht, die Politik zu instrumentalisieren.

Essen ist ein Risikosport geworden, dem sich alle Menschen täglich notgedrungen hingeben müssen. Statt Genuss beherrschen Unsicherheiten, Angst und das schlechte Gewissen die Nahrungsaufnahme. Oft stellt sich schon nach der morgendlichen Zeitungslektüre ein frustriertes Gefühl der Sättigung ein. Tägliche Warnungen, Empfehlungen und Angriffe auf die angeblich krank machende Ernährung verderben den Appetit. Der Nährstoff wird zum Feind.

Ernährungsforschung

Die Basis dieser angeblichen Ernährungsaufklärung ist ein sehr dünnes Eis. Gesichertes Wissen, wie es die evidenzbasierte Medizin fordert, ist selten. Meinungen, Glaubensbekenntnisse, missionarischer Eifer und auch massive Geschäftsinteressen prägen das Bild der aktuellen Ernährungsdiskussion. Schon die Vorstellung, dass es gesunde oder krank machende Nährstoffe oder Lebensmittel gibt, ist ein fundamentaler Irrtum. Was der Mensch an zivilisatorischen Lebensbedingungen auszuhalten hat, ist nicht durch sorgfältig geplante und angeblich wissenschaftlich abgesicherte Mahlzeiten zu kompensieren.

„Ernährungs-Leitlinien sind nicht evidenzbasiert, sondern oft eminenzbasiert“

Vor dem als dramatisch dargestellten Hintergrund des Konsums von Fett, Zucker, Salz, Weizen, Eiern und anderen uns nach Gesundheit und Leben trachtenden „Drogen“ und „Giften“ werden die Menschen sogar zunehmend älter. Und sie bilden dabei Beschwerden und Krankheiten heraus, die nicht einzelnen Nahrungsmitteln anzulasten sind, sondern vor allem der Tatsache, dass sie so lange leben, also „alt“ werden. Viele Krankheiten, bei denen heute eine statistische Zunahme als vermeintlich dramatische Entwicklung bezeichnet wird, konnten die Menschen früher gar nicht erst bekommen. Sie waren schlicht nicht mehr unter den Lebenden, um an solchen altersbedingten Leiden zu erkranken.

Kein ehrlicher Ernährungsforscher würde die kühne Behauptung aufstellen, wissenschaftlich fundierte Kausalitäten, also Ursache-Wirkungs-Beziehungen, zu gesunden oder ungesunden Nahrungsmitteln liefern zu können. Als Basis für Empfehlungen werden vielmehr statistische Korrelationen genutzt, um Hypothesen zu legitimieren. Ernährungs-Leitlinien sind nicht evidenzbasiert, sondern oft eminenzbasiert. Die im Frühjahr 2015 zurückgenommene Cholesterin-Warnung, bei der man nach 35 Jahren Konsens zugeben musste, dass es dafür nie eine wissenschaftliche Grundlage gegeben hat, ist nur ein Beispiel. Seitdem sind gesundheitsschädliche Eier wieder ein wertvolles Nahrungsmittel.

Ernährungspolitik

Nun wollen Luis Cantarell und sein Unternehmen wissen, was gesund ist. Die Antwort fällt ihnen leicht: das, was Nestlé mit seinen Rezepturen vorgibt. Die Wissenschaft kann dazu keine validen Grundlagen liefern. Aber es gibt Nahrungsbausteine, die als attraktive Argumente erscheinen und die man zur Profilierung nutzt. Fett, Zucker und Salz, auch wenn sie zum guten Geschmack beitragen und traditionell wertvolle Bestandteile der Nahrungsmittel sind, eignen sich als Feindbilder. Das sollte weder als Klugheit noch als Verantwortung im Interesse des Verbrauchers fehlinterpretiert werden. Nestlé ist nicht klüger als die Wissenschaft. Das Unternehmen setzt vielmehr auf Trends, für die es keine Beweise gibt, die allerdings strategisch als aussichtsreich gewertet werden. Den Verbrauchern und auch der Politik soll vorgegaukelt werden, dass Nestlé durch neue Rezepturen weltweit die Gesundheit retten möchte. Diese Konzernstrategie will man durch Reglementierung der Wettbewerber absichern.

Seine Forderung an die Politik begründet der Nestlé-Manager in dem Beitrag für Politico tatsächlich damit, dass den Verbrauchern die modifizierten Nestlé-Produkte nicht mehr schmecken könnten und sie deshalb auf Alternativen ausweichen. Zitat: „Wir stoßen an die Grenzen dessen, was wir allein erreichen können. Verbraucher akzeptieren beim Geschmack eines Produkts keine großen Veränderungen und schauen sich dann nach Alternativen um oder fügen selbst Zucker oder Salz hinzu.“ Die Argumentation ist von entwaffnender Offenheit. Den unerwünschten Wettbewerb im reichhaltigen Nahrungsmittel-Angebot soll die Politik durch Reglementierung unterbinden, um für die Schweizer Ernährungsstrategen den Markt gefügig zu machen. Wenn das Müsli schon bei Nestlé nicht mehr schmeckt, soll es auch bei den Wettbewerbern nicht schmecken.

„Bürger werden in die Freudlosigkeit hineinreguliert“

Heute stehen Genuss und Lebensfreude im Verdacht, den Menschen in Krankheit und Tod zu treiben und sogar die Existenz unserer Erde insgesamt zu gefährden. Der Luxus der Verfügbarkeit genussvoller Nahrungsmittel provoziert den Luxus, Mäßigung zu predigen. Enthaltsamkeit soll der wahre Genuss sein. Und diese Einstellung soll den braven Bürgern als Ausdruck sozialer Korrektheit eingebläut werden. Sie werden in die Freudlosigkeit hineinreguliert, weil die Vorschriften, Verbote und Empfehlungen das als verwerflich definieren, was Genuss, Freude und Vergnügen ausmachen kann. Der Kontrollwahn beherrscht zunehmend die Menschheit.

In den oft auf der Seite des ideologischen Verbraucherschutzes stehenden Medien wird ebenfalls gerne die Frage gestellt, ob wir im Kampf gegen Übergewicht und Wohlstandskrankheiten nicht endlich neue Gesetze brauchen. Es wird in dem Zusammenhang oft kritisch konstatiert, dass Zucker, das „leckere Gift“, Glücksgefühle auslöst. Nur: Warum sollten die Menschen nicht ein Recht auf Glücksgefühle haben? Von Werbeverboten bis zu Strafsteuern für wohlschmeckende und glücklich machende Produkte wird die ganze Palette regulierender Eingriffe des Staats gefordert, um den Verbraucher vor sich selbst zu schützen. Der Diskussion fehlt jede Sachlichkeit. Ideologie lebt von Überzeugungen, nicht von sachlichen Grundlagen.

Die für Nahrungsmittel immer wieder thematisierte Ampelkennzeichnung ist ein die Verbraucher gängelndes Projekt, das erwiesenermaßen keinerlei Nutzen für den Konsumenten hat. Es wird behauptet, die Ampel werde einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung von Übergewicht leisten. Übergewicht beruht jedoch maßgeblich auf genetischer Disposition, mangelnder Bewegung sowie sozialen und psychologischen Hintergründen. Die Rolle der Energiebilanz bei der Ernährung ist von entscheidender Bedeutung. Deshalb sind sich die Experten einig, dass eine Ampelkennzeichnung keinen Menschen schlanker oder gesünder machen wird. Sie wird nichts Positives bewirken.

„Wählen darf der Bürger, zum Einkaufen ist er zu blöd“

Bei der Ampel geht es um eine politische und ideologische Abwertung von Lebensmitteln durch den alles regulierenden „Big Brother“. Dem Verbraucher wird suggeriert, er könne sich ohne weiteres Nachdenken gesund ernähren, wenn er nur möglichst viele Produkte mit grünen Ampelpunkten wählt. Ein Mensch, der täglich große Mengen von grün gekennzeichneten Nahrungsmitteln verschlingt und sich dabei nicht bewegt, wird satt auf dem Sofa sitzend zunehmen.

Es gibt leider die Mentalität, die persönliche Verantwortung für die eigene Gesundheit am besten dem Staat zu übertragen und damit einen Teil der Freiheit aufzugeben. Parallel gibt es in der Politik die Lust an der Regulierung. Wählen darf der Bürger, zum Einkaufen ist er zu blöd. Wenn sich dann durch die Ernährung sogar noch Strafsteuern generieren lassen, ist das eine zusätzliche Verlockung.

Vorurteile vs. Fakten

Bleiben wir beim Beispiel Zucker, von dem Nestlé im Jahr 2015 rund 2600 Tonnen weniger verwendet haben will. Es lässt sich so schön schlicht argumentieren, dass die Kalorien des Zuckers dick machen. Warum es gerade diese Kalorien sein sollen und nicht die aus anderen Lebensmitteln, erschließt sich der Logik nicht. Und sehr eingängig ist auch die Formel, dass Zucker zur Zuckerkrankheit führen soll. Das trifft so wenig zu, wie Wandern eine Wanderniere erzeugt. Wissenschaftlich fundierte Belege für die Angriffe auf den Zucker gibt es nicht. Aber mit dem Zucker lässt sich die Ernährungswirtschaft so gut attackieren.

Schon die Logik sagt uns, dass Zucker für die Zunahme von Übergewicht nicht verantwortlich sein kann. Von 1970 bis heute liegt der Pro-Kopf-Absatz von Zucker konstant bei rund 35 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Der tatsächliche Zuckerverzehr liegt sogar noch darunter. Nach der nationalen Verzehrsstudie pendelt er zwischen 18 und 20 kg pro Kopf und Jahr. Ein seit Jahrzehnten konstanter Zuckerverzehr kann nach den Gesetzen der Logik kaum für die zunehmende Herausbildung von Übergewicht während dieser Zeit wohl verantwortlich sein. Was sich während dieser 30 Jahre signifikant verändert hat, ist die Lebensweise. Wir sind kontinuierlich bewegungsärmer geworden.

„Trends und Ängste sind leider oft Impulsgeber für die Politik“

Übrigens ist aktuell eine Studie aus Dänemark publiziert worden, nach der Übergewichtige eine längere Lebenserwartung haben als Normalgewichtige. Allein diese Studie zeigt, wie weit entfernt Nestlé bei seinen politischen Forderungen von gesicherten Erkenntnissen ist. Wenn die Wissenschaft nicht helfen kann, müssen populäre Trends oder durch unsachliche Berichterstattung geschaffene Ängste ausreichen. Solche Trends und Ängste sind leider oft auch Impulsgeber für die Politik. Wenn Politiker sich an solchen Trends und laut kommunizierten Meinungen festhalten, ist das wie bei einem Betrunkenen an der Laterne. Auch er sucht keine Erleuchtung, sondern Halt.

Durch Konsumentenerziehung und Bevormundung der Verbraucher eine Ernährungsweise durchsetzen zu wollen, für die es keine wissenschaftliche Begründung gibt, ist unerträglich. Ebenso unerträglich sind trendorientierte Konzernüberlegungen, die gesamten Wettbewerber als Produzenten angeblich weniger gesunder Produkte zu diskriminieren, die der politischen Regulierung und damit der Beschneidung ihrer unternehmerischen Freiheiten bedürfen.

Von der EU, so Cantarell in seinen erkenntnisreichen Überlegungen, soll die Initiative für eine globale Ernährungsrevolution ausgehen. Damit gehört er im Hinblick auf den Stand der ernährungswissenschaftlichen Forschung zu den Ahnungslosen. Eine Erkenntnis hat die Ernährungswissenschaft nämlich inzwischen mehrfach bestätigt. Menschen reagieren auf Ernährung ausgesprochen individuell. je nach Kulturkreis, Land und Lebensstil gibt es völlig unterschiedliche Wege und Traditionen, gesundheitsbewusst zu leben. Bei dieser weltweiten Individualität und der Vielfalt der Lebensmittelwirtschaft kann offenbar wirklich nur eine Lex Nestlé helfen, also Regelungen und Steuern für einen politisch sanktionierten Einheitsbrei.

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