03.04.2013

Wo bleiben die Daten?

Analyse von Uwe Knop

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung versorgt die Bevölkerung seit Jahrzehnten mit Empfehlungen für gesunde Ernährung – ohne dafür Beweise zu liefern. Überschätzt sie bewusst ihre Datenbasis und wieso lässt sich Ministerin Aigner dafür einspannen?

Jeder kennt die Ernährungskreise oder -pyramiden [1] der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), mit denen sie bereits seit Jahrzehnten der deutschen Bevölkerung Empfehlungen für gesunde Ernährung erteilt. Dabei sind für den überwiegend aus Steuermitteln finanzierten gemeinnützigen Verein Beobachtungsstudien eine „wichtige Grundlage für die Ableitung evidenzbasierter Empfehlungen für die Bevölkerung“ zur „Prävention ernährungsmittbedingter Krankheiten“ [2]. Doch damit widerspricht die DGE „ehernen Forschungsgesetzen“, wonach sich aus Ernährungsbeobachtungsstudien (epidemiologische Studien) keine Beweise für Ursache und Wirkung ableiten lassen, sondern ausschließlich statistische Zusammenhänge, die immer nur Vermutungen zulassen. Oder in den Worten der Vorsitzenden des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) Gabriele Meyer: „Beobachtungsstudien sind nicht geeignet, präventive oder therapeutische Empfehlungen abzuleiten“.

Ernährungsforscher als „Korrelations-Kannibalen“

„Zu jeder Studie findet sich alsbald die Gegenstudie“, sinnierte bereits 2008 Ökotrophologe Hans-Konrad Bielsalski. [3] Und dieses „korrelative Kannibalengesetz“ gilt bis heute; ein populäres Beispiel: Mal „schützt“ Obst und Gemüseverzehr vor Krebs (rein statistisch, versteht sich), dann wieder findet sich kein nennenswerter krebsprotektiver Zusammenhang – wie in den letzten Jahren gleich doppelt vom aktuellen „Ernährungs-Beobachtungs-Flagschiff“ EPIC festgestellt: So hat es Heiner Boeing vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) 2007 „schon sehr überrascht, dass sich mit einem hohen Obst- und Gemüsekonsum das Krebsrisiko nicht reduzieren lässt.“ Und 2010 „hat sich die Erwartung, dass der häufige Verzehr von Obst und Gemüse Krebs­erkrankungen verbeugen kann, als zu optimistisch erwiesen“. [4]

Ein anderes Beispiel zeigt die unterschiedliche Bewertung von Ernährungsstudien durch Fachorganisationen: So wird von der DGE „aufgrund der vorliegenden Daten die Evidenz für einen blutdrucksenkenden Effekt einer Erhöhung des Gemüse- und Obstverzehrs als überzeugend eingestuft“. [5] Kern der DGE-Bewertung sind insbesondere auch Studien zur Blutdruck-Diät namens „DASH“. Das IQWiG, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, veröffentlichte jedoch einige Monate vorher folgendes Fazit: „Es liegen keine Studien vor, die ausreichend Daten liefern für eine Nutzenbewertung einer Ernährungsumstellung auf die spezielle Ernährungsform ‚DASH-Diät‘ bei Patienten mit essenzieller Hypertonie … Es liegt somit insgesamt kein Beleg für und kein Hinweis auf einen patientenrelevanten Nutzen bzw. Schaden durch eine Umstellung der Ernährung auf die spezielle Ernährungsform ‚DASH-Diät‘ vor“. [6] Wer hat nun Recht? Ernährungsforschung ist und bleibt mehr eine Glaubens- denn Wissensfrage. Doch ist das auch den Ernährungskampagnen finanzierenden Politikern bekannt?

Ist Ilse Aigner über Beobachtungsstudien aufgeklärt?

Wenn beispielsweise die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ilse Aigner (CSU) wüsste, dass beobachtende Ernährungsforschung einem Rätselraten auf wissenschaftlich niedrigem Niveau gleicht, würde sie hoffentlich kritisch hinterfragen, ob sie ihre ernährungspolitischen Maßnahmen weiterhin auf DGE-Empfehlungen stützt. [7] Aigner und ihre Politakteure sollten daher den Dialog mit Studienexperten außerhalb des „Ernährungs-Elfenbeinturms“ suchen; neben Gabriele Meyer vom DNEbM beispielsweise auch mit Gerd Antes – denn auch Antes, Direktor des Deutschen Cochrane-Zentrums in Freiburg, das die Qualität wissenschaftlicher Untersuchungen bewertet, hat bereits mehrfach erklärt, dass Ernährungsforschung keine Beweise liefern kann. [8] Für Antes sind „die Ernährungswissenschaften in einer bemitleidenswerten Lage“, denn deren Beobachtungsstudien sind methodisch unzuverlässig. „Studien in diesem Bereich sind von vielen unbekannten oder kaum messbaren Einflüssen abhängig“, erklärt Antes. „Beobachtungsstudien sind anfällig für viele Störgrößen, sodass am Ende keine wissenschaftlich vertretbare Erklärung für die beobachteten Zusammenhänge möglich ist“, ergänzt Meyer. So ging es beispielsweise in jüngeren Studien um die Wurst als Diabetesverursacher – aber letztlich kann niemand erklären, worauf der statistische Zusammenhang „Wurstesser haben ein erhöhtes Diabetesrisiko“ basiert. Eine öffentliche „Abrechnung“ mit diesem „massiv überschätzten“ Studientyp wurde bereits im Juli 2012 von Klaus Koch, Ressortleiter Gesundheitsinformation beim IQWiG, publiziert [9]: „Epidemiologische Studien können normalerweise keine Beweise liefern. Punkt.“ Sie liefern nur Vermutungen, die „nie geprüft werden“. Koch stellt klar, dass es hier immer nur um eine „Beobachtung geht, von der niemand sicher weiß, ob das eine wirklich die Ursache des anderen ist“ – oder nur um eine Korrelation, also ein zufälliges Zusammentreffen zweier Faktoren. Aus diesen statistischen Zusammenhängen, die letztlich keine Bedeutung haben, evidenzbasierte Empfehlungen abzuleiten, das ist äußerst fragwürdig.

Unmoral und Unethik: Basis für Ernährungsempfehlungen?

In der Medizin würde man dieses Vorgehen als unmoralisch und unwissenschaftlich bezeichnen, aber in der Ernährung soll das die Basis staatlich finanzierter Volksaufklärung sein? Interessant ist in diesem Zusammenhang das Argument der DGE, warum keine Interventionsstudien, wie sie in der Medizin angewandt werden, durchgeführt werden. Diese Studien „haben zwar eine unbestreitbar hohe methodische Qualität, sind aber z.B. aus ethischen Gründen in der Ernährungsforschung nicht für alle Fragestellungen denkbar.“ Eine wohlgemerkt recht paradoxe Argumentation, denn die ethischen Bedenken gelten genauso für die DGE-Ernährungsempfehlungen, die aufgrund der Beobachtungs-Datenbasis unzureichend evidenzbasiert sind: Denn „das ist ebenfalls unethisch und ein unkontrolliertes Experiment“, erklärt Meyer.

Therapie und Vorbeugung: Was zählt?

Sowohl in der Therapie als auch in der Vorbeugung von Erkrankungen (Präventivmedizin) sind wissenschaftliche Beweise essenziell: „Für alle Maßnahmen oder Empfehlungen muss aus ethischen Gründen belegt sein, dass die Wahrscheinlichkeit des Nutzens größer ist als die des Schadens“, erläutert Peter P. Nawroth, Direktor Innere Medizin und klinische Chemie am Universitätsklinikum Heidelberg, „Beobachtungsstudien können das nicht, denn sie liefern keine Belege, sondern nur Hypothesen, nicht mehr.“ Für Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund, sind die zahlreichen Erkenntnisse aus Beobachtungsstudien „mit großer Wahrscheinlichkeit gar nur Artefakte einer schlampig ausgewerteten Statistik“. [10] Da nutzt auch ein häufiges Instrument der „Datenbereinigung“ nichts: das Herausrechnen möglicher Störfaktoren („Confounders“), um die statistische Beziehung eines einzelnen Faktors als „Ursache der Wirkung“ zu isolieren. So werden beispielsweise die Lebensstilfaktoren der Probanden um Alkoholkonsum, Sport, Gewicht und Rauchen „bereinigt“, damit die Forscher den Zusammenhang zwischen „Gemüsekonsum & Lebenserwartung“ isolieren können. Das Ziel dieser „Datenwäsche“ sind klarere Aussagen, dass „die bereinigten Faktoren keine Rolle mehr beim Studienergebnis spielen“, sondern nur noch der Gemüsekonsum als Ursache in Frage kommt. Diese statistischen Rechenspiele schärfen zwar eine Korrelation (Zusammenhang), liefern aber trotzdem niemals eine Kausalität (Beweis). „Sie können genauso gut die Daten von Beobachtungsstudien derart bereinigen, dass Sie einen klaren Zusammenhang zwischen der Strumpffarbe und der Lebensdauer herausrechnen – das macht diese Korrelation jedoch genauso wenig glaubhaft und bedeutsam wie der gleiche Bezug zwischen Gemüsekonsum und Lebenslänge“, erklärt Statistikexperte Krämer. Denn angesichts des hohen Komplexitätsgrads und damit der unendlich vielfältigen Faktoren, die ein Menschenleben beeinflussen, können Ernährungsepidemiologen letztlich nie genug Variablen berücksichtigen.

Außer Hypothesen nichts gewesen?

Über die Gründe der DGE für ihre Fehleinschätzung der ernährungswissenschaftlichen Datengrundlage lässt sich trefflich spekulieren: Beobachtungsstudien bilden die Existenzberechtigung für Ernährungsinstitutionen wie eben die DGE, denn sie liefern das Datenfundament für Ernährungsregeln und -kampagnen. Ergo: Vielleicht möchten die DGE-Funktionäre mit ihrer fragwürdigen Fehlinterpretation die öffentliche Meinung zu Beobachtungsstudien aufwerten, damit niemand die Empfehlungen der DGE ernsthaft anzweifelt. Und diese „öffentliche Aufwertung“ basiert gar noch auf einer Doppelmoral der besonderen Art: Denn einerseits lassen Ernährungsbeobachtungsstudien keine evidenzbasierten Empfehlungen zu – und andererseits kannibalisieren sich die Ergebnisse epidemiologischer Studien immer wieder aufs Neue. Hinzu kommt das „schwarze Loch“ der dringend erforderlichen Nutzenbewertung: Wo sind die Belege, die den Nutzen von öffentlichen Ernährungskampagnen, basierend auf DGE-Empfehlungen, für die Bevölkerung nachweisen? Entweder gibt es keine oder die Erkenntnisse waren so ernüchternd, dass man sie in der Schublade hat vergilben lassen.

Ernährungs-Beobachtungsstudien liefern nur Hypothesen, die einerseits spannend klingen, andererseits aber oft überinterpretiert werden – denn häufig wird nicht zwischen Korrelation und Kausalität unterschieden. „Ursache-Wirkungsabhängigkeit (Kausalität) wird dort behauptet, wo ausschließlich Zusammenhänge (Korrelationen) konstatiert werden dürfen, die eben so wenig ursächlich sein müssen oder können wie der Zusammenhang zwischen Storchenflug und Geburtenhäufigkeit“, erklärt Meyer. [11] Daher muss klinische Forschung diese Hypothesen überprüfen, bevor beispielsweise Empfehlungen wie „Fünf mal am Tag Obst und Gemüse zur Gesundheitsförderung essen“ ihre Berechtigung haben. Denn diese Empfehlung kann erst dann erfolgen, wenn klinische Studien ihre „Wirksamkeit“ zweifelsfrei belegen. Derzeit aber ist unklar, ob es tatsächlich positive oder gar negative Effekte, wie beispielsweise Verdauungsstörungen, auf die Gesundheit der Menschen hat, die sich an diese Regel halten. Auch hier gilt also weiterhin und uneingeschränkt das „ökotrophologische Universalcredo“: Nichts Genaues weiß man nicht. Und das wird angesichts der Tatsache, dass keine Ernährungs-RCTs (Randomised Controlled Trials) durchgeführt werden, wohl auch so bleiben. Daran ändert auch die eigensinnige DGE-Interpretation von Beobachtungsstudien nichts.

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