30.03.2012
Fleischesser sterben – Vegetarier auch!
Kommentar von Ulrike Gonder
Vegetarismus ist gerade "mega-in". Damit einher geht ein befremdliches Fleischesser-Bashing – leider auch in der Fachpresse, wie die aktuelle Diskussion über den Verzehr von rotem Fleisch zeigt. Zu Unrecht, findet Ulrike Gonder: Man kann sich mit und ohne Fleisch gesund ernähren
Nein, ich werde mich nicht dazu hinreißen lassen zu argumentieren, der Mensch sei nun mal von seiner Biologie her ein Allesfresser, der sehr gut mit einem hohen Anteil tierischer Kost zurechtkommt. Ich werde auch nicht darauf herumreiten, dass manche Nährstoffe wie etwa das für Blutbildung und Nervenfunktion wichtige Vitamin B12 in nennenswerter Menge ausschließlich in tierischen Lebensmitteln vorkommt. Darum geht es hier nicht. Es geht nicht darum, was belegt ist, was naheliegend, vernünftig oder rein ernährungsphysiologisch erwiesen oder angebracht ist. Es geht darum, wie willfährig Fakten generiert werden und wie damit umgegangen wird. Und das stinkt zum Himmel wie Gammelfleisch!
Panikmache in Sachen (rotes) Fleisch
Beispiel März 2012 – die Szene spielt sich so oder ähnlich immer wieder ab: Da brutzelt angekohltes Fleisch auf dem Grill und die Headline etwa der Süddeutschen Online warnt vor den angeblichen „Folgen der Fleischeslust“ [1], als da wären der vorzeitige Tod durch Infarkt und Krebs. Auch auf Spiegel Online [2] und in vielen internationalen Medien wird gewarnt, „jede zusätzliche Tagesportion Rind, Schwein oder Lamm“ würde „das Risiko eines Herzinfarkts oder einer Krebserkrankung“ steigern. Einer der Autoren der zugrunde liegenden Studie wird gar mit der Aussage zitiert, regelmäßiger Fleischkonsum trage „erheblich zum vorzeitigen Ableben“ bei.
Anlass dieser und ähnlich absurder Meldungen war die Vorabveröffentlichung einer Studie der Harvard Universität im Medizinjournal Archives of Internal Medicine [3]. Die Harvard-Forscher hatten die Daten von rund 120.000 Männern und Frauen aus ihren beiden großen Studien, der „Health Professionals Follow-Up Study“ und der „Nurses Health-Study“, daraufhin analysiert, ob sich ein statistischer Zusammenhang zwischen dem Verzehr von rotem Fleisch und der Gesamtsterblichkeit sowie der Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs fände. Schon das ist keine ganz saubere Wissenschaft, denn man suchte offenbar nicht ergebnisoffen nach Einflüssen der Ernährung, sondern grub in den Datenmassen gezielt nach statistischen Beziehungen zum Konsum von rotem Fleisch.
Von den USA aus wird das rote Fleisch von Rind, Schwein, Schaf und Ziege zunehmend als „ungesund“ gebrandmarkt, während die „weißen“ Sorten wie Fisch und Geflügel als gesund bzw. gesünder gelten. Dass auch diese Einteilung uneindeutig bleibt (was ist z.B. mit Puten, die sich sowohl aus dunklem/rotem als auch hellem/weißen Fleisch zusammensetzen) und dass es keine vernünftige Erklärung für die vorgeblichen unterschiedlichen Wirkungen heller und dunkler Fleischsorten gibt, sei nur am Rande erwähnt.
Zurück zur Harvard-Studie. Man wurde fündig. Nach zahlreichen statistischen Berechnungen lautete das Ergebnis wie folgt: Der Konsum einer zusätzlichen (!) Portion roten Fleisches oder roter Fleischwaren täglich erhöhe das Sterberisiko um 13 bzw. 20 Prozent. Andererseits, so die Schätzungen der Autoren, würde das Sterberisiko um 7 bis 19 Prozent sinken, wenn täglich eine Portion rotes Fleisch oder Fleischwaren durch „gesündere“ Eiweißquellen wie Fisch, Geflügel, Nüsse, Hülsenfrüchte, fettarme Milchprodukte oder Vollkornprodukte ersetzt würde. Würden wir alle nur rund 42 g rotes Fleisch täglich essen, ließen sich über 9 Prozent der Todesfälle bei Männern und knapp 8 Prozent bei den Frauen verhindern.
In einem Kommentar zur Studie [4] durfte dann auch noch der Magerkost-Pabst Dean Ornish schwadronieren, was gut für einen selbst sei, sei auch gut für den Planeten, womit er selbstredend den Verzicht auf rotes Fleisch meint. Da ist sie wieder, diese Attitüde, die so selbstherrlich durchblicken lässt, der Vegetarier, zumal der strenge Veganer sei ein besserer Mensch – politisch, ökologisch, gesundheitlich, moralisch. Was schlicht noch zu beweisen wäre, wie die Ex-Hardcore-Veganerin Lierre Keith in ihrem Buch The Vegetarian Myth (Mythos Vegetarismus) eindrucksvoll und unaufgeregt beschreibt. [5]
In einem Esoterik-Magazin hätte ein Kommentar wie jener von Ornish nicht verwundert – aber in den Archives of Internal Medicine, das ist schon starker Tobak. Man fragt sich, ob jetzt auch die Herausgeber von medizinischen Fachjournalen vor der „heiligen Kuh“ Vegetarismus einknicken. Wo bleibt der Sachversand? Wo die kritischen Nachfragen oder eine vernünftige Einordnung dieser Studie?
Kritische Stimmen waren in keiner der Pressemeldungen zu lesen. Dabei hätte es genügend Ansatzpunkte gegeben, die Studienergebnisse, zumindest jedoch die tendenziöse Art ihrer Darstellung zu hinterfragen. So bloggte die britische Ernährungswissenschaftlerin Zoe Harcombe [6] unter anderen folgende Kritikpunkte:
- Da es sich um eine Beobachtungsstudie handelt, erlauben die Daten zunächst nur Aussagen über statistische Korrelationen. Es ist nicht zulässig, daraus einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang abzuleiten.
- Das absolute Sterberisiko der Teilnehmerinnen und Teilnehmer beider Studien war sehr gering. Pro Jahr starben weniger als 1 Prozent der Probanden. Bei einem derart geringen Risiko ist die aus Harvard gemeldete relative (!) Erhöhung um 13 oder 20 Prozent marginal. Daraus große Headlines zu basteln und den Leuten Angst vorm Fleischessen zu machen, ist nach Harcombes Auffassung „science at it’s worst“ (Wissenschaft der schlimmsten Art).
- Jene Studienteilnehmer, die am meisten Fleisch gegessen hatten, bewegten sich am wenigsten, sie aßen rund doppelt so viele Kalorien wie die Wenigfleischesser, sie rauchten mehr, hatten häufiger hohen Blutdruck und Diabetes, aber geringere Cholesterinwerte. Alle diese Faktoren können das Sterberisiko mehr beeinflusst haben als der Rotfleischverzehr. Und wieso hat man nicht wenigstens die Möglichkeit diskutiert, dass die geringeren Cholesterinwerte ein Problem darstellen?
- Weitere wichtige Einflüsse auf das Krankheits- und Sterberisiko wie etwa der Konsum von Weißbrot (Hamburger, Sandwiches und Hotdogs sind die bevorzugten „Fleischmahlzeiten“ vieler Amerikaner), Softdrinks, Margarine oder Ketchup wurden nicht berücksichtigt. Warum nicht?
Der amerikanische Wissenschaftsjournalist Gary Taubes beschreibt die Studie schlicht als Pseudo-Wissenschaft. [7] Nachdenklich sollte auch folgendes machen: Weil „man“ heute schlicht „weiß“, dass rotes Fleisch ungesund ist, essen besonders gesundheitsbewusste Menschen mehr Geflügel und Fisch. Und sie rauchen weniger, bewegen sich mehr. Genau das zeigte ja auch die Harvard-Studie. Damit ist sie gerade kein Beweis dafür, dass es am roten Fleisch liegt, wenn jemand verfrüht das Zeitliche segnet.
Erwähnt sei noch, dass relative Risikoerhöhungen im Bereich von 10 bis 20 Prozent, wie in dieser Studie publiziert, unter Wissenschaftlern als völlig unerheblich gelten. Sie sind sicher nicht geeignet, daraus Ernährungsempfehlungen abzuleiten. Zudem ist die von den Autoren versprochene Risikosenkung durch Austausch von rotem Fleisch mit Getreide, Nüssen oder Geflügel reine Theorie! Ein Rechenmodell, mehr nicht. Nur eine Interventionsstudie könnte die Frage beantworten, ob dieser Effekt tatsächlich eintritt.
Beim Vergleich der altersstandardisierten Rohdaten der Harvard-Studie fiel übrigens auf, dass das Sterberisiko mit steigendem Fleischverzehr zunächst sinkt. Erst beim zweithöchsten bzw. höchsten Konsum stieg es wieder an. Es könnte also durchaus sein, dass der Konsum von rotem Fleisch, sofern er nicht überdurchschnittlich hoch ist, amerikanische Krankenschwestern und Gesundheitsprofis ein längeres Leben beschert. Ja, das ist Spekulation – ebenso wie die Schlagzeilen, die diese Studie provoziert hat.