16.03.2016

Die Zucker-Lüge

Rezension von Christoph Lövenich

Macht Zucker zuckerkrank, führt er zu Karieskatastrophe und Herztod? Macht er gar süchtiger als Kokain? Mit solchen Vorurteilen räumt ein aktuelles Buch von Detlef Brendel und Sven-David Müller auf.

Jetzt, mitten in der Fastenzeit, sei ein Wort der Warnung vorgebracht: Auch kurze Fastenkuren bringen gesundheitliche Nachteile. Das erfahren wir im Buch „Die Zucker-Lüge“ des Publizisten Detlef Brendel und des Diät-Assistenten Sven-David Müller. Manche Fastengläubige beschränken sich bekanntlich auf einzelne Stoffe, denen sie befristet abhold sein möchten. Das könnte z.B. Süßes sein. Davon würden die Autoren allerdings abraten, schließlich handelt es sich beim Zucker um einen nutzbringenden Stoff, auch wenn ihm zuweilen ein anderer Ruf vorauseilt.

Und mit diesem Ruf, mit Fakten und Vorurteilen beschäftigt sich der Band. Die Unterüberschrift „Wie das Lebensmittelkartell uns einredet, dass Essen krank macht“ klingt zwar ähnlich reißerisch wie manche von Brendel und Müller kritisierte hysterische Einlassung, dürfte aber wohl auf das Verlagsmarketing zurückzuführen sein. Und sie benennt schon ein zentrales Problem. Zucker etwa gilt als „ungesund“ und überhaupt äßen die Deutschen davon zu viel. Ein Mythos übrigens, denn der durchschnittliche Zuckerkonsum hierzulande liegt nicht oberhalb der angestammten Empfehlungen und Referenzwerte, außerdem ist er in den letzten 40 Jahren nicht gestiegen. 1 Ein ‚Zuviel‘ attestieren die Autoren eher dem schlechten Gewissen, das nicht wenige beim Essen befällt, der steigenden Lebenserwartung und Gesundheit zum Trotz.

Übergewicht etwa lässt sich nicht auf – maßvollen ­– Zuckergenuss zurückführen, eher auf genetische Disposition und Stress. Fetthaltiges Essen kann dabei eine Rolle spielen, wobei Brendel und Müller nicht den Fehler begehen, es zum Buhmann zu verklären; den Liebhabern des Deftigen bringt eine fettarme Ernährungsumstellung nämlich statistisch kein längeres und gesünderes Leben. Ein zufriedeneres sicher auch nicht. Light-Produkte sehen sie generell als Irrweg zur Gewichtsreduzierung; diese wird ihrer Ansicht nach am ehesten durch mehr Bewegung erreicht.

„Die WHO hat ihre Konsumempfehlung für Zucker reduziert, ohne wissenschaftliche Grundlage“

Gelegentlich macht man den Zucker zum Übeltäter bei Herz-und Kreislauferkrankungen. Tatsächlich findet sich hierzu keine hinreichende Datenlage, und Beobachtungsstudien können keine Kausalbeweise in Stein meißeln. Einige großangelegte Studien zum Thema finden statistische Korrelationen eher mit fettarmer Milch als mit Zucker oder tierischen Fetten. Mit Diabetes steht Süßes nur insofern in Verbindung, als man von der Zuckerkrankheit spricht.

Immer noch weite Verbreitung findet ein Zusammenhang von Zucker und Karies. In westlichen Ländern lässt sich bei dieser Zahnkrankheit ein erheblicher Rückgang in den letzten Jahrzehnten verzeichnen. Dass die Weltgesundheitsgesundheit (WHO) ihren „Feldzug gegen Zucker“ 2 nicht zuletzt mit Karies begründet, führt daher in die Irre; vielmehr dürfte die mangelnde Zahnpflege in vielen Ländern Afrikas und Asien dessen Ausbreitung begünstigen. Die WHO hat im vergangenen Jahr ihre Konsumempfehlung zum Zucker mengenmäßig deutlich reduziert, ohne dass dies auf einer soliden wissenschaftlichen Grundlage basiert. Beim Thema Übergewicht und Zucker hat die Organisation wichtige Studien nicht berücksichtigt, die ihr nicht den Kram passen. „Die WHO jagt damit Menschen ohne begründende Fakten und wohl auch wider besseres Wissen Angst ein.“ 3

In Ermangelung solcher Gefahren und angesichts seines Nährwertes könnte es ja egal sein, ob Zucker „süchtig“ macht, wie oft behauptet wird. Diese Unterstellung basiert auf Laborexperimenten mit Ratten, wobei sich nicht nur die Übertragbarkeit auf Menschen anzweifeln lässt, sondern auch die Ergebnisse medial manchmal falsch dargestellt werden. So wurde schon insinuiert, Zucker mache ‚abhängiger‘ als Kokain, da Ratten es lieber fräßen. Auch Journalisten sollten wissen, dass der Reiz des Koks nicht im Verspeisen liegt…

Das ändert aber nichts an den gängigen Drogenvergleichen in vielen Massenmedien, an reißerischen Titelstorys in „Spiegel“ und „Stern“ („Die Zucker-Mafia“). Nach Ansicht der Autoren agieren die Medien allzu oft als „Komplizen von Ernährungsdiktatoren, Anti-Zucker-Gurus oder als Opfer der Defizite an sachlicher Information“. 4 „Leser, Zuhörer, Onlinenutzer und Zuschauer […] merken gar nicht, wie sehr sie mit alten, immer gleichen und teils sehr umstrittenen Informationen versorgt werden, und zwar nicht nur in Bezug auf reißerische Themen wie Sucht, Krebs und Herzkrankheiten.“ 5 Dabei spielt die führende Presseagentur dpa eine gewichtige Rolle, deren Meldungen regelmäßige breite, ungeprüfte Verbreitung finden. Brendel und Müller werfen den Medien vor, allzu oft „Nicht-Experten“ 6 bei Ernährungsthemen zu Wort kommen zu lassen, und dabei auch eine „extreme Medizinerhörigkeit“ 7 zu pflegen.

Die „Verunsicherungsindustrie“ 8 zeigt regelmäßig mit dem Finger auf eine Zuckerlobby, übersieht dabei „die umgekehrten Zusammenhänge von Autoren, Verlag, Shops, Teilen der Lebensmittellobby aber gerne“. 9 Der Absatz reißerischer Skandalbücher ist oft mit dem von Diätratgebern, teuren Speziallebensmitteln oder den Interessen der Produzenten anderer Nahrung wirtschaftlich verflochten. Man erhofft sich, durch platte Dämonisierung eigene Absatzvorteile zu erzielen. Dabei kommen auch Prominente als Werbefiguren zum Einsatz. Mangelnde Seriosität am Werke sehen Brendel und Müller beispielsweise bei der sog. Ketogenen Diät, einem Zuckerverzicht, der sogar als krebsheilend beworben wird. Angesichts fehlender Belege für die Wirksamkeit raten sie Medien davon ab, den Keto-Vermarktern – wie bereits geschehen – auf den Leim zu gehen.

„Foodwatch stellt sich unter Missachtung wissenschaftlicher Fakten pauschal gegen die Politik, gegen Lebensmittelproduzenten, aber auch gegen die Verbraucher“

„Die Zucker-Lüge“ bietet zum einen eine Fülle von Informationen rund um den Zucker, was etwa seine Arten, seine Produktion, seine evolutionäre und weltwirtschaftliche Bedeutung angeht, zum anderen bezieht sie meinungsstark Position gegen „radikale Fundamentalisten“, das „Heer der Gesundheitsberater“ und „Ernährungsdogmatiker“ 10, die uns in „eine freudlose Zeit der Selbstbeherrschung und Disziplin“ 11 und eine „Fürsorgediktatur“ 12 führen wollen. Bei der Regulierung des Essensgenusses geht es um Machtausübung, und um „das Training der Einschränkung von Freiheiten“: „Politiker testen, wie belastbar der Bürger ist, und üben mit ihm die Aufgabe von Freiheiten zugunsten eines Systems, das ihm seine Lebensweise vorschreibt.“ 13

Dieses Unmündigkeits-Training erfolgt oftmals unter dem Etikett „Verbraucherschutz“. Der Verbraucher, so die Autoren, „braucht in Wirklichkeit Schutz vor seinen Beschützern“ 15, „die mit Hetzparolen oder obskuren Ernährungstheorien Geld verdienen wollen und die danach trachten, uns jeden Genuss zu verbieten.“ 15 Zu den selbsternannten Beschützern gehört in Deutschland als nicht-staatliche Organisation Foodwatch unter Thilo Bode (einst Greenpeace-Chef, bis er sich als Moralunternehmer selbständig gemacht hat). Brendel und Müller werfen der professionellen Empörungsmaschine Foodwatch vor, sich unter Missachtung wissenschaftlicher Fakten und ohne demokratische Legitimation pauschal gegen die Politik, gegen Lebensmittelproduzenten, aber auch gegen die Verbraucher zu richten.

Solche Organisationen und das zeitgenössische, paternalistische Verständnis von Verbraucherschutz kreieren künstlich eine Vertrauenskrise gegenüber der Nahrung, obwohl die Lebensmittel in Deutschland immer unbedenklicher und transparenter werden. Hierzulande bestehen hohe Standards, von irgendwelchen Komplotten der Lebensmittelindustrie kann keine Rede sein. Die Autoren kritisieren, dass „eine sozial schädliche Industriefeindlichkeit gefördert und eine Bevormundung der Bürger in ihren individuellen Freiheiten angestrebt wird.“ 16

Dirigistische gesetzliche Maßnahmen wie eine höhere Besteuerung vermeintlich „ungesunder“ Lebensmittel und die sog. Ampelkennzeichnung in den Farben Rot-Grün-Gelb lehnen sie nachdrücklich ab. „Eine von staatlichen Stellen definierte Ernährungssünde durch politischen Ablasshandel zu einer Steuersache zu machen“ schreiben sie, „ist grundsätzlich unsozial und zudem menschenverachtend.“ 17 Die Ampel (die in der vorgeschlagenen Form übrigens auch nicht das Plazet der Deutschen Gesellschaft für Ernährung findet) wiederum würde willkürlich Speisen in Kategorien einteilen und dabei Menschen sogar von für sie förderlichen Nahrungsmitteln abhalten. Schlanker oder gar gesünder mache sie niemanden.

Detlef Brendel und Sven-David Müller legen ihre Finger in die richtigen Wunden. Es gelingt ihnen, die Faktenfülle in ihrem Buch um eine breitere gesellschaftliche Perspektive auf den Umgang mit Essen anzureichern. Sie blicken dabei über den Tellerrand des Süßen hinaus, erwecken aber gelegentlich den Eindruck, als sei der Zucker Feindbild Nummer Eins auf der Regulierungsagenda. Salz und Fett stehen dort aber gleichermaßen, siehe etwa die „Nationale Reduktionsstrategie“ der Bundesregierung, die zur Einschränkung des entsprechenden Konsums beitragen soll. 18 So manchem Entscheidungsträger, in Berlin und anderswo, könnte die Lektüre des vorliegenden Buches zu neuen Erkenntnissen verhelfen.

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