29.08.2018

Schluss mit Ernährungsdiktaten

Rezension von Christoph Lövenich

Titelbild

Foto: riteshman via Pixabay / CC0

Übergewicht wird stigmatisiert, Lebensmittel wie Zucker werden dämonisiert und sollen reguliert werden. In seinem neuen Buch „Schluss mit Essverboten“ beleuchtet Detlef Brendel die Hintergründe.

Wir hätten allen Grund zur Freude: Nahrungsmittelknappheit gehört in der westlichen Welt längst der Vergangenheit an, auch Lebensmittelvergiftungen stellen kein großes Problem dar. Die Lebenserwartung ist enorm gestiegen, auch die Auswahl an erschwinglichen Lebensmitteln. Aber: „Der Luxus der Verfügbarkeit genussvoller Nahrungsmittel provoziert den Luxus, Mäßigung zu predigen.“ Ein Luxus auf Kosten anderer, den Detlef Brendel in seinem neuen Buch „Schluss mit Essverboten. Warum Sie sich Ihre Ernährung nicht länger von Pharmalobby & Co diktieren lassen sollten“ beschreibt.

Vorletztes Jahr hat Brendel zusammen mit dem Ernährungsberater Sven-David Müller ein Buch vorgelegt, das sich in diesem Kontext vor allem mit Zucker beschäftigt. Auch im neuen Werk nehmen die weißen Kristalle breiten Raum ein, denn auf das Süße haben es Ernährungsregulierer aktuell besonders abgesehen. Forderungen etwa nach einer Zuckersteuer werden in vielen Ländern, darunter Deutschland, erhoben, verbreitet gilt Zuckerkonsum als problematisch. Dabei steht seine Dämonisierung auf tönernen Füßen: Zucker macht nicht zuckerkrank, das evolutionär bedingte „natürliche Verlangen“ danach ist keine Sucht. Es fehlen auch wissenschaftliche Belege, dass Zuckerkonsum zu Herz-Kreislauf-Krankheiten führt oder Krebspatienten schadet. Dennoch: „Nach Jahren der Indoktrination“ hält man Zucker für schädlich, zugleich kommt er in zahllosen Lebensmitteln vor und schmeckt vielen.

Das macht ihn zum „idealen Hebel für diejenigen, die gegen die heutige Ernährungswirtschaft zu Felde ziehen.“ Der Zucker fungiert nur als „prominentestes Beispiel“ für Lebensmittel, ihre Bausteine bzw. Nährstoffe, die in den Fokus genommen werden. Salz und Fett wären in jedem Falle auch zu nennen. Es geht „vielleicht grundsätzlich [um] die in großen Fabrikationen hergestellten Nahrungsmittel“. Damit trifft Brendel einen Punkt. Ähnlich wie bei der „Agrarwende“ die moderne, technisierte und industrialisierte Landwirtschaft zum Feindbild erklärt wird, steht auch die Verarbeitung und Veredelung am Pranger, die Massenkonsum und -wohlstand in seiner heutigen Form erst möglich gemacht hat. Der Zurück-zur-Natur-Ansatz geht für Brendel schon deshalb fehl, weil er keine wachsende Milliardenbevölkerung ernähren kann und implizit ein Weniger an Menschheit voraussetzt. Insofern weisen gängige Ernährungsideologen „oft einen durchaus menschenverachtenden Charakter“ auf.

„Hinter der politisch und gesellschaftlich so einflussreichen Ernährungspropaganda stecken handfeste Interessen.“

Hinter der politisch und gesellschaftlich so einflussreichen Ernährungspropaganda stecken handfeste Interessen. Mediziner und Wissenschaftler erhalten Gelder von der Pharmaindustrie, Diätgurus und Verlage machen Auflage, Nahrungsmittelkonzerne wie Nestlé springen auf den Zug auf, weil sie sich Vorteile gegenüber der Konkurrenz erhoffen. Zeitschriften können skandalisieren, Politiker sich auf Kosten der Ernährungsgewohnheiten ihrer Bürger profilieren – und Herrschaft ausüben. Denn: „Die Regulation von Genuss ist eine Frage von Macht über Menschen.“

Das ist aber nicht nur ein Gewusel zufälliger Interessenübereinstimmungen. Wie beim Kampf gegen den Tabak spielt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine große Rolle, da sie Übergewicht bzw. Fettleibigkeit zum Feind erkoren hat. Brendel zeichnet den Weg nach, den Prof. Philip James genommen hat, Gründer der International Obesity Task Force. Er konnte seine Organisation bei der WHO andocken, sich mit Diätpräparaten herstellenden Pharmakonzernen (Brendel nennt Roche und Abbott) und anderen Akteuren vernetzen und so die Agenda mitbestimmen. Mit James-Schülern in Schlüsselpositionen gelang es, WHO-Öffentlichkeitsarbeit (teils in Form von Studien) zu platzieren, die paternalistische politische Maßnahmen wie Lebensmittelampel oder Straf- und Sündensteuern auf bestimmte Nahrung propagiert. Beim Tabak hatten WHO und staatliche Gesundheitsbürokratie schon länger Vorarbeit geleistet, der „Durchbruch“ erfolgte aber zeitgleich mit der Ernährung durch ein entsprechendes Geflecht aus großen Pharmaunternehmen, angeblichen wissenschaftlichen Erkenntnissen, NGOs und Mitwirkung der Regierungen der Mitgliedsstaaten. Auffällig: Während das Pfizer-Medikament Champix (in den USA Chantix) vom Rauchen abhalten soll – mit gefährlichen Nebenwirkungen – agieren Wissenschaftler mit Verbindung zum Präparat bzw. Hersteller auch fleißig gegen den angeblich schädlichen oder suchterzeugenden Zucker. Bis heute fehlt aufklärerische Information zu diesen Zusammenhängen seitens der Massenmedien.

Die an sich schon politisch problematische und wissenschaftliche zweifelhafte pauschale Dämonisierung von „Übergewicht“ genügt dabei nicht: „Der Pillenmarkt brauchte klar definierte Dicke“. Praktischerweise wurde 1997 die BMI-Grenze für Übergewicht von 27 auf 25 gesenkt, was die politisch und wirtschaftlich relevante Gruppe der vermeintlich Betroffenen stark vergrößert. Verantwortlich für den „Feind Fettleibigkeit“ wird sodann die Ernährung gemacht, auch wenn in jüngerer Vergangenheit die Kalorieneinnahme etwa in Deutschland gar nicht gestiegen ist. Brendel sieht hingegen den Rückgang bei körperlichen Aktivitäten als Auslöser, die im Vergleich zu früher „mangelnden motorischen Fähigkeiten und […] Haltungsschäden“ schiebe man schließlich auch nicht der Nahrungsaufnahme in die Schuhe. Er reitet hier und da zu stark auf dem Aspekt Sport und Bewegung herum, verweist aber auch auf weitere Faktoren, die zur Gewichtszunahme beitragen können, insbesondere die große Rolle der genetischen Disposition.

„Mehr und mehr Instanzen haben die mangelnde wissenschaftliche Seriosität von WHO-Empfehlungen erkannt und warnen.“

Im dritten Schritt werden dann einzelne „Delinquenten“ vorgeführt, etwa der Zucker. Die WHO, die „inzwischen das Hungerödem der Speckfalte nachgeordnet hat“, senkte 2015 ihre ohnehin unseriöse Empfehlung, höchstens zehn Prozent der Kalorienaufnahme aus Zucker zu beziehen, noch auf fünf Prozent ins gänzliche Weltfremde. Hierzu stützt man sich auf Kariesstudien aus Japan zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Dabei ist Karies im wohlhabenderen Teil der Welt seither zu einer Randerscheinung bei mangelnder Zahnhygiene geworden, Zähne haben heute vielmehr zunehmend an der Erosion des Zahnschmelzes durch säurebildende Lebensmittel zu kauen. Immerhin weiß Brendel zu berichten, dass mehr und mehr Instanzen die mangelnde wissenschaftliche Seriosität von WHO-Empfehlungen erkannt haben und warnen. Den Zuckergrenzwert z.B. lehnen die EU-Lebensmittelsicherheitsbehörde und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung ab.

Beim Zucker, dem „unverzichtbaren Treibstoff für das Gehirn“, stößt man zudem auf „Prediger“ wie den US-Arzt Robert Lustig, der in den weißen Körnern eine todbringende Gefahr sieht. Solche Gurus finden ihre Gläubigen, auch mit Hilfe von Medien und Verlagen. Brendel kritisiert in diesem Zusammenhang den deutschen Autor zahlreicher reißerischer Ernährungsbücher, Hans-Ulrich Grimm, dafür, solche Weisheiten kritiklos nachzuplappern und „markige Sätze ohne solide Fakten“ zu liefern. Stattdessen sollten lieber „die Diät- und Übergewichtsberatungsindustrie endlich transparent gemacht“ und Verflechtungen offengelegt werden.

Erwähnung finden darüber hinaus Ernährungs-NGOs wie das in Deutschland einflussreiche Foodwatch, die ein „Geschäft mit der Angst“ betreiben und bei Verbrauchern nicht für Schutz, sondern für „Verunsicherung“ sorgen. Misstrauen gegen die Lebensmittelwirtschaft, insbesondere „die großen Nahrungsmittelproduzenten“ wird gesät, Menschen ein schlechtes Gewissen eingeredet. Dabei sollte klar sein: Wer das Angebot an Produkten moralisierend und regulierungsheischend angreift, der hat es letztlich auf die Nachfrage abgesehen, auf die Bedürfnisse der Menschen. Wenn solche Organisationen trotz ihrer eigenen Agenda, ihrem finanziellen Eigeninteresse und ihrer nur in bestimmten Milieus verankerten Weltsicht von Massenmedien affirmativ als Volksretter präsentiert werden, können sie zu „Trojanischen Pferden“ für die Demokratie werden.

„Freiheit und Selbstbestimmung im Kulinarischen lassen sich nur erhalten, wenn man sich nicht diktieren lässt, was auf den Tisch kommt.“

„Die Politik zeigt eine Tendenz, sich mit den Scharfmachern, von denen sie selbst oft der Unfähigkeit und Tatenlosigkeit beschuldigt wird, zu verbrüdern“, diagnostiziert Brendel treffend. Dem Verbraucher wird die freie Entscheidung über sein eigenes Essen nicht mehr zugetraut. Maßnahmen wie die irreführenden Lebensmittelampeln, Zuckersteuern oder Eingriffe in Lebensmittelrezepturen würden den Bürger entmündigen. Daran wäre er selbst aber nicht unschuldig, denn in der Bevölkerung findet der Autor eine „wachsende Autoritätsgläubigkeit und die damit verbundene Forderung nach staatlicher Einflussnahme“ vor. Er warnt: „Wer dem Staat die Zuständigkeit für die eigene Gesundheit und die eigene Ernährung überträgt, beschränkt auch sein eigenes Urteilsvermögen.“

Negative Folgen in der Gesellschaft lassen sich längst erkennen: Eingebildete Lebensmittelallergien und Orthorexie (der Wahn, nur das „Richtige“ zu essen) verbreiten sich, viele Menschen vertrauen beim Speisen nicht mehr dem eigenem Körper und dem eigenen Geschmack. Vieles geht von kleinen Minderheiten aus, die „belehrend und bekehrend“ ihre „eigenen Präferenzen zum Prinzip aller machen“ möchten. Freiheit und Selbstbestimmung im Kulinarischen lassen sich aber nur erhalten, wenn man sich nicht diktieren lässt, was auf den Tisch kommt. Andere Bürger sollten sich den Essens-Paternalisten widersetzen und sich nicht scheuen, „für ihre Vorstellungen von Ernährung ebenfalls mit Überzeugung zu kämpfen.“

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