21.07.2017
Staatsrezepte gegen Dolce Vita
Analyse von Detlef Brendel
Die Bundesregierung und eine neue AOK-Kampagne („süß war gestern“) setzen sich für weniger Zucker in der Nahrung ein. Dieser Bevormundung fehlt die seriöse Grundlage.
Weniger Zucker in der Nahrung bedeutet weniger Gewicht und damit weniger Krankheiten. Kein seriöser Wissenschaftler würde diese schlichte Herleitung unterschreiben. Für Bundesernährungsminister Schmidt wie für die AOK oder einige Nahrungsmittel-Multis ist dieses Denkschema allerdings offenbar eine Leitlinie. Auch wenn es nicht stimmt, scheint es doch gut geeignet zu sein, auf der Anti-Zucker-Welle des Zeitgeistes trendgerecht mitzuschwimmen. Unter dem Vorwand, für die Gesundheit der Menschen aktiv werden zu wollen, diskriminieren sie wesentliche Bestandteile der Nahrung, also primär den Zucker sowie Fett und Salz, und reglementieren damit den Verbraucher. Reformulierung lautet die unverdächtige Bezeichnung für eine staatlich verordnete Ernährung. Die Motive dieser Initiativen sind keineswegs auf die Gesundheit der Menschen konzentriert. Im Gegenteil: Sie schaden, weil sie die wirklichen Probleme verbergen und damit den realen Ursachen nicht begegnen.
Was ist das angebliche Übel des Zuckers? Er bewirkt eine Ausschüttung von Insulin bewirkt ein ganz natürlicher Prozess im Organismus, der keinen Normalgewichtigen zu einem Übergewichtigen macht. Zucker bei diesem Prozess nur ein relativ kleiner Verursacher. Die Mediziner bewerten Nahrungsmittel in diesem Zusammenhang nach dem so genannten glykämischen Index, der die Wirkung eines Lebensmittels auf den Blutzuckerspiegel beschreibt. Und der ist bei stärkehaltigen Nahrungsmitteln erheblich größer als beim Zucker. Cornflakes, Reis, Kartoffeln – alles trachtet uns nach der Gesundheit. Zucker ist da nur im mittleren Bereich wie etwa die Rote Beete angesiedelt. Diese medizinischen Tatsachen will niemand wissen.
„Keine evidenzbasierte Studie weist nach, dass Zucker Übergewicht oder sogar Diabetes mellitus hervorrufen kann.“
Ebenso stört es nicht, dass keine evidenzbasierte Studie einen Nachweis führt, dass Zucker Übergewicht oder sogar Diabetes mellitus hervorrufen kann. Und aktuelle Studien wie die Untersuchung der Universität Stanford werden ignoriert. Hier haben der Computerwissenschaftler Jure Leskovec und der Bioingenieur Scott Delp die Schrittzähler in Smartphones von fast 720.000 Menschen aus 111 Ländern ausgewertet. „Das Ausmaß der Lücke zwischen den Aktiven und wenig Aktiven in einer Gesellschaft gibt verlässliche Hinweise darauf, wie verbreitet Übergewicht ist“, erläutert Delp. Dieses Ergebnis ist einer der vielen Beweise für das, was für den gesunden Menschenverstand eigentlich naheliegt. Inaktive Menschen neigen eher zu Übergewicht als aktive. Sowohl für Schlankheit als auch für Gesundheit ist eine gute Balance zwischen Nahrungsaufnahme und Kalorienverbrauch wichtig. Und auch das ist nur die halbe Wahrheit. Dazu kommen genetische Faktoren, Stress, Schlafmangel und viele Aspekte mehr, die den Zustand des individuellen Körpers beeinflussen. Aber das ist komplex. Viel einfacher ist es, der Menschheit die Lüge aufzutischen, der Zucker sei an allem schuld.
Kochen mit Schmidt
Was sind die Beweggründe der Hyperaktiven auf der Anti-Zucker-Welle? Ernährungsminister Christian Schmidt (CSU) will zum Chefkoch der Nation werden. „Kochen mit Schmidt“ könnte das Pädagogik-Programm heißen, mit dem er zum dominanten Ernährungspartner in den deutschen Haushalten werden will. Von der Brezel über die Limo bis zum Räucherlachs will er Leitlinien für die Rezepturen vorgeben. Durch eine so genannte Reformulierung soll die Politik endlich Zugriff auf einen der wenigen wirklich noch privaten Bereiche, auf die heimische Ernährung, erhalten. Vor allem Fett, Salz und Zucker sollen reduziert werden. Dieses Ziel wird mit einem eigenwilligen Verständnis von Freiwilligkeit verbunden. Ändern die Unternehmen der Ernährungswirtschaft nicht freiwillig ihre Rezepturen, so die Absicht, drohen ihnen administrative Konsequenzen. Ehrlicher wäre es, von einem gesetzlich verordneten Einheitsbrei zu sprechen.
Mit seinen Überlegungen gibt sich der Minister, der bisher dem Verbraucher die Fähigkeit zutraute, nicht nur eine Partei, sondern auch das richtige Müsli wählen zu können, offenbar geschlagen. Er knickt vor dem Druck der NGOs ein, die wie Foodwatch nicht nur den Zucker, sondern am liebsten die gesamte Ernährungswirtschaft stark beschränken würden, und dem von ihnen erzeugten Zeitgeist. Das ist bedauerlich. Und er zitiert als Ausrede für seine Initiative Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Das ist bedenklich. Im Ministerium sollte man die mangelnde wissenschaftliche Reputation der WHO, die schon skandalös miserable Faktenlage für beispielsweise die Zuckerempfehlungen und die Verstrickungen dieser Organisation einmal genauer und kritischer betrachten. Die WHO wird von Einflüsterern beeinflusst, die beispielsweise für ihre Zucker-Empfehlung nachweislich dubiose Studien konstruiert haben, die höchste Ansprüche an Manipulation erfüllen und nicht den geringsten Anforderungen an wissenschaftliche Qualität genügen. Was sollen die Zahlen einer Kariesstudie von 1946 in Japan mit dem Zuckergehalt von deutschen Lebensmitteln im Jahr 2017 zu tun haben? Definitiv nichts. Man hätte im Ministerium genauer hinsehen sollen, statt sich dem Zeitgeist zu beugen.
„Weder das staatlich verordnete Müsli-Rezept noch das Salz-Verbot beim Frühstücksei sind hilfreiche Maßnahmen.“
Mit dem leichtfertigen Glauben an WHO-Empfehlungen macht Christian Schmidt sich zum Erfüllungsgehilfen einer Organisation, die speziell auch im Zusammenhang mit der Übergewichts-Diskussion zu einem Instrument von interessengetriebenen NGOs geworden ist. So ist die International Obesity Task Force (IOTF), eine die WHO maßgeblich beratende NGO, Mitte der 1990er Jahre mit Geld der Pharmaindustrie gegründet worden, um im Interesse der Schlankheitspillen das Thema Gewicht zu dramatisieren. Sie tut es bis heute.
Der Kotau vor dem Zeitgeist ist bei anderen Politikern aber weitaus intensiver ausgeprägt. Da die Parteipolitik weiß, was Wissenschaftler nicht belegen können, wollen jetzt auch die Ernährungsfachkräfte der Grünen dem Genuss der Deutschen eine Ernährungswende verordnen. Die verbraucherpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Nicole Maisch, fordert klare Vereinbarungen zur Reduktion statt der vom Minister geplanten freiwilligen Selbstverpflichtung. Angesichts der drastischen Zunahme von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, so die Expertin für staatliche Ernährungsbevormundung, bestehe dringender Handlungsbedarf. Derart gedanklicher Brei lässt jede sachliche Kompetenz vermissen.
Nicole Maisch tischt paternalistische Vorstellungen auf, die belegen, wie wenig sie von Ernährung, Lebensstil und der Herausbildung von Krankheiten verstanden hat. Die Zuckerkrankheit kommt nicht vom Zucker-Konsum. Statistische Gewichtszunahme in der Bevölkerung, wobei der Sinn des BMI zunehmend kritisch bewertet wird, hat viele Gründe. Der wohl Wichtigste liegt in der bewegungsarmen Lebensweise, die auch für die Herausbildung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen relevant ist. Und dann werden wir, aller angeblich ungesunden Ernährung zum Trotz, immer älter. In der Konsequenz haben wir, zumindest statistisch, Krankheiten, vor denen die Menschen vor Jahren noch der frühe Tod bewahrt hat. Es wird noch schlimmer kommen: Ein in diesem Jahr geborenes Mädchen hat in Deutschland eine durchschnittliche Lebenserwartung von 92,9 Jahren, ein Junge kommt auf 89,8 Jahre. Man stelle sich vor, welche Gebrechen bei einer Bevölkerung mit Senioren von durchschnittlich 90 Jahren auftreten. Schließlich wird die Mortalität auch dann noch bei 100 Prozent liegen. Angesichts dieser Perspektiven sind weder das staatlich verordnete Müsli-Rezept noch das Salz-Verbot beim Frühstücksei hilfreiche Maßnahmen. Bewegung tut den Menschen gut. Mentale Bewegung würde auch vielen Politikern helfen.
Nestlés Einheitsbrei
Mit der Initiative einer Reformulierung von Nahrungsmittel-Rezepturen wird nicht nur die Mündigkeit der Bürger in Frage gestellt. Die Definition eines gesetzlich vorgegebenen Einheitsbreis limitiert nicht nur den Genuss, sondern bringt auch massive Risiken für die Arbeitsplätze mit sich. Über fünf Millionen Menschen sind in der vorwiegend mittelständischen Ernährungswirtschaft beschäftigt. Der Erfolg vieler Unternehmen basiert auf besonderen Rezepturen, die den Geschmacksnerv der Verbraucher treffen und damit seine Gunst gewinnen. Diese für den Verbraucher attraktive Vielfalt des Nahrungsmittel-Angebots wird durch staatlich verordnete Rezeptregeln nivelliert und partiell vernichtet. Mittelständische Unternehmen werden existentiell gefährdet, wenn ihnen durch die Regulierung der Zutaten der Charakter ihrer Spezialitäten genommen wird. Falls der gesetzliche Einheitsbrei zur Norm wird, kann der an Einkaufsoptimierung interessierte Handel auch ausschließlich bei den großen Lebensmittelkonzernen bestellen. Es schmeckt dann ohnehin alles gleich. Konsolidierung nennt man das.
„Man will sogar verhindern, dass Verbraucher ihre Gerichte selbst nachsalzen.“
Dieses Prinzip der wirtschaftlich attraktiven Marktbereinigung haben große Nahrungsmittel-Multis verstanden. Allen voran Nestlé, immer schon ein altruistischer Kämpfer für das Wohl der Menschheit. Auf dem Menüplan eines konspirativen Treffens in Brüssel standen zuckerreduzierte Nesquik-Cerealien und eine salzreduzierte Hühner-Nudel-Suppe von Maggi. Nestlé hatte zu einem Gespräch nach Chatham-House-Regeln, also vertraulich, eingeladen. Politiker sollten überzeugt werden, dass die Leitlinien der EU-Politik den Marketing-Vorstellungen von Nestlé angepasst werden.
Ähnlich wie der Grundsatz eines aktuellen amerikanischen Politikers heißt es bei dem Schweizer Lebensmittel-Multi „Nestlé first“. Bereits im Februar 2016 hatte das Unternehmen im EU-Magazin POLITICO gefordert, die Politik solle durch Leitlinien und Verordnungen dafür sorgen, die Wettbewerber in der europäischen Ernährungswirtschaft zu einem den Nestlé-Vorstellungen konformen Verhalten zu zwingen. Logische Begründung: Wenn die modifizierten Nestlé-Produkte den Verbrauchern nicht schmecken, sollen sie nicht auf geschmacklich attraktivere Alternativen ausweichen können. Der Wettbewerb im variantenreichen Nahrungsmittel-Angebot soll durch Reglementierung unterbunden werden, um den Schweizer Ernährungsstrategen den Markt gefügig zu machen.
Zu dem reduzierten Menüplan des Brüsseler Lobby-Meetings passte auch eine Reduzierung der Teilnehmer. Protagonisten der Veranstaltung waren vor allem Akteure, die durch Ampeln, Strafsteuern und Werbeverbote die freie Entscheidung reduzieren, die Unternehmen dominieren und den Verbraucher regulieren wollen. So stand sogar auf der Agenda, wie verhindert werden kann, dass Verbraucher ihre Gerichte selbst nachsalzen. Ein Berechtigungsnachweis für das Führen von Salzstreuern wäre die logische Konsequenz.
Die nationalen Verbände der Nahrungsmittelwirtschaft in Europa wenden sich gegen diese Bevormundung. In einer gemeinsamen Erklärung vom 31. Mai 2017 haben sie klar formuliert, dass eine diskriminierende Klassifizierung von Lebensmitteln nicht zu akzeptieren ist. Der bisherigen EU-Strategie folgend sollen nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben die Entscheidung der Verbraucher ermöglichen, sich ihrem Lebensstil entsprechend ausbalanciert und sinnvoll zu ernähren.
„Der chilenische Gesundheitsminister hat eine Untersuchung eingeleitet, ob die Diskriminierung des Zuckers nicht sogar kontraproduktiv ist.“
Erfahrungen aus dem Ausland geben der Ablehnung von staatlich verordneten Rezepturen Recht. Ein Jahr nach der Einführung des Warnhinweises „Viel Zucker“ in Chile zeigte sich, dass bei rund 1550 Produkten der Zucker durch chemische Süßungsmittel mit potenziellen Risiken für die Gesundheit ersetzt worden ist. Der chilenische Gesundheitsminister hat nun eine Untersuchung eingeleitet, ob die Diskriminierung des Zuckers nicht sogar kontraproduktiv ist und zu einer Gefährdung der Gesundheit der Verbraucher führt. Unabhängig von den möglichen Risiken chemischer Substanzen gibt es bereits Untersuchungen, die zeigen, dass ein starker Verbrauch von Süßstoffen Initiator für die Herausbildung von Übergewicht sein kann. Weniger Kalorien provozieren zudem größere Portionen. Auf den ausbalancierten Lebensstil kommt es an.
AOK = Alles ohne Kompetenz
Wenn alle den Zucker als Schuldigen definiert haben, will auch eine Krankenkasse nicht den Zug der Zeit verpassen. Die AOK will jetzt mit einer nationalen Kampagne zur Zuckerreduktion Attraktivität ausstrahlen. Dass sie dabei mit gezinkten Karten spielt und sowohl auf wissenschaftliche Fakten als auch seriöse Begründungen verzichtet, nimmt sie billigend in Kauf. Die Kampagne ist für das eigene Image gedacht und nicht für die Interessen der Mitglieder.
Die fadenscheinige Begründung zur Kampagne muss Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte, liefern. „Wenn ein Kind zu dick ist, bewegt es sich weniger.“ Hier werden Ursache und Wirkung vertauscht. Wenn ein Kind sich zu wenig bewegt, weil es nur noch virtuell unterwegs ist, wird es zu dick. So wäre es richtig und sinnvoll. In seiner Praxis sieht er nach eigenem Bekunden bei den Kindern ständig schwarze, faule Zähne. Welche Patienten hat der Mann? Nach der im August 2016 von der Bundeszahnärztekammer und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung publizierten Mundgesundheitsstudie sind 81,3 Prozent der zwölfjährigen Kinder, die angeblich vor dem Zucker zu schützen sind, vollkommen kariesfrei. Während der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatten 12-jährige Kinder in Deutschland durchschnittlich sieben kariöse Zähne. Welche dramatischen Konsequenzen hatte seither der Zuckerverzehr? Heute sind es durchschnittlich 0,7 kariöse Zähne.
Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbands prangert an, dass Zucker von der Industrie versteckt wird und Eltern oft nicht wissen, wieviel Zucker in Essen und Getränken enthalten sei. Sie wissen aber auch nicht, wieviel Eiweiß im Quark enthalten ist. Beides könnte man ganz einfach durch einen Blick auf die Verpackung erfahren. Dort steht es, wenn man es denn wissen will. Das ist Transparenz. Fakten werden ausgeblendet. Die komplexen Ursachen für Adipositas sind für eine platte Kampagne zu kompliziert. Die AOK sollte sich fragen, ob es förderlich ist, mit „Alles ohne Kompetenz“ übersetzt zu werden.