18.10.2024
Was schmeckt, kommt auf den Index
Von Detlef Brendel
Statt hochverarbeiteten Lebensmitteln will die Bundesregierung lieber hochregulierte. Durch sogenannte Reformulierung, also neue Rezepturen, geht uns der Staat auf die Geschmacksnerven.
Eine zunehmende Krise, die nicht unterschätzt werden sollte, betrifft die Ernährung. Wir haben keine Qualitätskrise der Lebensmittel und keine Gesundheitskrise infolge der Ernährung. Wir haben eine durch Ideologen, Medien und die Politik gesteuerte Vertrauenskrise. Angriffe von NGOs, also von nichtstaatlichen und angeblich den Verbraucher schützenden Organisationen, auf die Lebensmittelproduzenten sind zugleich Angriffe auf den hier angeblich zu nachlässig kontrollierenden und regulierenden Staat.
Den Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Cem Özdemir (Grüne), motiviert das, durch bislang kläglich gescheiterte Initiativen, Landwirte, die verarbeitenden Unternehmen, den Handel und nicht zuletzt die Verbraucher an die politische Kandare nehmen zu wollen. Er will durch grundsätzliche Änderungen der Ernährungskonzepte eine Neuordnung des kulinarischen Lebens erreichen. Dazu gehören staatlich verordneter Vegetarismus, Eingriff in bewährte Rezepturen durch die sogenannte Reformulierung, am Zuckergehalt von Lebensmitteln orientierte Strafsteuern und sogar Kommunikationsverbote, mit denen Marketing und Werbung für unliebsame Produkte unterbunden werden sollen. Auch in der Küche wird der angeblich mündige Verbraucher seiner Freiheiten beraubt und durch seine Vordenker angeblich beschützt. Er braucht in Wirklichkeit Schutz vor seinen Beschützern. Diese machen ihn krank, weil sie ihm seine Freiheit und Souveränität nehmen.
Die Verarbeitung von Lebensmitteln für die menschliche Ernährung ist eine in allen Kulturen auf der ganzen Welt gebräuchliche Praxis. Rohstoffe werden durch fantasievolle Rezepturen kombiniert, sie werden gekocht, gebraten, geräuchert, mariniert oder gepökelt. Das geschieht sowohl im Haushalt in der eigenen Küche als auch in größerem Maßstab in der Lebensmittelwirtschaft. Die Zubereitung sorgt nicht nur für geschmackvolle Produkte, sondern auch für deren Haltbarkeit und eine verbesserte Verfügbarkeit von Nährstoffen. Beim Thema Ernährung wird von ideologisch motivierten Aktivisten allerdings seit Jahren die Ernährungswirtschaft als Industrie diffamiert, die es aus Profitstreben in Kauf nimmt, die Verbraucher mit ungesunden Produkten zu versorgen und sogar zu schädigen. Warum sollte sie das tun?
Ein neuer Begriff wird zunehmend populär: ultra-processed food, also hochverarbeitete Lebensmittel. Das soll signalisieren, dass ein Lebensmittel mit den eingesetzten Rohstoffen und deren natürlichem Ursprung nichts mehr zu tun hat. Es wird gezielt der Eindruck erweckt, bei diesen Lebensmitteln handele es sich um eine Industrieware, die nicht die Kriterien einer gesunden und ausgewogenen Ernährung erfüllen könne. Zutreffender ist der Begriff Convenience food, also vorgefertigte Lebensmittel, die in der heimischen Küche oder der Gastronomie die Zubereitung von Mahlzeiten erleichtern sollen oder direkt als verzehrfertige Lebensmittel zur Verfügung stehen. Und diese müssen keineswegs schlechter sein als das, was am privaten Herd gekocht wird. Ohnehin hängt die Gesundheit nicht von einzelnen Nahrungsmitteln oder einzelnen Zutaten ab, sondern von der Ausgewogenheit der Ernährung und vor allem dem gesamten Lebensstil, der deutlich mehr ist als eine Tiefkühlpizza. Für jeden Lebensstil und für alle sich verändernden Verbraucherwünsche gibt es verarbeitete Lebensmittel.
„Ohne ultra-processed food würden im Einkaufswagen viele Produkte fehlen.“
Ultra-processed food ist ein Begriff für den ideologischen Kampf gegen die Lebensmittelhersteller. Gesicherte Kriterien für diese Bezeichnung fehlen. Die in Brasilien entwickelte NOVA-Klassifikation zur Einteilung von Lebensmitteln nach ihrem Verarbeitungsgrad steht in der Kritik, weil das System ohne klar definierte Grenzwerte Klassifizierungen vornimmt. Eine Klassifikation ohne solche Werte ist ein Akt der Willkür, der wissenschaftlich nicht belastbar ist. Wer braucht Grenzwerte, wenn ganze Branchen in Misskredit gebracht werden sollen? So kann dann behauptet werden, solche Lebensmittel wären wegen mangelnder Biodiversität von Natur aus nicht nachhaltig und würden zu Krankheiten von Adipositas über Fettstoffwechselstörungen bis zu Depressionen beitragen. Ohne wissenschaftlich solide Kriterien sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt.
Wie willkürlich das System ist, hat eine Untersuchung im Jahr 2022 gezeigt. Die Studie „Ultra-processed foods: how functional is the NOVA system?“, veröffentlicht im Europäischen Journal of Clinical Nutrition, kam zu dem Ergebnis, dass dieses System keine zuverlässigen und funktionellen Lebensmittelzuordnungen zulässt. Französische Lebensmittel-Spezialisten konnten 120 Lebensmittel mit detaillierten Inhaltsangaben und 111 generische Lebensmittel ohne Zutatenlisten nur mit geringer Übereinstimmung zuordnen.
Ohne ultra-processed food würden im Einkaufswagen viele Produkte fehlen. Schokolade, vorgefertigte Backwaren, Speiseeis, Brotaufstriche, Margarine und Kekse, um nur einige Beispiele zu nennen, würden der Ideologie geopfert. Die Verbraucher sollten sich nicht irritieren lassen – und den Begriff vergessen, um beruhigt einzukaufen. Es kommt auf den Tisch, was schmeckt. Über mangelnde Auswahl kann sich niemand beklagen. Die Hersteller orientieren sich an Trends in der Ernährung, Präferenzen der Konsumenten – auch wer z.B. vegan essen will, bekommt ein reichhaltiges Angebot –, traditionellen Rezepturen, ernährungsphysiologischen Bedürfnissen, strengen Kontrollen und nicht zuletzt am Geschmack..
Beim Thema Geschmack gelangt man schnell zum Reizwort für alle Ernährungsideologen: Zucker. Er soll die Ursache für eine fantasievolle Vielfalt von Krankheiten sein und vor allem der Grund für steigendes Übergewicht. Irritierend sind dabei die Fakten. 1982 betrug der Zuckerkonsum in Deutschland 36 Kilo pro Kopf und Jahr. Verglichen damit liegt er inzwischen niedriger, bei rund 33 Kilo. Parallel wird die Zunahme von Übergewicht und Adipositas beklagt. Eine Korrelation, die für den Zucker eigentlich Entwarnung geben sollte.
„Reformulierung ist in der Konsequenz keine Qualitätssteigerung, sondern ultra-regulated food.“
Weil er jedem schmeckt und in vielen Lebensmitteln vorkommt, eignet er sich ideal als Feindbild. So wird er diskriminiert und von seinen Gegnern als Industriezucker bezeichnet. In den Zuckerfabriken wird aus Pflanzen mit hohem Zuckergehalt wie der heimischen Zuckerrübe Zucker extrahiert. Wer schon einmal in der Küche Zuckerrüben zerkleinert, gewaschen, gekocht und durch mehrmaliges Kristallisieren bei hohen Temperaturen zu mehr oder weniger ansehnlichem Zucker verarbeitet hat, wird froh sein, ein Paket Haushaltzucker bequem kaufen zu können. Das ist ein Vorteil von processed food.
Die Hersteller von Lebensmitteln verwenden bei der Produktion von Ketchup bis zu fertigen Eintöpfen auch Zucker. Allerdings fügen sie diesen nicht zu, um ihre Kunden abhängig zu machen oder deren Geschmacksnerven zu manipulieren. Das ist eine industriefeindliche Verschwörungstheorie. Sie nehmen ihn dort, wo ihn auch eine Hausfrau oder ein Koch zur Verbesserung von Geschmack und Konsistenz der Speisen einsetzen würden. Und das betrifft nicht nur den Zucker in vielen Rezepten.
Allerdings kommen auch die traditionellen Rezepturen auf den politischen Prüfstand. Reformulierung heißt der aktuelle Terminus für staatlich beauftragte Küchenhilfen, die den Herstellern von Lebensmitteln vorschreiben sollen, wie ein politisch korrektes Fertiggericht zusammen zu rühren ist. Hier kommt vor allem das auf den Index unerwünschter Zutaten, was für Geschmack sorgt. Jeder Koch kennt die Geschmacksträger, ohne die ein Gericht relativ fad ausfallen würde: Zucker, Fett und Salz. Diese Zutaten sind zu reduzieren und im Rahmen der Reformulierung zu ersetzen.
Der Staat sorgt damit für eine neue Dimension von ultra-processed food, weil er mit gezielten Veränderungen bei der Zusammensetzung von Lebensmitteln massiv in die Freiheit der Verarbeitung bei den Herstellern eingreift und vor allem auch den Weg für Alternativen vorbereitet. Geschmacklich relevante Zutaten einfach nur wegzulassen, ist nicht die Lösung. Sie müssen substituiert werden, um Geschmack und Konsistenz zu erhalten. Also wird nach chemisch erzeugten Ersatzstoffen gesucht, die für die Menschen nicht zwingend verträglicher sein müssen. Die Produzenten werden z.B. genötigt, synthetische Süßmittel einzusetzen, um den Geschmack erhalten und auf die Packung „zuckerfrei“ schreiben zu können. Reformulierung ist in der Konsequenz keine Qualitätssteigerung, sondern ultra-regulated food. Wohl bekomm’s.