22.11.2024

Unkritisch Reisen: Osttürkei

Von Niels Hipp

Titelbild

Foto: godil via Pixabay / CC0

(Süd)Ostanatolien gehört zu den von Deutschen seltener bereisten Gegenden der Türkei. Auch die Wirtschaftsleistung fällt dort unterdurchschnittlich aus, es finden sich aber Sehenswürdigkeiten.

Heute reisen wir nach Ost- und Südostanatolien, vereinfacht Osttürkei genannt, den Teil der Türkei, den ich im September/Oktober 2024 bereist habe.

Wer an die Türkei denkt, der denkt zunächst einmal an Recep Tayyip Erdoğan, der seit 2014 Präsident der Türkei ist und vorher mehr als zehn Jahre lang Ministerpräsident des Landes war. In dieser Zeit ist ein Personenkult um ihn entstanden, freilich weniger extrem als im „unkritisch bereisten“ Turkmenistan, Iran oder Kuba. Aber man sieht häufiger Bilder von ihm am Straßenrand. In der Provinzhauptstadt Rize am Schwarzen Meer existiert sogar eine Erdoğan-Universität, obwohl er selber wahrscheinlich einen Hochschulabschluss, den die türkische Verfassung (Art. 101) vom Staatsoberhaupt verlangt, gar nicht vorweisen kann.

Seine lange Amtszeit, als Regierungs- und Staatschef zusammengenommen bereits länger als die von Merkel oder Honecker, kennzeichnet eine schleichende Islamisierung des Landes bei gleichzeitigem wirtschaftlichem Aufschwung. Höhepunkt der Islamisierung war –neben der Zulassung des Tragens von Kopftüchern in Behörden und an Hochschulen – die Tatsache, dass die Hagia Sophia in Istanbul 2020 wieder in eine Moschee umgewandelt wurde: Die 532-537 erbaute byzantinische Kirche wurde mit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 zur Moschee, dann 1935 unter Atatürk zum Museum und schließlich 2020 unter Erdoğan wieder Moschee. Daran zeigt sich exemplarisch, dass diese Reislamisierung eine Gegenbewegung zu den Reformen unter Mustafa Kemal Atatürk in den 1920er und 30er Jahren bildet, der das Land mit der Abschaffung des Kalifats, der Einführung der lateinischen Schrift, eines weltlichen Rechtssystems u.v.m. europäisieren und säkularisieren wollte.

Auch wenn viele Reformen Atatürks sicherlich zu begrüßen sind, so muss man doch sagen, dass damit gesellschaftliches Glück von oben erzwungen werden sollte, indem der konservativen Landbevölkerung, gerade in Ost- und Südostanatolien, vermittelt wurde, sie seien zurückgeblieben und ihr Lebensstil passe nicht mehr in die Zeit. Ähnlich ist es heute bei grünen Eliten, die den Menschen einreden, ihr Lebensstil sei veraltet, etwa wenn sie fliegen, Fleisch essen oder Autos mit Verbrennungsmotor fahren. Aus Sicht der konservativen Landbevölkerung stell(t)en die Maßnahmen Atatürks einen nicht minder schweren Eingriff in ihren Lebensstil dar wie die Planungen der heutigen grünen Eliten im Rahmen der „Transformation zur Klimaneutralität“. Die türkische Gesellschaft wurde in den 1920er-/30er-Jahren sehr weitgehend umgekrempelt.

„Die Beliebtheit Erdoğans und seine mehrfache Wiederwahl sind sicherlich auch dem wirtschaftlichen Aufschwung des Landes geschuldet.“

Es gibt auch noch andere Parallelen zu heute: Die links-grüne Elite in Deutschland schaut herablassend auf die Landbevölkerung herab, gerade, aber nicht nur in Ostdeutschland, ähnlich wie die kemalistische Elite in Ankara, Istanbul und Izmir und anderen urban geprägten Küstenstädten der Türkei herablassend auf die Bevölkerung Südost- und Ostanatoliens hinabblickte. Kemalistische Elite damals und grüne Elite heute gegen (Land-)Bevölkerung stellen auch einen Stadt-Land-Konflikt, einen Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie sowie einen Konflikt zwischen Konservatismus und Reform dar. Die Reformen Atatürks führten zu einer „kulturellen Hegemonie“ (Gramsci) des Kemalismus, so wie es heute – im Nachgang von „1968“ – eine kulturelle Hegemonie des grünen Denkens im Westen gibt. In der Türkei kam es nach und nach zu einer Gegenreaktion, die Erdoğan dann schließlich 2003 ins Amt brachte.

Bedeutung des Islam

Wenn der Islam in der heutigen Türkei wieder eine größere Rolle spielt, dann führt dies im Westen oft zu Unverständnis, ist diese Religion dort doch, gerade seit „9/11“, oft mit – immer wieder aufflackernden – Ängsten verbunden. Ob das daran liegt, weil Europa seit dem 8. Jahrhundert immer wieder mit dem Islam konfrontiert war oder ob diese Ängste bestehen, obwohl Europa mit dieser Religion immer wieder zu tun hatte, muss hier offenbleiben. Oft hört man dann, dass islamische Länder zurückgeblieben seien. Das trifft aber so pauschal nicht zu. Unter den Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit befinden sich tatsächlich viele arme Länder wie den Sudan, Somalia und den „unkritisch bereisten“ Senegal. Es gibt aber auch etliche Gegenbeispiele, wie Katar, ein Land, das 2023 auf Rang 8 des BIP pro Kopf weltweit lag, die Vereinigten Arabischen Emirate mit Rang 23 (Deutschland: Rang 18) und eben die Türkei, die mittlerweile auf dem 72. Platz liegt, also immerhin etwa im weltweiten Durchschnitt. Gerade die Golfstaaten sind, wie unser „unkritisch bereistes“ Dubai zeigt, in vielem moderner und mittlerweile auch technisch aufgeschlossener als Deutschland. Die These, dass „der Islam“ per se zu mangelndem Fortschritt führe, kann daher in dieser Allgemeinheit nicht gelten. Eine Islamauslegung und -praxis wie in Afghanistan oder im Jemen hingegen hat ein Verharren in der Armut zur Folge, eine Kombination aus ‚Islam und Kapitalismus‘ – wie auch z.B. in Malaysia – hingegen nicht.

Nur nebenbei sei hier kurz gesagt, dass die Frage des wirtschaftlichen (Miss-)Erfolgs eines Landes gar nicht direkt oder indirekt mit der Religion zusammenhängen muss, siehe den „Failed State“ Haiti, der christlich (katholisch) geprägt ist und unter extremer Bandenkriminalität leidet, die aber nichts mit dem Christentum zu tun hat. Außerdem ist die Frage des direkten und vor allem indirekten Einflusses einer Religion in Abgrenzung zu nichtreligiösen Faktoren im Einzelfall ohnehin schwierig. Bezüglich des Islam in der Türkei merkt man anhand gewisser Faktoren dann aber doch, dass die religiöse Prägung, die sich auch in patriarchalischem Denken zeigt, einen negativen Einfluss zeitigt, z.B. bezüglich der Rolle der Frau oder von Homosexuellen, wobei man dieses Phänomen abgeschwächt auch in katholisch geprägten Regionen wie (Süd-)Italien findet oder fand. Auch und gerade die niedrige Erwerbstätigkeit von Frauen ist ein Problem: Nur 28 Prozent der Frauen in der Türkei waren zuletzt erwerbstätig, in Deutschland hingegen rund 74 Prozent. Zum Vergleich: In der BRD des Jahres 1950 gingen bereits 44 Prozent der Frauen einer Erwerbsarbeit nach.

Wirtschaftswachstum, aber Inflation

Das Wirtschaftswachstum in der Türkei liegt seit langem meist über vier Prozent pro Jahr, selbst im Corona-Jahr 2020 war es positiv. Im Vergleich zu den „Zeiten der „Gastarbeiter“-Emigration der 1960er- und 1970er-Jahre hat das Land viel Rückstand aufgeholt und ist mittlerweile auf Rang 17 der größten Volkswirtschaften der Welt geklettert, nach Kaufkraftparitäten sogar auf Rang 11. Symbolisch dafür steht der 2019 eröffnete neue Flughafen Istanbul (IST), der größte Europas. De-Growth, Klimarettung u.ä. stehen nicht gerade hoch im Kurs, man will vielmehr den Wohlstand steigern. Die Beliebtheit Erdoğans und seine mehrfache Wiederwahl sind sicherlich auch dem wirtschaftlichen Aufschwung des Landes geschuldet.

Dabei zeigen sich je nach Region enorme ökonomische Unterschiede: Das BIP pro Kopf ist im Raum Istanbul, Ankara und Izmir am höchsten. Man kann sagen: Nach Osten nimmt es tendenziell immer mehr ab, am niedrigsten liegt die Wirtschaftsleistung an den Grenzen zu Georgien, Armenien, dem Iran, dem Irak und Syrien. Es gilt auch: Je weiter man sich von Mittelmeer bzw. Schwarzem Meer entfernt, desto geringer fällt tendenziell die Wirtschaftskraft aus, außer in Großstädten wie Sivas oder Kayseri. Einen höheren Wohlstand in Großstädten gegenüber dem Land findet man aber auch in Deutschland und anderswo oft.

„Mit der hohen Inflation zusammen hängt der Verfall der türkischen Lira im Verhältnis zu Euro und US-Dollar.“

Hat man bisher den Eindruck, dass die Türkei sich gut entwickelt hat, dann folgt nun ein ganz großes Aber, nämlich die Inflation. In den letzten 40 Jahren lag die Inflation im Land nie unter 7,5 Prozent pro Jahr. Diesen niedrigste Werte erreichte das Land im Jahr 2013, wohingegen in Deutschland die über Jahrzehnte höchste Inflationsrate 2022 bei 6,9 Prozent lag – in der Türkei im gleichen Jahr bei 72,4 Prozent. Das ist nicht so extrem wie in Argentinien oder Venezuela, aber schon sehr hoch, vor allem wenn das über Jahrzehnte anhält. Lange wollte die türkische Zentralbank auf Drängen Erdoğans die Zinsen niedrig halten, wobei Ökonomen in der Regel der Meinung sind, dass hoher Inflation durch hohe Zinsen zu begegnen ist, da diese zu weniger Nachfrage führen und die geringere Nachfrage die Inflation bremst. Mittlerweile hat die Nationalbank aber die Leitzinsen erhöht, sie liegen bei für Deutsche unvorstellbaren 50 Prozent. Seitdem sinkt die Inflation wieder, aber von einem akzeptablen Niveau oder vom Zwei-Prozent-Ziel der EZB ist man ganz weit entfernt und wird es vermutlich nicht erreichen – zumindest nicht zeitnah. Mit der hohen Inflation zusammen hängt der Verfall der türkischen Lira im Verhältnis zu Euro und US-Dollar. Im Jahr 2006 war 1 Euro 2 Türkische Lira wert, im Jahr 2014 lag das Verhältnis bei 1:3, im Jahr 2019 bei 1:6, im Sommer 2022 bei 1:18 und mittlerweile bei sage und schreibe 1:37.

Ein für die Türkei wichtiger Wirtschaftszweig ist der Tourismus. Gerade bei Deutschen erfreut sich das Land großer Beliebtheit, wobei sich deutsche Touristen meist auf Istanbul, die Mittelmeerküste – dort vor allem auf den Großraum Antalya-Alanya – und dann noch auf Pamukkale und Göreme konzentrieren. Ansonsten und insbesondere in Südost- und Ostanatolien sind deutsche und europäische Touristen meist Mangelware. Dafür begegnet einem bei einer Rundreise durch diese Regionen nicht nur einmal Deutschtürken, die dort Familie haben. Die Eintrittspreise bei beliebten Sehenswürdigkeiten sind für Ausländer oft recht hoch. Proteste gegen sogenannten „Massentourismus“ wie auf den kürzlich „unkritisch bereisten“ Kanaren gibt es hingegen fast nie.

Reisetipps

Das führt zu der Frage: Was kann man in Südost- und Ostanatolien besuchen? Zunächst: Die ganze Region hat eine lange Historie, auch wenn die Zahl der Sehenswürdigkeiten geringer ausfällt als etwa an der türkischen Mittelmeerküste. Man findet etwa historische Stätten aus der Jungsteinzeit, aus der Zeit der Griechen und Römer, der Byzantiner, des frühen Christentums, der Seldschuken, der Osmanen und nicht zuletzt zahllose Erinnerungen an Atatürk – Plätze, Statuen, Museen. In Südostanatolien sind Gaziantep mit der Zitadelle aus seldschukischer Zeit und dem Zeugma-Mosaik-Museum sehenswert.

„Von den Reisehinweisen des Auswärtigen Amts, das vor Reisen in die Grenzgebiete zu Syrien und dem Irak dringend abrät, sollten Sie sich nicht beeindrucken lassen, da diese hier – wie meist – übertrieben sind.“

In Şanlıurfa, dem antiken und mittelalterlichen Edessa, im 12. Jahrhundert Sitz eines Kreuzfahrerstaates, soll laut islamischer Überlieferung Abraham – dessen historische Existenz sehr zweifelhaft ist – geboren worden sein. Dort befinden sich die Halil-Rahman-Moschee mit dem Teich des Abraham, in dem heilige Karpfen verehrt werden sowie die Geburtsgrotte des Abraham. Außerdem ist auch hier ein archäologisches Museum sehr sehenswert. Außerhalb liegt Göbekli Tepe, vermutlich ein jungsteinzeitliches Bergheiligtum. Weiter östlich stößt  man auf die kurdisch dominierte Stadt Diyarbakır. Dort ist vor allem eine der größten antiken Festungsanlagen aus dem 4. Jahrhundert, erbaut unter Kaiser Constantius II. zu sehen, wobei mitunter Gerüste den Blick verstellen. Ansonsten hat man dort nur einzelne Sehenswürdigkeiten und insgesamt ist die Altstadt oft heruntergekommen und sehr weitläufig. In Mardin findet sich eine schöne Altstadt die Hänge hinauf mit einigen Moscheen und dem Mardin Museum. In der Nähe liegen noch mehrere syrisch-orthodoxe (aramäische) Klöster wie Mor Gabriel und Zafaran sowie die ehemalige Klosterkirche von Anıtlı. Wer möchte, kann noch die spätantike Festungsstadt Anastasiupolis – heute Dara – wenige Kilometer nördlich der syrischen Grenze besuchen. Dort sind vor allem die Felsengräber und Zisternen eine Besichtigung wert.

Von den Reisehinweisen des Auswärtigen Amts, das vor Reisen in die Grenzgebiete zu Syrien und dem Irak dringend abrät, sollten Sie sich nicht beeindrucken lassen, da diese hier – wie meist – übertrieben sind. Am Berg Nemrut Dağı, Zentrum des im 2./1. Jahrhunderts v. Chr. bestehenden Kleinkönigtums Kommagene, errichtete der König Antiochos I. Theos ein sog. Hierothesion. Das ist eine Mischung aus Grabstätte und Heiligtum. Man findet mehrere Terrassen mit Geröllaufschüttungen und ehemals acht bis zehn Meter hohen Statuen, die noch immer beeindrucken.

In Ostanatolien – wo die Sehenswürdigkeiten noch weiter auseinander liegen als in Südostanatolien – ist der Vansee, der größte See der Türkei, mit dem früheren armenischen Kloster Akdamar auf der gleichnamigen Insel zu empfehlen, wohingegen die Provinzhauptstadt Van nach dem Völkermord an den Armeniern 1915 mehrere Kilometer entfernt von Alt-Van komplett neu aufgebaut wurde und heute uninteressant ist. In der Nähe des Ortes Doğubeyazıt unweit der iranischen Grenze steht der Ischak-Pascha-Palast aus dem 17./18. Jahrhundert. In Kars und vor allem im Ruinenort Ani stößt man erneut auf armenische Spuren. In der größten Stadt Ostanatoliens, nämlich Erzurum, befinden sich viele Gebäude aus der seldschukischen Periode der türkischen Geschichte wie etwa die Yakutiye- oder die Çifte-Minare-Medresse.

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