24.04.2015
Türkei: Der Völkermord an den Armeniern nach hundert Jahren
Essay von Frank Furedi
Der Völkermord an den Armeniern jährt sich zum hundertsten Mal und die türkische Regierung weigert sich, einen der größten Genozide des vergangenen Jahrhunderts anzuerkennen. Frank Furedi blickt zurück und zeigt, welche heutigen Probleme damit verknüpft sind
Der Völkermord an der armenischen Bevölkerung beschäftigt die Welt noch heute. Papst Franziskus bezeichnete das Massaker 1915 an den Armeniern durch die osmanische Türkei vor kurzem als den „ersten Völkermord des zwanzigsten Jahrhunderts“ und forderte, ihn als ein ähnliches Verbrechen wie den Holocaust anzuerkennen. Die türkische Regierung reagiert sehr empfindlich auf jede Diskussion über das Thema, und zog sogar ihren Botschafter aus dem Vatikan zurück. Sie beschuldigte Papst Franziskus, Hass zu schüren und „haltlose Behauptungen“ aufzustellen. Der türkische Außenminister tweetete: „Die Äußerungen des Papstes liegen fern der historischen und rechtlichen Wahrheit und sind inakzeptabel.“
In Ländern wie Deutschland und den Niederlanden streitet die Politik über die richtige Sprachregelung, auch der türkische Botschafter in Wien wurde mittlerweile abgezogen. Die Kontroverse – stets durch Diskussionen um die systematische Ausrottung des armenischen Volkes zum Höhepunkt des Ersten Weltkrieges ausgelöst – zeigt, dass viele Fragen über das historische Ereignis offen geblieben sind.
Leider wurde der Begriff „Völkermord“ in den letzten Jahren zu oft verwendet und verlor deshalb an Gewicht. Aktivisten setzen Genozid häufig mit Fällen von Massengewalt und Massenmord gleich. Jedoch entspricht Völkermord nicht einer großen Zahl von Morden, der gewaltsamen Vertreibung einer Gruppe, nicht einmal der Vernichtung einer ganzen Gemeinschaft. Derlei zu oft auftretende Tragödien können das Ergebnis eines Zusammenbruchs militärischer Disziplin, des rücksichtslosen Verhaltens örtlicher Befehlshaber und einzelner Einheiten sein oder aus dem Entschluss resultieren, ein Volk bis zur Kapitulation zu terrorisieren.
„Man kann berechtigterweise von einem Völkermord an den Armeniern sprechen“
Völkermord hingegen bezeichnet einen durchdachten Plan mit dem Ziel der Auslöschung eines gesamten Volkes, dessen Kultur und seiner sozioökonomischen Institutionen. Im schicksalhaften Fall der Armenier verfolgte die osmanische Türkei einen vom Staat koordinierten Plan zur Vertreibung und Vernichtung der gesamten armenischen Bevölkerung. Aus diesem Grund kann man berechtigterweise von einem Völkermord an den Armeniern sprechen.
Vor 100 Jahren, am 24. April 1915, einem Tag vor der Landung der Briten in Gallipoli, verhafteten die türkischen Behörden 250 berühmte armenische Intellektuelle und politische Führer in Konstantinopel. Dieses Vorgehen wurde damit gerechtfertigt, dass man potentiellen Widerstand dieser Christen – die eine Minderheit waren und deren Loyalität gegenüber dem Osmanischen Reich nicht selbstverständlich erschien – von vornherein zu verhindern suchte. Im Mai jenes Jahres war die innere Verfolgung des armenischen Volkes so weit eskaliert, dass die Regierung mit der Deportation von Armeniern aus militärisch sensiblen Gebieten begann. Armenische Männer wurden in Arbeitskommandos gezwungen und ganze Großgruppen zu Märschen in weit entfernte unwirtliche Lager Nordsyriens getrieben. Tausende Armenier starben auf dem Weg, weit mehr wurden ausgeraubt und sexuell missbraucht. Zahlreichen Beobachtern war offenkundig, dass die Deportationspolitik de facto ein Ausrottungsprogramm darstellte.
Dem amerikanische Botschafter im Osmanischen Reich, Henry Morgenthau, zufolge war türkischen Regierungsvertretern sehr wohl bewusst, dass die „große Mehrheit“ der Armenier niemals an ihrem Ziel ankommen würde. „Mit Erteilung der Deportationsbefehle verurteilten die türkischen Behörden schlicht ein ganzes Volk zum Tode“. Ab Sommer 1915 wurden zehntausende Armenier getötet. Die Gewalt dauerte bis zum Ende des Türkischen Befreiungskriegs 1923 an. Zu diesem Zeitpunkt betrug die Zahl der getöteten Armenier schätzungsweise 1,5 Millionen – bei einer Bevölkerungszahl von circa 2,5 Millionen vor Kriegsausbruch.
Damals konnte der armenische Völkermord als Schlussakt des korrupten und ungezügelten Osmanischen Reiches vor seiner Auflösung interpretiert werden. Die Gräueltaten gegen die armenischen Christen wurden zudem durch religiöse Spannungen in der Region begünstigt, die während des Ersten Weltkriegs entfacht worden waren. Führende muslimische Geistliche schürten Hass gegen Christen. Zeitweise strömten ganze Scharen aufgebrachter Muslime aus ihren Moscheen und versuchten, armenische Christen mit Gewalt zu konvertieren. Die antichristliche Gewalt richtete sich übrigens nicht nur gegen Armenier. Ähnlich wurde gegen die Ostkirchen der Assyrer und Chaldäer und natürlich der Griechen vorgegangen.
„Der Schrecken kulturell begründeter Gewalt sucht die Region erneut heim“
Bis zum Nazi-Holocaust in Deutschland war der Völkermord an den Armeniern von 1915-1923 das extremste und destruktivste Beispiel einer tödlichen Synthese von Kultur und Militarismus. Tragischerweise kann die türkische Regierung das Ausmaß der Verbrechen, die auf ihrem Boden ausgeübt wurden, bis heute nicht anerkennen. Ihre Weigerung, die Vergangenheit zu bewältigen, bringt eine Atmosphäre des Misstrauens und der Feindseligkeit zwischen den verschiedenen Gruppierungen hervor, die die Region heute bewohnen. Und das ist ein ernsthaftes Problem.
Der Schrecken kulturell begründeter Gewalt sucht diese Region jetzt nämlich erneut heim. Bis vor kurzem diente die große armenische Kirche im syrischen Deir-al-Zour als Gedenkstätte für die Massentötungen. Anfang des Jahres jagte eine Gruppe von Islamisten in einem grausamen Akt von Vandalismus die Kirche in die Luft. Sie zerstörten die Archive und Knochen von hunderten Opfern der Massaker von 1915 landeten verstreut auf den Straßen.
Die Anerkennung der schrecklichen Verbrechen an den Armeniern vor einem Jahrhundert geht also über die Richtigstellung eines historischen Vergehens hinaus. Sie ist zudem notwendig, um der Verbreitung von Gewalt zwischen religiösen Gruppen, die den Mittleren Osten im 21. Jahrhundert vermehrt heimsucht, zu entschärfen und zu zügeln. Der Papst hat zu Recht an die Weltöffentlichkeit appelliert, dem hundertsten Jahrestag des armenischen Völkermords die Aufmerksamkeit zu schenken, die er verdient.