26.07.2024
Unkritisch Reisen: Kanaren
Von Niels Hipp
Auf den Kanarischen Inseln gibt es Proteste gegen Massentourismus. Der ist dort aber nicht das Problem, sondern der entscheidende Wirtschaftsfaktor. Mehr ökonomische Diversifizierung täte jedoch gut.
Unsere heutige „unkritische Reise“ führt uns auf die Kanaren, eine zu Spanien zählende Inselgruppe im Atlantik, die südwestlich von Marokko liegt und die ich im März 2022 bereist habe.
Die Kanaren sind, ähnlich wie die Balearen und Barcelona, in letzter Zeit wieder Schauplatz von Protesten gegen den sog. „Massentourismus“ geworden. Damit ist gemeint, dass sich eine Vielzahl von Reisenden zur selben Zeit am selben Ort aufhält. Fließend ist der Übergang zum sog. „Overtourism“ (Übertourismus), was für die Welttourismusorganisation UNTWO bedeutet, dass durch die vielen Reisenden die wahrgenommene Lebensqualität der Bewohner und/oder das Reiseerlebnis der Besucher übermäßig beeinflusst werden. Der „Overtourism“ wird also subjektiv definiert, es mangelt an einer objektiven Definition – etwa der Besucher pro Jahr im Verhältnis zu Einwohnern.
Da fängt das Problem schon an: Mit dem gestiegenen Wohlstand ist die Überempfindlichkeit in westlichen Gesellschaften und v.a. in deren tonangebenden neulinken Milieus, die Politik, Wirtschaft und Medien beherrschen, gestiegen. Die – fast schon pathologische – permanente Problematisierung von Tourismus durch wohlhabende Westeuropäer ist allerdings kein Naturgesetz, wie der unproblematische weitere Ausbau des Tourismus in den ebenfalls wohlhabenden, von uns bereits „unkritisch bereisten“ Gegenden wie Dubai und Saudi-Arabien zeigt.
Nun gibt bzw. gab es auch Formen von Überempfindlichkeiten in traditionellen Gesellschaften. Diese betrafen einen traditionellen Wertkodex, etwa bezogen auf die Familie (z.B. bei Scheidung, Abtreibung). Heutzutage sind es andere Themen, vor allem aber wird viel mehr problematisiert als früher, einmal bezogen auf ideologische Themen wie Umwelt und Klima, aber es geht noch darüber hinaus und immer wieder hört man antikapitalistische Töne („Die Kanaren sind nicht zu verkaufen“). Bei den Kanaren zeigt sich die Breite der Überempfindlichkeit auch sehr gut: Man beschwert sich über Lärm, Müll, Abgase, Staus, Flächenversiegelung, als zu schlecht empfundene Arbeitsbedingungen, zu hohe Mieten, man befürchtet den Verlust der eigenen Kultur usw.
„Solange eine weniger tourismusabhängige Wirtschaftsstruktur auf den Kanaren nicht in Sicht ist, sollten deren Bewohner, bevor sie demonstrieren gehen, bedenken, dass sie damit den Ast absägen könnten, auf dem sie selbst sitzen.“
Die positiven Seiten werden von den Protestierern und erst recht von den Medien nicht ausreichend gewürdigt: Tagesschau.de weist zwar zurecht darauf hin, dass der Tourismus auf den Kanaren 35 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmacht und für 40 Prozent der Arbeitsplätze sorgt. Das Fazit des Mediums lautet dann aber: Vom Boom profitieren nur wenige. Das ist ein Widerspruch in sich! Wenn der Tourismus 40 Prozent der Arbeitsplätze sichert, dann profitieren doch die Arbeitsplatzinhaber und ihre Familien davon, und das sind bei 40 Prozent eben nicht nur wenige, sondern ganz viele! Wenn es den Tourismus nicht gäbe, dann wären sie zumindest zum erheblichen Teil arbeitslos, und das bei heute schon einer der höchsten Arbeitslosenquoten in der EU. Die protestierenden Bewohner der Kanaren wiederum schätzen den Wohlstand durch den Tourismus offenbar zu wenig, sie nehmen ihn als gegeben an. Manche wollen wohl – wie die Protagonisten von Vier-Tage-Woche und Bedingungslosem Grundeinkommen – eine Art anstrengungslosen Wohlstand. Aber den gibt es nicht, beim Tourismus sind Lärm etc. nicht vermeidbar.
Nun kann man einen derart hohen Anteil des Tourismus an der Wirtschaftsleistung durchaus auch als Warnsignal, als Zeichen von Schwäche betrachten. 35 Prozent auf den Kanaren und zuletzt 12,8 Prozent in ganz Spanien sind viel mehr als in den meisten westlichen Ländern. Das zeigt, dass eine hinreichende Diversifizierung der Wirtschaftsstruktur nicht gelungen ist; wenn also eine ganz entscheidende Branche schwächelt, leidet die ganze Region, was wir in Deutschland etwa vom Ruhrgebiet kennen.
Manche behaupten gar, ein hoher Touristenanteil am BIP würde die Notwendigkeit zur Modernisierung der Volkswirtschaft untergraben und eine Erstarrung der Wirtschaftsstruktur mit sich bringen, was man als Sonderform des Ressourcenfluchs bezeichnen könnte. Nach dem Motto: Wir haben ja die Ressource Touristen, da brauchen wir nichts zu modernisieren, da müssen wir nichts in die Diversifizierung der Volkswirtschaft investieren. Dazu muss man natürlich einwenden, dass die Ansiedelung anderer Wirtschaftszweige auf den Kanaren nicht erzwungen werden kann, wie die zahlreichen Investitionsruinen in Ostdeutschland nach der Wende (z.B. Cargolifter) zeigen. Die Abgeschiedenheit der Inseln allein ist aber kein Argument gegen eine bessere, stärker diversifizierte Wirtschaftsstruktur und mehr Wohlstand – siehe Island – und ihre Größe behindert auch nicht unbedingt die wirtschaftliche Entwicklung – siehe Malta. Solange eine weniger tourismusabhängige Wirtschaftsstruktur auf den Kanaren nicht in Sicht ist, sollten die Bewohner der Kanaren, bevor sie demonstrieren gehen oder anderweitig entsprechende politische Forderungen erheben, bedenken, dass sie damit den Ast absägen könnten, auf dem sie selbst sitzen.
Die Probleme vor Ort wären – bei entsprechendem Willen – schon lösbar: Transparente bei Demonstrationen wie „Der Tourismus erhöht meine Miete“ zeugen von einem naiven Nullsummenspieldenken. Es ist nicht so, dass mehr Touristen automatisch zu höheren Mieten führen. Das ist nur so, wenn ein gleichbleibendes (oder sinkendes) Angebot auf eine steigende Nachfrage trifft. Würde aber genug gebaut, dann würden die Miet- und Kaufpreise von Immobilien wieder sinken. Wenn nicht genug gebaut wird, dann liegt das daran, dass staatliche Regulierung das verhindert, worauf Christoph Lövenich zurecht hinweist, denn für Unternehmer wäre der Bau von Wohnungen für Einheimische bei steigender Bevölkerung und steigenden Touristenzahlen mehr als lukrativ.
„Auf Gran Canaria gibt es sogar archäologische Stätten zu erkunden.“
Dann gibt es noch ein Problem, welches auf den Kanaren – im Gegensatz zur Situation bei Tesla in Brandenburg – tatsächlich existiert, nämlich Wasserknappheit. Auch hier sollte die Lösung nicht Beschränkung heißen, sondern Technologie: Man muss dann das tun, was Länder wie Israel, Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate mit Erfolg praktizieren, nämlich mit Meerwasserentsalzungsanlagen zu arbeiten. Saudi-Arabien betreibt sogar Wasserpipelines. Man muss die Probleme einfach nur pragmatisch lösen wollen. Und dafür ist das richtige Mindset entscheidend.
Was kann man aber auf den Kanaren besichtigen? Die Kanaren sind sicherlich – im Gegensatz zu den bisher „unkritisch bereisten“ Ländern – kein ausgesprochenes Kulturreiseziel, sondern eher etwas für Bade- bzw. Sonnenhungrige. Es gibt aber auch für Kulturtouristen einige Sehenswürdigkeiten. Ich beschränke mich hier auf die vier bedeutendsten Inseln, nämlich (nach Einwohnerzahl absteigend) Teneriffa, Gran Canaria, Lanzarote und Fuerteventura. Auf Teneriffa finden sich einige interessante Orte wie San Cristobal de la Laguna (UNESCO-Welterbe!), La Orotava, Puerto de la Cruz, Garachico und Candelaria. In Puerto de la Cruz kann man den bekannten Loro Parque besichtigen, einen Zoo, der nicht nur durch Vorführungen mit Papageien (spanisch: Loros), sondern vor allem durch die Delfin- und Orcashows besticht. Er beherbergt aber auch andere Tiere, z.B. die seltenen Zwergflusspferde. Für Alpinisten interessant ist noch der Berg Teide, die höchste Erhebung Spaniens.
Auf Gran Canaria gibt es sogar archäologische Stätten zu erkunden. Sehr sehenswert sind in diesem Kontext das Cenobio de Valerón und die Cueva Pintada. Zusätzlich wären noch die historischen Orte Agüimes, Telde und Teror zu nennen. In der Inselhauptstadt Las Palmas ist u.a. die Kathedrale einen Blick wert. Bei Touristen bekannter sind noch die Dünen von Maspalomas. Ganz anders wiederum ist es auf Lanzarote. Man sieht überall auf der Insel schwarze Lava von Vulkanausbrüchen, die einen interessanten Kontrast zu den überwiegenden weißen Häusern darstellt. Wer sich für Vulkane interessiert, dem sei der Timanfaya-Nationalpark samt Besucherzentrum empfohlen, dort kann man auch auf einem Kamel reiten. Außerdem gibt es auf Lanzarote mehrere Höhlen, einen Kakteengarten und für kulturhistorisch Interessierte die neue Inselhauptstadt Arecife und v.a. die alte Inselhauptstadt Teguise zu sehen. Fuerteventura – landschaftlich eine Mischung aus Lava und Wüste – bietet kulturhistorisch am wenigsten, nur die alte Stadt Betancuria.
Wer nicht primär baden oder wandern will, dem sei eine Kombinationsreise aus mehreren Inseln empfohlen. Man kann eine solche Reise entweder auf einem Kreuzfahrtschiff absolvieren oder mittels verschiedener Fähr- und Flugverbindungen. Für Mietwagenfahrer ist die Flugvariante m.E. die beste, da an den Häfen nicht immer Mietwagen zur Verfügung stehen. Ohne Mietwagen lassen sich die Inseln zumindest bei nur kurzer Aufenthaltsdauer nicht vernünftig bereisen, da Busse nicht überall regelmäßig verkehren und Schienenverkehr nur in Form von zwei Straßenbahnlinien auf Teneriffa existiert.