26.07.2020
Von muslimischen Marsmenschen und konservativen Maoisten
Von Kolja Zydatiss
Die Rückumwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee hat eine bizarre Debatte ausgelöst, in der Muslime exotisiert werden und Konservative zu radikalen Säkularisten mutieren.
Eine Nachrichtenmeldung aus einem Paralleluniversum, das unserer Welt nicht unähnlich ist:
In der Sankt-Georgs-Kathedrale im bulgarischen Plowdiw fand am Sonntag erstmals seit 74 Jahren wieder ein christlicher Gottesdienst statt. Neofit, Patriarch der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche, weihte das Gebäude in einem feierlichen Akt ein. Anwesend waren auch der bulgarische Staatspräsident Rumen Radew sowie Premierminister Bojko Borissow. Die Sankt-Georgs-Kathedrale wurde im Jahr 1431 unter der osmanischen Herrschaft als sunnitisch-islamische Moschee erbaut und ab dem Jahr 1878 als christliche Kirche genutzt. Der kommunistische Machthaber Georgi Dimitrov verwandelte das Gebäude 1946 in ein Museum. Der Wiedereinweihung waren umfangreiche Renovierungsarbeiten vorangegangen, die von privaten Spendern sowie aus EU-Mitteln finanziert wurden.
Die Entscheidung, die Sankt-Georgs-Kathedrale wieder aktiv als christliches Gotteshaus zu nutzen, war im Vorfeld von islamischen Gruppen kritisiert worden. Begrüßt wurde die Entscheidung hingegen von der Europäischen Kommission, sowie von den Regierungen Russlands, Griechenlands, Rumäniens, Serbiens und der USA. Auch die Sprecherin des Vatikans, Stefania Severo, übermittelte im Namen von Papst Franziskus ein Grußwort an die Bulgarisch-Orthodoxe Kirche. „Es ist schön zu sehen, wie die Wunden, die die kommunistische Unrechtsherrschaft geschlagen hat, verheilen, und die Kathedrale wieder von Gläubigen genutzt werden kann“, zitiert die Deutsche Presse-Agentur (dpa) die Sprecherin.
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Wenn zwei das Gleiche tun, ist das noch lange nicht dasselbe.
In den letzten Tagen hat sich eine aufgeladene Debatte um die Entscheidung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan entsponnen, die Hagia Sophia in Istanbul wieder aktiv als Moschee zu nutzen. Das gigantische, architektonisch einzigartige Bauwerk war im Jahr 537 n. Chr. als Römische Reichskirche eröffnet worden. Später war das Gotteshaus byzantinisch-orthodox, dann kurz eine katholische Kathedrale. Ab 1261 war die Hagia Sophia griechisch-orthodoxe Kathedrale. Nach der islamischen Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 fungierte sie als Hauptmoschee des Osmanischen Reiches, bis der Gründer der heutigen Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, das Gebäude 1935 im Rahmen seiner Säkularisierungs- und Modernisierungspolitik in ein Museum verwandelte.
„Es ergibt durchaus Sinn, die Umwandlung der Hagia Sophia als eine Art kulturelle Kriegserklärung an den Westen zu interpretieren.“
Der Tenor der westlichen Erklärungen zu dem Thema ist eindeutig. Die EU, Russland, die USA sowie Papst Franziskus nannten die Entscheidung Erdoğans bedauerlich. Auch der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, hat die Pläne kritisiert. Für Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn ist die Umwandlung ein „Schlag gegen die Allianz der Zivilisationen“. Auch in den Medien trifft die Entscheidung nahezu einstimmig auf Ablehnung und Entsetzen. Der konservative Publizist Wolfram Weimer etwa bezeichnet die „muslimische Annexion der Hagia Sophia“ als „kulturelle Kriegserklärung an den Westen“, eine Wortwahl, die wohl Assoziationen an militärische Eroberungen wecken soll.
Nun ist Erdoğan tatsächlich einer der unsympathischsten und gefährlichsten Staatschefs unserer Zeit. Der demokratisch gewählte Politiker, getragen vor allem von der religiösen türkischen Mittelschicht, deren islamisch-populistische Parteien in den letzten Jahrzehnten immer wieder vom kemalistischen Establishment verboten oder weggeputscht worden waren, wenn sie zu mächtig wurden, versucht nun seinerseits, die Türkei im Sinne seiner fundamentalistischen Interpretation des Islams und seiner nationalistischen Ideologie gleichzuschalten. Christen, Kurden und andere Minderheiten werden unterdrückt, Oppositionelle und kritische Journalisten eingesperrt, missliebige Richter und Staatsanwälte aus dem Weg geräumt. Das Leben von Türken mit „westlichem“ Lebensstil wird durch illiberale Gesetze zunehmend erschwert. Tatsächlich verfolgt Erdoğan, wie Wolfram Weimer schreibt, eine aggressive Machtpolitik gegenüber Ländern wie Griechenland, Zypern oder Israel. Neue Moscheebauten und Imame, die von der türkischen Religionsbehörde Diyanet ausgebildet wurden, sollen in ganz Europa islamistisch und türkisch-nationalistisch geprägte Gegengesellschaften stärken. Vor diesem Hintergrund ergibt es durchaus Sinn, die Umwandlung der Hagia Sophia als eine Art kulturelle Kriegserklärung an den Westen zu interpretieren.
Dennoch muss sich der Westen an seinen eigenen aufklärerisch-liberalen Maßstäben messen, und nicht der identitären, kulturkämpferischen Politik eines Erdoğan einen eigenen christlichen Tribalismus entgegensetzen. Es ist richtig, wenn sich der Westen für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in der Türkei starkmacht. Erdoğans geopolitische Machtspiele im Mittelmeerraum, seine Unterstützung islamistischer Terrorbanden in Syrien und anderswo, hätten schon längst zu einem Rausschmiss aus der NATO und harten wirtschaftlichen Sanktionen führen müssen. Und extremistische Exportimame auszuweisen oder besser zu kontrollieren, wäre wohl auch rechtlich möglich und geboten. Das aktuelle Gezeter um die Umwandlung der Hagia Sophia ist allerdings, wie ich denke, aus zweierlei Gründen unangebracht.
„Der Westen muss sich an seinen eigenen aufklärerisch-liberalen Maßstäben messen, und nicht der identitären, kulturkämpferischen Politik eines Erdoğan einen eigenen christlichen Tribalismus entgegensetzen.“
Erstens sollte sich der Westen meiner Meinung nach nicht primär durch die Verteidigung „christlicher Identität“ definieren (was auch immer damit gemeint sein mag), sondern durch einen moralischen Universalismus, der zwar historische Wurzeln im Christentum hat, aber im Wesentlichen ein Produkt der Aufklärung ist. Dieser Universalismus gebietet es uns, die Religionsfreiheit rechtlich festzuschreiben und alle Religionen absolut gleich zu behandeln. Für den Islam darf es keine „Extrawurst“ geben, weder im positiven noch im negativen Sinne.
Leider dominierte im Westen lange Zeit ein von der westlichen Moderne desillusionierter Linksliberalismus, der von der Unmöglichkeit universeller moralischer Standards ausging und (vielleicht auch aus Angst, rassistisch zu erscheinen oder den Rassismus zu befördern) Kritik an den kulturellen Praktiken nichtwestlicher Völker zu unterbinden suchte. Dieses Denken zeigt sich u.a. in dem medial viel thematisierten „Kulturbonus“ oder „Islam-Rabatt“ bei der Verurteilung sogenannter „Ehrenmörder“. Jetzt, wo die Probleme mit migrantischen Parallelgesellschaften und einem (gewaltbereiten) Islamismus nicht mehr zu leugnen sind, scheint die gesellschaftliche Stimmung ins Gegenteil zu kippen. Viele Menschen wünschen sich, dass nun endlich eine rote Linie gezogen wird, ein klares Signal gesandt wird an Islamisten und integrationsunwillige Migranten.
Das ist menschlich verständlich. Wenn aber ein eigentlich relativ banaler Akt – die Rückumwandlung eines Gebäudes, das die wechselhafte Geschichte Istanbuls/Konstantinopels spiegelt und daher lange Kirche, aber auch lange Moschee war, in eine aktive Moschee, während ohnehin kaum noch Christen in der Stadt leben – zu einem epischen Angriff eines monolithischen Gebildes „Islam“ auf „den Westen“ stilisiert wird, so ist das genau so wenig aufklärerisch wie die kulturrelativistische Sichtweise. Besonders wenn es von Menschen kommt, die selbst keine orthodoxen Christen sind bzw. qua Amtes die Interessen dieser Glaubensgemeinschaft vertreten, also selbst gar nicht direkt betroffen sind, sondern sich bloß als Verteidiger eines angeblich durch den Islam belagerten Abendlandes inszenieren wollen. Solche Äußerungen sagen mehr über die aktuelle Verunsicherung und Desorientierung im Westen aus, als über die tatsächliche Bedrohung durch fundamentalistische Spielarten des Islams. Bei beiden Sichtweisen – der kulturrelativistischen sowie der abendländisch-identitären – bleibt „der Türke“ bzw. „der Muslim“ ein exotisierter „Anderer“, der niemals seine Rückständigkeit überwinden wird, der uns niemals ebenbürtig sein kann, wie etwa die Bulgaren aus dem Gedankenexperiment am Anfang dieses Textes.
„Für den Islam darf es keine ‚Extrawurst‘ geben, weder im positiven noch im negativen Sinne.“
Zweitens ist der Westen durch demokratische und antitotalitäre Werte definiert. Versuche, am Reißbrett die ideale Gesellschaft oder den „neuen Menschen“ zu entwerfen und durch autoritäre Zwangsmaßnahmen durchzusetzen, sollten westlichen Demokratien fremd sein (weshalb auch der aktuelle Trend zu immer kleinteiligerer Lifestyleregulierung, v.a. im Namen der „öffentlichen Gesundheit“, aus demokratietheoretischer und bürgerrechtlicher Sicht äußerst besorgniserregend ist).
Ganz anders die Werte der sogenannten „Erziehungsdiktaturen“, die im 20. Jahrhundert in vielen Ländern etabliert wurden. In diesen Staaten bewunderten zwar die Machthaber viele Aspekte der Moderne und wollten diese vorantrieben, allerdings ohne Rücksicht auf individuelle Menschen- und Bürgerrechte oder die Demokratie. Die schlimmsten Verbrechen wurden von autoritären Modernisierern begangen, die sich als Vertreter der marxistischen Denktradition sahen. Der von Mao inspirierte albanische Diktator Enver Hoxha erklärte sein Land etwa zum „ersten und einzigen atheistischen Staat der Welt“ und verbot den Einwohnern ab 1967 jegliche Religionsausübung. Doch auch gütigere, nicht-kommunistische Machthaber wie Mustafa Kemal Atatürk teilten das elitäre, technokratische Politikverständnis der marxistisch-leninistischen Regime, ihre Reduzierung der Menschen auf Mittel zum Erreichen des progressiven Zwecks.
Vor diesem Hintergrund kann man Erdoğans Hagia-Sophia-Entscheidung sogar als Wiedergutmachung historischen Unrechts betrachten. Par Ordre du Mufti (bzw. par Ordre du Président) wurde 1935 aus ideologischen Gründen die Hauptmoschee der Türkei geschlossen, nach fast 500 Jahren ununterbrochener Nutzung als Moschee. Ihre Rückumwandlung in einen aktiven Sakralbau kann auch Menschen erfreuen, die mit Erdoğans Politik wenig am Hut haben, etwa den linken Schriftsteller Feridun Zaimoglu. „Ich begrüße, wenn in einem Gotteshaus wieder ein Gott angebetet wird“, sagt der Deutschtürke in einem aktuellen Interview der „Zeit“-Beilage „Christ & Welt.“ „Die Hagia Sophia wurde ja schließlich nicht als Verwahranstalt und Showroom von Kultgegenständen gebaut.“ Eine antitotalitäre Haltung, konservativer, im besten Sinne des Wortes, als die aktuellen Äußerungen vieler selbsternannter Konservativer, die alles durch die Linse ihres epischen Kampfes gegen „den Islam“ betrachten wollen, und dabei eher an Maoisten erinnern.