17.10.2011
Das ist keine Aufklärung!
Analyse von Kai Rogusch
Warum es in der Debatte um Verschleierung nicht um die Rechte von Frauen geht.
„Gehört“ der Islam zu Deutschland? Anlässlich der Sarrazin-Debatte wird deutlich, dass Vorbehalte gegenüber muslimischen Einwanderern in Deutschland von einer breiten Gesellschaftsströmung geteilt werden. Schon bei einer Allensbach-Umfrage aus dem Jahre 2006 [1] war eine große Mehrheit der Befragten der Meinung, „der Islam“ passe nicht in die Demokratie, denn er sei „fanatisch“ und „rückwärtsgewandt“. Ein gängiger Grundgedanke der Islamdebatte besagt, dass der Islam noch nicht in der Aufklärung „angekommen“ sei - so formuliert es etwa die „Islamkritikerin“ Necla Kelek. [2] Deshalb könnten wir, der freie Westen, ihm die Religionsfreiheit unserer Verfassung nicht (oder nur bedingt) zugestehen. Wer sich zum Islam bekennt, sieht sich deshalb rasch mit Forderungen nach Kopftuch- oder Minarettverboten konfrontiert. Die Burkadebatte, die Anfang 2011 anlässlich eines arbeitsrechtlichen Streitfalls in der Frankfurter Stadtverwaltung bundesweit hohe Wellen schlug, offenbarte, dass muslimische „Symbole der Rückständigkeit“ mittlerweile empfindliche, ja feindselige Reaktionen in der deutschen Bevölkerung auslösen können. Die bundesweite Politisierung des Schleiers zeigt aber vor allem, dass sich islamkritisch bezeichnende Strömungen gerne auf die Errungenschaften der Aufklärung berufen, dass sie aber ihrerseits weit hinter deren Prinzipien zurückfallen.
Der Islam ist wie andere Religionen und Erscheinungen gewiss kritikwürdig. Doch „Kritik“ kann nur wirken, wenn sie sich an einen Ansprechpartner richtet, den man als diskursfähig erachtet und als Gesprächspartner ernst nimmt. Dagegen zeigt die Burkadiskussion, dass die Erfordernisse an Toleranz, Offenheit oder gar Unvoreingenommenheit nicht erfüllt sind. Einzelne Akteure propagieren offen anti-islamische Positionen und negieren, dass freie Gewissensbildung eine Minimalvoraussetzung jedes aufgeklärten Austausches ist. Die Anti-Islam-Strömung ist auf vielfältige Weise zu kritisieren:
- Die Anti-Islam-Strömung politisiert den Islam auf eine verzerrende und einseitige Weise.
- Sie zielt darauf ab, unliebsame Erscheinungen per Gesetz aus dem öffentlichen Raum zu „verbannen“ und offenbart damit, dass es ihr an innerer Stärke und an Souveränität für die Auseinandersetzung mit „Befremdlichem“ fehlt.
- Sie möchte symbolische Handlungen bestrafen und beurteilt Menschen nicht mehr nach dem, was sie tun, sondern nach ihrer Gesinnung und spekulativen Folgetaten.
- Sie missachtet die freie Entscheidungsfindung des Einzelnen und missachtet, dass Freiheit und Rechtsstaatlichkeit universelle Prinzipien sind.
Als Begleitumstand einer in ganz Europa betriebenen „Islampanik“ sehen wir unterdessen klare Konturen einer Politik, die sich durch Stimmungen und Randerscheinungen zu Entscheidungen veranlasst sieht, die auf eine Aufweichung der für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung elementar wichtigen Religions- und Gewissensfreiheit hinauslaufen. Das hat Folgen für uns alle, denn zur Disposition steht die freie und höchstpersönliche Willensbildung, die in einem demokratischen Gemeinwesen unteilbar ist.
Die Burkadebatte schürt Vorurteile
In der öffentlichen Wahrnehmung hat sich mittlerweile ein falsches Bild der „voraufklärerischen Rückständigkeit“ aller Muslime verfestigt. Nun befördert die Politik obendrein den Eindruck, die Burka sei ein Belang von allgemeiner Bedeutung. Statt den Burkastreit dort zu belassen, wo er hingehört, nämlich auf der trivialen Ebene eines arbeitsrechtlich zu lösenden Streitfalls, fühlt man sich dazu veranlasst, sich auf Debatten über die „Überforderung der Toleranz“ [3] einzulassen, der nur mittels staatlicher Verbote beizukommen sei. Damit verstärkt man das Vorurteil, demzufolge die Burka ein Vorbote der „Islamisierung“ des deutschen Staates sei. Mehr noch: Indem sie die Burka, die in Deutschland kaum getragen wird, [4] in den Rang eines die Politisierung verdienenden Phänomens erhebt, verstärkt die Politik ein bedrohliches Islambild, in dem Muslime per se als Träger rückständiger Traditionen erscheinen. Damit leistet die Politik einer Wahrnehmung muslimischer Migranten Vorschub, die der gesellschaftlichen Realität widerspricht.
Auf diese Weise entfacht man aufs Neue eine ausgrenzende und irreführende Debatte. Die pauschale Behauptung, die Integration muslimischer Einwanderer sei „gescheitert“ [5], bekommt wieder einmal neues Futter. “Muslime” werden in weiten Teilen der Gesellschaft als Fremdkörper betrachtet. Randständige Problemkerne, die es unter muslimischen Migranten gibt, werden verallgemeinert. Dafür gibt es allerdings keinen Grund. Die Lebenswirklichkeit von Muslimen und Deutschen gestaltet sich sehr viel positiver und vielschichtiger als die düsteren Verlautbarungen einer „islamischen Unterwanderung“ vermuten lassen. Nicht nur das alltägliche Leben, auch wissenschaftliche Untersuchungen über das Integrationsverhalten muslimischer Migranten zeigen, dass die stark popularisierten Vorurteile ob ihrer pauschalen „Rückständigkeit“ oder ihrer Vorliebe für das Verharren in verschlossenen “Parallelgesellschaften” haltlos sind.
Muslimische Realitäten in Deutschland I: Integration und Aufstiegswille
Studien über das Leben von muslimischen Bevölkerungsgruppen in Deutschlands verzeichnen in Bereichen wie etwa Bildung oder Arbeit in der Tat gewisse Missstände. Doch es ist unter Sachverständigen weitreichender Konsens, dass diese Probleme vor allem auf rechtliche, ökonomische oder politische Ursachen zurückzuführen sind. Auch neueste Studien belegen, dass Muslime in der Regel nicht passiv in einer Opferrolle verharren, sondern dass sie vielmehr aktiv und lernwillig sind, um als Teil unseres Gemeinwesens anerkannt zu werden. Die Biographien von Migrantenfamilien belegen zum Teil dynamische Bildungs- und Sozialaufstiege.
Zu solchen und ähnlichen Ergebnissen, die der öffentlichen Wahrnehmung widersprechen, sind verschiedene Untersuchungen gekommen, darunter:
- die vom Migrationsforscher Klaus Bade veröffentlichte Studie „Einwanderungsgesellschaft 2010“ [6],
- die vom Nürnberger Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verantwortete Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ aus dem Jahre 2009 [7],
- der „Sarrazin-Fakten-Check“ der Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan mit dem Titel „Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand. Ein empirischer Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins Thesen zu Muslimen“. [8]
Seriöse Studien stellen nicht in Abrede, dass beispielsweise Muslime türkischen Hintergrunds verhältnismäßig häufig Bildungsdefizite aufweisen und dass es auf anderen Feldern der „strukturellen Integration“ Versäumnisse gibt. Sie konstatieren aber auch einen deutlichen Bildungsaufstieg gerade dieser Migrantengruppen. Vor allem aber widersprechen sie dem Vorurteil, bei ihnen sei der „Bildungswille“ schwächer ausgeprägt als bei Deutschen oder Zuwanderern anderer Konfessionen.
Der „Sarrazin-Fakten-Check“ von Naika Foroutan besagt sogar, dass bei Personen türkischen Hintergrunds die Dynamik des Bildungsaufstiegs am höchsten und die Bildungsaspiration dieser Migrantengruppen stärker sei als bei Familien ohne Migrationshintergrund. Laut der Foroutan-Studie ist es zudem so, dass
- das Kopftuchtragen in den letzten Jahren abgenommen hat;
- mittlerweile mehr als 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler muslimischen Glaubens am Schwimmunterricht teilnehmen;
- „Muslime“ zahlreiche Kontakte zu Deutschen (ohne Migrationshintergrund) pflegen, und dass in fast allen Gruppen Muslime (mehr als drei Viertel der Befragten) häufige Freundschafts-und Nachbarschaftskontakte haben – die entsprechenden Werte über Kontakte am Arbeitsplatz sind ebenfalls hoch;
- die Zahl der interreligiösen Ehen bei muslimischen Männern mit über 30 Prozent deutlich höher liegt als bei Deutschen ohne Migrationshintergrund.
Angesichts umstrittener Fragen, die auch derartige Studien nicht restlos auszuräumen vermögen, ist es möglich, dass hier unterm Strich ein zu positives Bild der gesellschaftlichen Lage gezeichnet wird. Doch die Grundaussagen über die Offenheit und das Engagement muslimischer Bürger sind nicht von der Hand zu weisen. Auch der Blick ins Ausland lässt erkennen, dass der fortschrittliche Drang nach Freiheit viele Muslime auf der ganzen Welt erfasst hat. Die „Arabellion“ spricht hierfür Bände. Und in der Türkei vollzieht sich unter der konservativ-islamistischen Regierung Erdogan ein türkisches „Wirtschaftswunder“ [9] – getragen nicht unwesentlich von einer weltoffenen Generation junger Türken. Die Diskrepanz dieser globalen Sicht zu den hierzulande gängigen Stereotypen über muslimische Mitbürger könnte größer kaum sein.
Muslimische Realitäten in Deutschland II: Historische und aktuelle Diskriminierung
Wer unser Gemeinwesen stärken und Perspektiven für alle Bürger entwickeln möchte, hat sich auch den Schattenseiten der muslimischen Integration zu stellen. Doch die aktuelle Burka- und Islamdiskussion in Deutschland scheint kaum von Gutwilligkeit motiviert zu sein – schon gar nicht von einer universellen Vision oder ambitionierten Zielen, die Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur zusammenbringen. Vielmehr wird einer destruktiven Kulturalisierung von Missständen in muslimischen Migrantengruppen Vorschub geleistet. Bedenklich daran ist, dass diese Diskussionen auf juristische Diskriminierungen abzielen, wofür gesellschaftliche Randerscheinungen als Maßstab herangezogen werden.
Die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig hat in ihrem Buch „Das Ende der Geduld“ erschreckende Phänomene innerhalb muslimischer Bevölkerungsgruppen beschrieben. Doch wie bei allen Einzelbetrachtungen wäre es falsch, hieraus allgemeingültige Folgerungen abzuleiten, die dem Staat als Grundlage für gesetzliche Sanktionen oder Verbesserungen dienen. Hierfür bedarf es eines breiteren Ansatzes, der auch zur Kenntnis nimmt, dass die aktuelle Lebenswirklichkeit vieler Muslime in Deutschland sehr maßgeblich die Folge einer jahrzehntelangen rechtlichen, ökonomischen und sozialen Diskriminierung ist.
Wie der Sozialwissenschaftler Kenan Malik an anderer Stelle in NovoArgumente schreibt, wurden in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland vor allem türkische Einwanderer aus dem wirtschaftlich sehr schwach entwickelten Anatolien als Gastarbeiter angeworben [10]. Diesen Einwanderern wurde über Jahrzehnte keinerlei rechtliche und soziale Perspektive eröffnet. Sie wurden im wahrsten Sinne des Wortes für das deutsche Wirtschaftswunder ausgebeutet. Dabei blieben sie per Gesetz und Politik Menschen „zweiter Klasse“, sie wurden im klassischen Wortsinn unterdrückt, indem ihnen die Wahrnehmung demokratischer Rechte vorenthalten wurde. Dadurch wurden nicht zuletzt auch Chauvinismus und Abgrenzungswünsche von Seiten der deutschen Bevölkerung immer wieder aufs Neue reproduziert. Anreize, sich in Deutschland zu integrieren, gab es über lange Zeiträume nicht. Im Gegenteil: „Gastarbeiter“ wurden zu niedrigsten Arbeiten herangezogen und in abseits gelegenen Unterkünften gettoisiert. Ständig wurde ihnen suggeriert und gesetzlich bedeutet, dass sie nur „Gäste“ auf Zeit sind.
Die Ausländergesetzgebung der 1960er Jahre veranschaulicht dies. Das Ausländergesetz von 1965 verstieß klar gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. [11] Demnach war der „Staat, seine Einrichtungen und seine Rechtsordnung ... nur für die eigenen Staatsangehörigen geschaffen“ worden, denen „insbesondere die politischen Rechte (z.B. Wahlrecht, Versammlungsrecht) vorbehalten“ blieben. „Fremde Staatsangehörige“ standen, so das Gesetz, „zu dem Aufenthaltsstaat nicht in einem Treue und Rechtsverhältnis mit eigenen Rechten und Pflichten“. Ihnen gegenüber handelte der Staat „nach Zweckmäßigkeitserwägungen, die nach politischen Zielen ausgerichtet“ waren. Maßgeblich bei der Definition der Staatsbürgerschaft war das 1913 erlassene Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, welches das Recht von „Blut und Abstammung“ (ius sanguinis) propagierte.
Der Status des Fremden, den die restriktive deutsche Ausländerpolitik konstituierte, ist erst mit der liberaleren Einwanderungspolitik seit Beginn des letzten Jahrzehnts und mit den folgenden Integrationsbemühungen nachhaltig gelockert worden. Mittlerweile gibt es klare Perspektiven für die Einbürgerung, und die Politik ist darum bemüht, Deutschland zu einer weltoffeneren Republik auszugestalten. Doch die langanhaltende Unterdrückung hat Spuren hinterlassen, und auch heute ist es noch so, dass Ausländern viele Steine in den Weg gelegt werden. Die Altlasten der historischen Mehrfachdiskriminierung wirken fort, zumal soziale Statusnachteile in Deutschland sehr häufig an Nachfolgegenerationen übertragen werden.
Vor diesem Hintergrund wirkt der aktuelle Fokus auf den „Islam“ und die „Integrationsunwilligkeit“ von Muslimen geradezu anrüchig – vor allem, wenn er von Politikern und öffentlichen Kommentatoren befördert wird, die die Geschichte der deutschen Ausländerpolitik kennen sollten.
Nützliche Kritik braucht Toleranz
Heute brauchen wir mehr denn je eine tolerante Verständigung über kollektive Perspektiven unserer Gesellschaft, über Fehlentwicklungen in der bisherigen Ausländer- und Integrationspolitik und nicht zuletzt auch über die Missstände, die es in deutschen wie muslimischen Lebenskulturen gibt und die für aufgeklärte Bürger jedweder Konfession und Lebenseinstellung inakzeptabel sind.
Doch auffällig ist an den Versuchen, die „Probleme“ mit Muslimen anzusprechen, die tiefe Unsicherheit und Nervosität vieler Meinungsbildner. Fragen des persönlichen Geschmacks und der individuellen Willensbildung werden häufig mit Fragen der Rechtstaatlichkeit vermengt. Dabei kann und darf man die Burka in einer aufgeklärten Gesellschaft ohne Weiteres als rückständig, archaisch oder für ein zivilisiertes Miteinander als hinderlich empfinden und dies offen artikulieren. Man muss die Burka nicht akzeptieren oder gar aus falscher Toleranzauslegung für gut heißen. Aber der unbedachte Reflex in der hiesigen Diskussion deutet weg von der offenen Streitkultur mündiger erwachsener Menschen, die sich einer Auseinandersetzung stellen. Er richtet sich stattdessen an staatliche Organe, welche die Sache per Dekret richten sollen. Damit krankt die Debatte im Grunde just an der Kritik, die zumeist an Muslime gerichtet wird: Sie verschließt sich, geht der klärenden Auseinandersetzung aus dem Weg und überträgt das Mandat des freien Bürgers an Ordnungsbehörden – eine Tendenz, die sich auch in anderen Politikfeldern in einer schleichenden Verbotskultur offenbart.
Dass sich etwa die hessische Politik dazu veranlasst sieht, ein allgemeines Burkaverbot für hessische Bedienstete zu erlassen, geht auf einen solchen Mangel an Haltung und Orientierung zurück. Die überzogene Aufregung wegen einer ganzkörperverschleierten Frau hat den hessischen Innenminister dazu bewegt, eine allgemeine Regelung zu erlassen. Eine solche Politisierung eines Einzelfalls ist kein Zeichen von Souveränität. Dabei ist gegen eine begründete Versagung der Burka aus berufstechnischen oder Kleiderordnungsgründen in vielen Fällen nichts einzuwenden. Dies gilt für das normale Berufsleben wie auch für Schulen, wo eine Vollverschleierung dem Sinn und Zweck des gemeinsamen Schulbesuchs im Weg stünde. Doch im Einzelfall würde man vielleicht auch zum Ergebnis kommen können, dass das Tragen einer Burka im Berufsalltag kein Problem aufwirft.
Unsere Gesellschaft, deren freiheitlicher Charakter auch bei der Toleranz gegenüber missliebigen Erscheinungen immer wieder neu auf die Probe gestellt wird, geht aber schon seit einiger Zeit dazu über, Unangenehmes mittels rigider Kodexe aus der Welt schaffen zu wollen. Mit offiziellen Richtlinien möchte man sich unangenehmen, aber für die Willensbildung und Entscheidungsfindung wesentlichen Abwägungserfordernissen entziehen. Schon immer war das Konfliktlösungsvermögen beteiligter Personen bei schwierigen Abwägungsfragen gefordert. Heute verweigert man sich solchen Prozessen, und man geht dazu über, moralische Gewissheiten per Dekret verordnen zu wollen. Doch moralische Gewissheiten und Leitideen werden nur lebendig, wenn wir sie in einer offenen und freien Auseinandersetzung entwickeln und damit auch demokratisch legitimieren.
Toleranz wäre ein erstes wichtiges Zeichen eines souveränen Umganges mit grenzwertigen Sachverhalten. Doch davon fehlt in weiten Teilen der aktuellen Diskussion jede Spur. Die Adressaten der Verbote werden als autonome Subjekte nicht ernst genommen. Am Ende steht die juristisch und gesetzgeberisch bewerkstelligte Segregation unliebsamer Personengruppen. So ist der Hang zu „Islam-Sondergesetzen“ mittlerweile nicht nur in Deutschland erkennbar.
Sondergesetze und Prävention gegen „falsche Gesinnung“
Ein Verbot der Burka ließe sich aus Gesichtspunkten eines rechtsstaatlichen Rechtsgüterschutzes rechtfertigen, wenn es etwa darum ginge, die Sicherheit des Straßenverkehrs zu gewährleisten. Auch die angesprochenen arbeitstechnischen oder schulrechtlichen Versagungen der Burka können im Ergebnis vernünftig erscheinen. Überdies liegt in jedem Fall, bei dem Frauen gezwungen werden, die Burka zu tragen, das straf- und polizeirechtlich relevante Vergehen der Nötigung vor. Möglichkeiten, in begründeten Einzelfällen gegen eine Vollverschleierung einzuschreiten, sind also gegeben.
Doch Streitigkeiten um randständige Verschleierungsmethoden muslimischer Frauen sind heute leider nicht immer von der aufrichtigen Sorge um das Wohlergehen von Frauen oder das Gedeihen einer modernen Gesellschaft motiviert. Vielmehr scheint ein solches Einstehen für aufklärerische Werte oft nur vorgeschoben, um latentem Chauvinismus und Anti-Islamismus Gehör zu verschaffen. Zudem scheint die schwelende Islamphobie vor allem dem Umstand geschuldet, dass politische Entscheidungsträger und intellektuelle Meinungsbildner ihrer eigenen Sinnkrise und die unserer Gesellschaft durch eine im wahrsten Sinne des Wortes reaktionäre Stimmungsmache zu begegnen versuchen. Durch die konstruierte Abgrenzung von fremden Kulturen und Gebräuchen ist man darum bemüht, der Gesellschaft neuen Zusammenhalt zu geben.
Weil es die Verantwortlichen unterlassen, das Bild des Islam als einer grundsätzlich gegen unsere westliche Lebensform gerichtete Weltanschauung anzufechten, wird das gesellschaftliche Klima vergiftet. Der mit allen populistischen Wassern gewaschene bayerische Umweltminister Markus Söder (CSU) findet Gefallen an einem flächendeckenden Burkaverbot. [12] Der CDU-Bundestagsabgeordnete Günter Krings zeigt Verständnis, dass bei vielen Bürgerinnen und Bürgern seines Wahlbezirks „sich das Gefühl von Unsicherheit und sogar Angst“ breit mache, wenn sie in der Öffentlichkeit Menschen begegneten, die aufgrund religiöser Bekleidungsvorschriften nicht erkennbar sind. Deshalb regt er an, Burkaträgerinnen nicht nur den Zugang zu öffentlichen Gebäuden zu verwehren, sondern auch zu Bussen. [13] Und auch der FDP-Politiker Serkan Tören fordert ein öffentliches Burkaverbot. [14]
Wohin die Reise geht, zeigt sich in unseren Nachbarländern. [15] In den Niederlanden ist das Tragen des Ganzkörperschleiers in öffentlichen Einrichtungen wie Schulen verboten. Dort werden nun verstärkt auch die Betreiber von Bussen, Straßenbahnen und Zügen ermahnt, vollverschleierte Kunden die Nutzung ihrer Transportmittel zu untersagen. In Belgien drängt die Politik darauf, die Gesichtsverschleierung „außerhalb von Karnevalszeiten“ unter Strafe zu stellen. In Frankreich wird bereits hart gegen Frauen durchgegriffen, die in der Öffentlichkeit eine Nikab, einen Tschador oder eine Burka tragen. Sie werden mit fünfhundert Euro Bußgeld bestraft, und zusätzlich ist vorgesehen, sie zur Teilnahme an einem Kurs in Staatsbürgerkunde zu verpflichten. Strafandrohungen von bis zu 150.000 Euro oder ein Jahr Gefängnis richten sich gegen Männer, die ihre Frauen hinter den Schleier nötigen. Sind das die Umrisse eines neuen „aufgeklärten“ Europas, vom dem die Protagonisten der Burkaverbote träumen?
Das Präventionsdenken, welches im Trend zu staatlichen Eingriffen gegen religiöse Symbole zum Ausdruck kommt, ist auch in anderer Hinsicht problematisch. Ihm liegt der Ansatz zugrunde, dass Menschen nicht mehr danach beurteilt werden, was sie tun, sondern was sie angesichts ihrer vermuteten Gesinnung oder ihres interpretierten Glaubens tun könnten. In Kurzform lautet die selbst von offizieller Stelle immer wieder suggerierte Haltung: Wer seine Frau nicht vom Burkatragen abhält, ist morgen ein Getreuer Al-Qaidas. So entsteht ein rechtsstaatlich bedenklicher Ansatz.
Die Anti-Islam-Strömung, die islamische „Symbole“ aus dem öffentlichen Raum bannen möchte, entledigt sich damit dem für demokratische Rechtsstaaten unerlässlichen Erfordernis, Eingriffe in die Freiheitsrechte mit dem Beweis zu rechtfertigen, dass tatsächlich Missetaten vorbereitet oder begangen werden.
Aufklärung ist für alle Menschen da
Phänomene wie die Burka, Ehrenmorde oder Zwangsheiraten werden in letzter Zeit häufig skandalisiert und in das Zentrum der Öffentlichkeit gerückt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese „Islamdiskussion“ zuvorderst als Vehikel für die Selbstvergewisserung des „Westens“ und seine Selbstdefinition fungiert16. Daraus sind längst Maßnahmen erwachsen, die auf eine staatliche Missachtung religiöser Einstellungen hinauslaufen. Im Zuge der Islam- und Burkadebatte werden zudem Menschengruppen konstruiert und ausgesondert, die angeblich nicht in der „Aufklärung angekommen“ sind und die der Befreiung aus „archaischen Zuständen“ bedürfen. Mit Verweis auf die rückständige Natur der durch die Burka bekundeten Glaubensäußerung wird muslimischen Frauen die Inanspruchnahme ihrer Glaubens- und Bekenntnisfreiheit verwehrt. Frauen, die „freiwillig“ die Burka tragen, werden als von „internen Zwängen“ beherrscht unter staatlichen Zwangsschutz gestellt. Dass sie ihrer Überzeugung von Keuschheit und Anstand entsprechend handeln könnten, wird als „unfrei“ abgetan. Dem Staat wird vielmehr die Autorität zugesprochen, die „unfreie“ Entscheidung der Burkaträgerin zu brechen.
Die Beweggründe von Burkaträgerinnen mögen vielen Menschen rückständig erscheinen. Doch ein freiheitlicher Rechtsstaat und seine Bürger haben auch religiöse Überzeugungen zu respektieren, sofern durch sie nicht die Rechte anderer Menschen verletzt werden. Religion und Weltanschauung sind in ihren spirituellen Ausdruckformen Teil der höchstpersönlichen Sphäre der Gewissens- und Gedankenfreiheit. Davon kann man halten was man will. Wahrhaft säkulare und aufklärerische Politik kümmert sich allerdings um einvernehmliche Perspektiven für das Gemeinwesen, um die Überwindung von sozialen und anderen Problemen und letztlich auch darum, dass der öffentliche Raum offen und frei von Zwangskorsetten und Gesinnungsschnüffelei bleibt, weil nur dann ein demokratisches und solidarisches Bürgerleben bestehen kann. Von diesen Tugenden sollten wir uns wieder stärker leiten lassen – nicht nur in der Islamdiskussion.