10.07.2024
Wer „gegen rechts“ auf die Straße geht
Von Christian Zeller
Eine angeblich „schweigende Mehrheit“ habe Anfang des Jahres massenhaft gegen die AfD demonstriert, heißt es. Tatsächlich waren es vor allem Grünen-Wähler in ihrem Kulturkampf gegen Andersdenkende.
Im Januar und Februar 2024 sorgte die Correctiv-Recherche zum „Geheimplan gegen Deutschland“ für anhaltende Massendemonstrationen. Im rechtsidentitären Milieu sollen „Deportationen“ von Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, auch solchen mit deutscher Staatsbürgerschaft, geplant worden sein. Eine Aussage, die in einem späteren Gerichtsprozess von einem Correctiv-Anwalt von selbst als Meinungsäußerung eingestuft wurde. Zugleich stellte der Artikel das Treffen von AfD- und CDU-Funktionären sowie dem Kopf der Identitären Bewegung, Martin Sellner, in einem Potsdamer Hotel in einen herbeigeraunten Kontext mit der Wannseekonferenz, auf dem 1942 die massenhafte Ermordung von Juden beschlossen worden war. Ein Framing, mit dem der singuläre Judenmord der Nationalsozialisten und damit das grauenhafte Schicksal von sechs Millionen geschundenen, erschossenen, vergasten Menschen für politische Zwecke instrumentalisiert wird.
Einige Wochen nach der Veröffentlichung des Textes sagte die Correctiv-Vize-Chefredakteurin Anette Dowideit öffentlich im ARD-Presseclub die Unwahrheit über den Artikel aus ihrem eigenen Haus. Sie behauptete, die Begriffe „Wannseekonferenz“ und „Deportation“ seien im Nachhinein von Kommentatoren in den Text hineingedeutet worden. Ob es sich hier um Inkompetenz (sie kannte das Produkt der eigenen Wortschmiede nicht) oder um eine (überaus leicht zu entlarvende) Lüge handelte, kann man dahingestellt sein lassen. Beides ist wenig schmeichelhaft für eine Recherche-Organisation, die sich als mediales Wahrheitsministerium geriert. Sogenannte ‚Faktenchecker‘, die Falschinformationen über ihren eigenen sensationsheischenden, den Nationalsozialismus verharmlosenden Artikel verbreiten und dessen zentrale Aussage eine als Tatsachenaussage verkleidete Meinungsäußerung ist – wer sich je gefragt hat, warum das Vertrauen in Medien in einigen Milieus schwindet, der kann es spätestens jetzt wissen.
Millionen Menschen allerdings ließen sich durch eine Kampagne auf Grundlage dieses Artikels, der basale journalistische Standards mit Füßen tritt und so die Lagerbildungsspirale zwischen Mainstream- und Alternativmedien befeuert, auf die Straßen treiben. Bereits am 22. Januar hatte Statista mindestens 1,4 Millionen Demonstranten gezählt, die friedlich ihre Empörung Kund taten. Das Kalkül des auch von der Bundesregierung finanzierten Mediums, „Recherchen für die Gesellschaft“ zu machen, war in ihrem politischen Sinne voll aufgegangen. Die rechtspopulistische Partei AfD, die auch mit illiberalem Gedankengut auf Wählerfang geht und in der sich so manch Rechtsextremer zu Hause fühlen darf, hat damit jenen journalistischen Fausthieb abbekommen, den ihr linksextreme Gewalttäter zunehmend auch körperlich verpassen. Wie war das nochmal mit der geistigen Brandstiftung? Mit der Dämonisierung Andersdenkender?
Geheimdienst und Soziologen auf Kurs
Mitglieder der Bundesregierung, weitere Spitzenpolitiker und Wissenschaftler wie Andreas Zick, Mitherausgeber der politisch einseitigen Mitte-Studien, befeuerten den Hype der Guten und Aufrechten, der sich zu einer wahren Massenpsychose auswuchs. Der Soziologe Dieter Rucht sprach von der „größten Protestwelle in der Geschichte der Bundesrepublik“.1 Sogar dem Bewegungsforscher war es allerdings suspekt, dass dort Menschen Schilder mit der Aufschrift „Gegen Hass und Hetze“ hochhielten, während sie gleichzeitig „Ganz Berlin hasst die AfD“ skandierten. So sieht sie eben leider auch aus, die „Spaltung“ der Gesellschaft, die beim „Kampf gegen rechts“ so manchen Kopf durchzieht. Muss man darauf hinweisen, dass es gefährlich ist, wenn die rechte Gehirnhälfte nicht mehr weiß, was die linke tut?
Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang reizte das politische Mäßigungsgebot, das er als Beamter befolgen muss, bis zum Anschlag aus und rief wenige Tage nach der Veröffentlichung der Correctiv-Recherche förmlich zur Teilnahme an den Demonstrationen auf. In einem Interview mit dem ARD-Magazin Kontraste brachte er den Wunsch zum Ausdruck, „dass die Mitte der Gesellschaft, die schweigende Mehrheit in diesem Land, dass die wach wird und auch endlich klar Position bezieht gegen Extremismus in Deutschland".
„61 Prozent der Teilnehmer an einer der Massendemonstrationen gaben an, bei der letzten Bundestagswahl Bündnis 90/Die Grünen gewählt zu haben.“
Aufschlussreich ist an dieser Formulierung bereits der Umstand, dass sich Haldenwang mit der Rede von der „schweigenden Mehrheit“ einen Begriff zu eigen machte, der in den letzten Jahren häufig von rechtsidentitären Gruppierungen benutzt wurde, um das aus ihrer Sicht unter dem links-grün durchwirkten Meinungsdiktat einer kleinen Elite niedergedrückte Volk zu bezeichnen. Hier versucht offenbar ein ‚Guter‘ sich des Jargons der ‚Bösen‘ zu bemächtigen, um diesen ein zentrales Element ihres politischen Phrasenkatalogs zu entreißen. Man braucht nicht den Verfassungsschutz gänzlich in Frage zu stellen – was man, wie der SPD-Politiker Mathias Brodkorb in seinem Buch „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?“, übrigens mit guten Argumenten tun kann –, um zu dem Schluss zu kommen: Es gehört gewiss nicht zur Aufgabe einer staatlichen Behörde, auf rechtsidentitäre Metapolitik mit einer eigenen Slogan-Bewirtschaftung des vorpolitischen Raums zu reagieren.
Mit einem Anflug von Pathos, das Anhängern der soziologischen Systemtheorie üblicherweise fremd ist, reproduzierte auch sofort der Soziologe Armin Nassehi das Diskursgeblubber von der breiten Mehrheit, die jetzt aber wirklich die Nase voll von den Rechten hat: „Aber jetzt ist so ein Moment, in dem die schweigende Mehrheit erkennt, dass es tatsächlich um etwas geht. […] Wir sehen, dass es unabhängig von allen aktuellen Ereignissen eine große Stabilität von Wählern gibt, die für die AfD und überhaupt für sozialen Radikalismus unerreichbar sind.“ Wenn man dies in den Äther hinausposaunt, ohne vorher systematisch Teilnehmer der Demonstrationen nach ihren Parteipräferenzen und ihren Motiven befragt zu haben, ist das dann Soziologie auf dem Niveau von „Irgendwie-Herummeinen“ (Klaus Ferdinand Gärditz)?
War es also wirklich die breite „Mitte“, die hier protestierte, wie man vielerorts annahm? Durch eine Untersuchung der Universität Konstanz ist bekannt, dass Anhänger der Partei Bündnis 90/Die Grünen bei den Demonstrationen drastisch überrepräsentiert waren. 61 Prozent der Teilnehmer an einer der Massendemonstrationen gaben an, bei der letzten Bundestagswahl diese Partei gewählt zu haben. Mit weitem Abstand folgt die SPD mit 18 Prozent, andere Parteien rangieren unter ferner liefen. Andreas Zicks Einschätzung vom Januar 2024, dass hier die „zivilgesellschaftliche Mitte“ auf die Straßen gegangen sei, weil sie möglicherweise gemerkt habe, „dass sie vieles auch zu lange erduldet hat“, entpuppte sich damit ebenfalls als Wunschdenken mit großer Nähe zum linksidentitären Gedankengut der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Linksgrüne vs. Rechtsidentitäre
Auch wenn hier genaue Untersuchungen fehlen, so dürfte sich die politische Selektivität bei den anderen unter dem Motto „Rechtsextremismus stoppen – Demokratie verteidigen“ –unter anderem in Frankfurt, München, Berlin, Chemnitz, Cottbus, Leipzig, Stuttgart und Hamburg – durchgeführten Demo nicht wesentlich anders verhalten. Wenngleich diese Demonstrationen im Vorfeld der Europawahl nicht mehr unter dem Label „gegen rechts“ organisiert worden waren, sondern sich immerhin im Titel gegen „Rechtsextremismus“ wandten, so war doch in den Livestreams zu den Demonstrationen das permanente begriffliche Changieren zwischen „rechts“ und „rechtsextrem“ zu beobachten. Diese Gleichsetzung bezeichnet nichts anderes als den Umstand, dass sich hinter dem von einer kleinen Minderheit getragenen Flair von „Buntheit“ und „Weltoffenheit“ eine Verschiebung des politischen Koordinatensystems entfaltet: Alles, was nicht dezidiert „links“ ist, soll zu einer politisch nicht mehr satisfaktionsfähigen Haltung erklärt werden. Mit Hilfe von Diversität soll der liberalen Demokratie die Pluralität ausgetrieben werden. So etwas allen Ernstes als Demokratieförderung zu verkaufen, wird wohl einmal als ein Treppenwitz in die Geschichte sozialer Bewegungen eingehen.
Noch spannender wird der Befund von der politischen Einseitigkeit des „Kampfes gegen rechts“, den Bundeskanzler Scholz bereits in einem Tweet im November 2020 ankündigt hatte, wenn man ihn in Beziehung zu den Ergebnissen der Europawahl am 9. Juni 2024 setzt. Denn hier hat sich das, was von interessierter Seite als Protest der schweigenden Mehrheit und der Mitte der Gesellschaft ausgegeben wurde, tatsächlich als ein Protestgeschehen herausgestellt, das von einer kleinen Minderheit getragen wird. Wer also für die eindrucksvollen Demonstrationen „gegen rechts" gesorgt hat, sind die offenbar sehr stark mobilisierbaren Wählerkerne ausgerechnet jener linksgerichteten Parteien, die bei der Europawahl die drastischsten Verluste erlitten haben: Menschen mit höherem Bildungsgrad, einem eher urbanen Mindset und, vor allem, links-grüner Weltanschauung. Die grüne Partei erreichte gerade einmal noch 11,9 Prozent, die SPD 13,9 Prozent.
„Befördert wird durch den sich aus linksidentitärer Metapolitik und der Preisgabe rechtstaatlicher Haltungen sich speisenden ‚Kampf gegen rechts‘ ausgerechnet jene gesellschaftliche Lagerbildung, die man zu bekämpfen vorgibt.“
In den „Demos gegen rechts“ kommt also nicht zum Ausdruck, dass hier eine parteipolitisch übergreifend und sozialstrukturell breit aufgestellte Mitte gegen Rechtsextremismus auf die Straße geht, wie etwa auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, mutmaßte. Vielmehr ist der „Kampf gegen rechts“ der Ausdruck einer Lagerbildungsdynamik zwischen einem zunehmend fanatisierten, sich in Demokratiegefährdungsphantasien hineinsteigernden links-grünen Milieu auf der einen Seite und dem rechtsidentitären, sich als „Volk“ gegen eine „Elite“ abgrenzenden rechtsidentitären Milieu auf der anderen Seite.
Teilweise quer dazu liegen Gruppierungen wie Teile der BSW-Wählerschaft, Anhänger der Partei „dieBasis“, eher linksgerichtete Anti-Corona-Protestgruppen oder Friedensaktivisten, die der militärischen Unterstützung der Ukraine skeptisch gegenüberstehen. Auch diese Gruppierungen unterliegen allerdings der Diktion staatlich beförderter Kampfbegriffe wie „Staatsdelegitimierer“ oder „Verschwörungsideologe“ und werden dadurch in die Gut-Böse-Dichotomie eingesaugt, die den neo-autoritären, Opposition zunehmend fürchtenden Staat mittlerweile in Teilen anleitet. Man möchte sich gar nicht ausmalen, was passieren könnte, wenn sich die AfD ein Vorbild am „Kampf gegen rechts“ nähme, und über die sozialen Netzwerke, in denen ihre Reichweite beträchtlich ist, mit entsprechend ‚geframten‘ Botschaften zum „Kampf gegen links“ aufriefe. Dann hätten wir wohl genau das den Straßen: Demo als Kulturkampf.
Wozu dient der „Kampf gegen rechts“?
Die hilflos wirkenden Versuche, die Erfolge der AfD mit hypermoralischer Verve einzudämmen, laufen also erkennbar nach dem Muster „Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Vorsätzen“ ab. Denn befördert wird durch den sich aus linksidentitärer Metapolitik und der Preisgabe rechtstaatlicher Haltungen sich speisenden „Kampf gegen rechts“ ausgerechnet jene gesellschaftliche Lagerbildung, die man im Namen von „Zusammenhalt“ und dem Schutz „unserer Demokratie“ zu bekämpfen vorgibt. Befördert wird sogar – wenngleich weniger ausgeprägt, da der Westen derzeit auch überwiegend konservativ wählt – eine geographische Spaltung des Landes entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenzlinien aus Stacheldrahtzaun und Mauerwerk. Insbesondere in den östlichen Bundesländern hat man sich ausweislich der Wahlergebnisse der Europawahl vom „Kampf gegen rechts", um es mal vorsichtig zu sagen, wenig beeindrucken lassen.
Hier ist vielmehr von massiven Trotz- und Solidarisierungseffekten zugunsten alternativer Wahlangebote auszugehen. Wieder einmal kolonisiert, so dürfte es sich für viele Ostdeutsche darstellen, der Westen den Osten: Zusätzlich zur „falschen“ Haltung, wenn es um die Corona-Politik oder den russischen Überfall auf die Ukraine geht, prangert man es an, wenn die „falsche“ Partei gewählt wird. Dabei hat man doch „gegen rechts“ zu sein, was ist nur mit denen los! Der Drang, gegen diese Bevormundung an der Wahlurne zu protestieren, indem man genau jene Früchte wählt, die einem die „Eliten“ aus dem Westen am liebsten verbieten möchten, ist groß genug, dass er zusätzlich teilweise die Wagenknecht-Partei als Alternative zur selbst ernannten Alternative speist.
„Dass der Schutz unserer Grundordnung zur Schwächung eines politischen Gegners instrumentalisiert wird, muss beunruhigen.“
Kurzum: Es geht beim „Kampf gegen rechts“ nicht in erster Linie um „liberale, rechtsstaatliche Demokratie“ versus „Rechtsextremismus“, sondern in ihm erscheint etwas viel Normaleres, ja Schnöderes: Grüne sind gegen die AfD; Linke mögen die Politik von Rechten nicht, und umgekehrt gilt das freilich auch.
Das ist an sich ein völlig legitimes politisches Geschehen: Parteien mit unterschiedlichen Programmen treten in einen Wettbewerb um Wählerstimmen ein. Der Umstand allerdings, dass dieser Wettbewerb unter dem Deckmäntelchen eines „Kampfes gegen Rechtsextremismus (= rechts)“ geführt wird, dass also der Schutz unserer Grundordnung zur Schwächung eines politischen Gegners instrumentalisiert wird, muss beunruhigen. Der politische Wettbewerb in einer liberalen Demokratie funktioniert dann am besten, wenn er flankiert wird von kompromissloser rechtstaatlicher Neutralität, redlich agierenden Wissenschaftlern, die zwischen ihrem politischen Wunschdenken und ihren gewissenhaft durchgeführten Analysen trennen, und einer Medienlandschaft, die wirklichkeitsgetreu Bericht erstattet, Meinungsäußerungen sauber ausweist, und unabhängig von staatlichen Stellen agierend in ihrer Gesamtheit möglichst plural das repräsentiert, was an Meinungen und Weltanschauungen in der Gesellschaft der Bürger zu finden ist.
Mit Blick auf den „Kampf gegen rechts“ allerdings kommt derzeit in so ziemlich jeder Hinsicht das Gegenteil dessen zum Ausdruck: Angespornt durch eine von politisch einseitigem Aktivismus geprägte Recherche eines vom Staat mitfinanzierten Mediums, treiben Medienschaffende, Regierungsmitglieder, Wissenschaftler und der Verfassungsschutz mehrheitlich Grünen-Wähler auf die Straße, die unter dem Deckmäntelchen des Demokratieschutzes gegen eine derzeit erfolgreiche Oppositionspartei demonstrieren. Zentrale Institutionen einer aufgeklärten Moderne – Medien, Wissenschaft, Rechtstaat – sind damit derzeit auf eine erste Schwundstufe gestellt. Die Opposition gegen diese ungeheuerlichen Vorgänge wird weiter zunehmen. Um die liberale Demokratie, die davon zehrt, dass in diesen Institutionen ordentliche Arbeit gemacht wird, muss man sich deshalb ernsthafte Sorgen machen.