17.11.2023

Mut zur Lücke bei der Ebert-Stiftung (Teil 1/3)

Von Christian Zeller

Titelbild

Foto: Marco via Flickr / CC BY 2.0 Deed

Die sogenannte Mitte-Studie der SPD-nahen Stiftung legt nahe, dass der Rechtsextremismus in Deutschland zugenommen habe. Eine auffällig verkürzte Zeitreihe trägt zu diesem Eindruck bei.

Acht Prozent teilen rechtsextremes Weltbild“, titelte am 21. September der Webauftritt der Tagesschau. „Immer mehr Rechtsextreme in Deutschland“, schrieb der Deutschlandfunk, „Deutschland rückt nach rechts“ die taz. Es ging um die kürzlich erschienene Studie „Die distanzierte Mitte“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES).

Im Jahr 2017 empfahl eine FES-Jury der ein Buch des Journalisten Ulrich Teusch mit dem Titel „Lückenpresse“. Es beschreibt, ohne ungebührlich zu verallgemeinern, sehr anschaulich die politisch selektive Berichterstattung vieler Medien, auch die des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Mittlerweile, so ändern sich die Zeiten, gilt das Wort „Lückenpresse“ als rechtspopulistisch, weil es auch die AfD benutzt, nachdem ihre öffentlich wahrnehmbarsten Vertreter auf den Begriff „Lügenpresse“ verzichten. Darf man hier sagen, dass vielleicht sogar die AfD etwas dazugelernt hat?

Die Mitte-Studie der FES gibt Anlass, die Berechtigung einer möglichen Neuwortschöpfung zu überprüfen: die Lückenwissenschaft. An einer bestimmten – allerdings für den Aufbau der Gesamtstudie sehr weitreichenden – Stelle werden Forschungsergebnisse so dargestellt, wie es dem Herausgeber, der SPD-nahen Stiftung, höchst zupass kommt. Es ist ein Lehrstück dafür, wie eine in sich bereits auf Außenwirkung angelegte Wissenschaft zum Transmissionsriemen einer politischen Botschaft werden kann. Die in diesem Fall zu beobachtenden Tendenzen einer Amalgamierung von Wissenschaft und Politik tragen dazu bei, genau jene demokratischen Verhältnisse zu unterminieren, die durch den politischen Impetus der Studie wieder aufgerichtet werden sollen.

Die weggelassene Zeitreihe

Man vergleiche einmal nacheinander die folgenden vier Grafiken zur Entwicklung rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung. Die ersten beiden sind der Web-Präsentation der 2021 erschienen Vorgänger-Studie „Die geforderte Mitte“ entnommen; sie finden sich aber auch an anderer Stelle, so etwa auf dem Web-Präsentation der 2019 erschienen, vorletzten Mitte-Studie mit dem Titel „Verlorene Mitte. Feindselige Zustände“. Bei der aktuellen Studie haben sich die Grafiken, wie sogleich zu sehen sein wird, sowohl hinsichtlich der abgebildeten Zeitreihe als auch grafisch merklich gewandelt:

Gewiss fällt Ihnen bereits bei der ersten Grafik etwas auf: Über einen Zeitraum von 16 Jahren sind die ersten drei Indikatoren für rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung fast durchgängig zurückgegangen, und insbesondere zwischen 2012 und 2014 ist ein drastischer Rückgang bei „Chauvinismus“ und der „Verharmlosung des Nationalsozialismus“ zu verzeichnen. Bei den drei übrigen Indikatoren ist der Rückgang noch deutlicher:

Blicken wir nun auf die beiden Schaubilder der kürzlich veröffentlichten Mitte-Studie1. Sie sind grafisch so aufgebaut, dass die früheren Jahre nicht mehr – wie bei Zeitreihendarstellungen üblich – links, sondern unten liegen. Ein scheinbar nebensächliches Detail, von dem weiter unten noch die Rede sein wird: 

Vergleichen wir die Grafiken, fällt eines sofort auf: Die Grafik der aktuellen Studie setzt genau nach dem merklichen bis drastischen Rückgang der in den Vorgängerstudie gemessenen rechtsextremen Einstellung ein, im Jahr 2014 also. Damit gerät die lange Frist aus dem Blick: Der Wert „Befürwortung einer Diktatur“ liegt im Jahr 2022/23 niedriger als im Jahr 2002 (6,6 zu 7,7 Prozent); ebenso der Wert für „Chauvinismus“ (16,6 zu 18,3 Prozent); ebenso (allerdings nur geringfügig) der Wert „Verharmlosung des Nationalsozialismus (4,0 zu 4,1 Prozent). Eine noch größere Diskrepanz zeigt sich bei den drei weiteren Indikatoren: 26, 9 Prozent der Befragten bekundeten im Jahr 2002 eine fremdenfeindliche Einstellung, im Jahr 2022/23 sind es 16,2 Prozent; allerdings muss die Verdoppelung dieses Werts gegenüber dem Jahr 2018/19 beunruhigen. Antisemitische Einstellungen liegen mit 5,7 Prozent gegenwärtig immer noch knapp 4 Prozentpunkte unter dem Wert von 2002 (9,3 Prozent). Jedoch ist auch hier ein sehr deutlicher Anstieg gegenüber den Jahr 2018/19 (3,3 Prozent) und 2020/21 (1,7 Prozent) zu verzeichnen. Deutlich zugenommen haben in den letzten Jahren sozialdarwinistische Sichtweisen, die sich jedoch insgesamt immer noch auf noch niedrigem Niveau befinden. Hier wurde als einziger der Wert aus dem Jahr 2002 (5,2 Prozent) übertroffen; er liegt gegenwärtig bei 5,7 Prozent.

„Durch die Verkleinerung des Vergleichszeitraums wird die jüngste Zunahme der rechtsextremen Einstellungen aufgebauscht, was der politischen Botschaft der FES bzw. der SPD entgegenkommt.“

Warum nun fehlt in der aktuellen Mitte-Studie die Zeitreihe zwischen 2002 und 2012? Eine Vermutung scheint, eingedenk des Auftraggebers der Studie, auf der Hand zu liegen: Durch die Verkleinerung des Vergleichszeitraums wird die jüngste Zunahme der rechtsextremen Einstellungen aufgebauscht, was der politischen Botschaft der FES bzw. der SPD, die einen ihrer historisch begründeten Identitätsanker in der Bekämpfung des Rechtsextremismus hat, entgegenkommt: Schließlich zeigt so die Kurve in der Schlussphase des Zeitraums, also zwischen 2021 und 2023, dramatisch nach oben. Diese würde bei weitem nicht so sehr ins Auge fallen, wenn der gesamte verfügbare Zeitraum – inklusive der ebenfalls hohen Werte in den 2000er Jahren – abgebildet werden würde. Auf dieser Grundlage kann die Botschaft „Wenn du Angst vor den zunehmenden rechten und rechtsextremen Einstellungen deiner Zeitgenossen hast, dann wähle die SPD, die das wirksam bekämpft“ umso wirkungsvoller, nämlich mit beträchtlichem Rückenwind durch die Wissenschaft, unters Volk gebracht werden.

Könnte es für dieses Vorgehen stattdessen auch wissenschaftliche Gründe für dieses Vorgehen geben? 2014 wurde die Erhebungsmethode gewechselt: Vorher wurden die Daten von Interviewern erhoben, die die Befragten persönlich aufsuchten, seither erfolgt dies mittels computergestützter Telefoninterviews (CATI). Der Fragebogen war früher den Befragten überreicht worden, also zwar in der Gegenwart eines Interviewers (face-to-face), aber unter Wahrung der Anonymität ausgefüllt worden, während im direkten Gespräch am  Telefon vielleicht eine etwas höhere Hemmschwelle besteht, sich zu Aussagen im Bereich rechtsextremer Einstellungen zu bekennen. Dieser Effekt beim Beantworten der Fragen, der der sozialen Erwünschtheit, kann eine wesentliche Rolle dabei gespielt haben, dass 2014 die Werte gesunken sind, wie die folgende Grafik aus einer der Vorgängerstudien nahelegt.

Selbst wenn man diesen Methodenwechsel berücksichtigt, gibt es allerdings gravierende Hinweise, dass die Präsentation der Grafiken in der aktuellen Mitte-Studie auch weltanschaulich motiviert ist: Der erste Hinweis darauf, dass dieser Mut zur Lücke daraus resultiert, die politische Message des dramatischen Anstiegs rechtsextremer Einstellungen umso aufmerksamkeitsheischender präsentieren zu können, besteht darin, dass in den Vorgänger-Studien von 2014, 2016 und 2018/19 die abgebildeten Zeitreihen bis in das Jahr 2002 zurückreichen. In der aktuellen Studie gibt es hingegen keine visuell aufbereiteten Informationen für die Jahre vor 2014 mehr – hier regiert nun, grafisch gesehen, der Fokus auf die jüngere Vergangenheit, und diese Vergangenheit wird wiederum durch den jüngsten Anstieg rechtsextremer Einstellungen spektakulär markiert. Der noch nachvollziehbarste mögliche Grund für die Auslassung der Zeitreihe, nämlich der Wechsel der Erhebungsmethoden, wird so ebenfalls unglaubwürdig. Denn warum sollte der Wechsel der Erhebungsmethoden etwa in den Jahren 2020/21 und 2018/19 für die Interpretation der Ergebnisse weniger ausschlaggebend gewesen sein als in den Jahren 2022/23? Das Streichen der Zeitreihe vor 2014 in der Gesamtstudie und auf der Webseite der aktuellen Studie fiel natürlich wesentlich leichter als man mit dem jüngsten dramatischen Anstieg rechtextremer Einstellungen eine klare Botschaft in der auf den Reiz des „Rechten“ äußerst sensibel reagierende Medienlandschaft platzieren konnte.

„Der Fokus der aktuellen Studie richtet den Blick des Kaninchens (der Gesellschaft, die für rechtextreme Tendenzen sensibilisiert werden soll) so aus, dass die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht wird, auf die Schlange (die angeblich zunehmenden rechtsextremen Einstellungen) zu starren.“

Ein zweiter Hinweis auf die politische Motivierung der weggelassenen Zeitreihe besteht in einem oben bereits angemerkten Detail. Man gebe einmal bei Google „Zeitreihe" ein und schaue sich die Grafiken an. Sehen Sie auch nur eine Zeitreihe, die von unten nach oben statt von links nach rechts reicht? 2 Indem für die Mitte-Studie dieses ungewöhnliche grafische Format gewählt wurde3, kann man die Zeitreihen aus den Vorgängerstudien und die Zeitreihe aus der aktuellen Studie nicht einfach nebeneinanderhalten, um sofort zu erkennen, dass die Zeitreihe 2002 bis 2012 fehlt. Am 21. September 2023 wurde die Studie erstmals in der Friedrich-Ebert-Stiftung vorgestellt, und präsentiert wurden auch vor Publikum genau jene Grafiken mit den fehlenden Zeitreihen, die auch auf der Webseite abrufbar sind. In einem Interview mit der Tagesschau vom 21. September (Ausgabe 18 Uhr) behauptet die Co-Herausgeberin Beate Küpper auf die Frage, was sie an den Studienergebnissen „überrascht“ habe, folgendes:

Also, überrascht hat mich tatsächlich der wirklich drastische Anstieg eines geschlossen rechtsextremen Weltbildes auf 8, 3 Prozent der Befragten, die hier zustimmen. Und das ist ein Anstieg von fast einem Drittel mehr als noch vor zwei Jahren und auch deutlich mehr als in den ganzen Jahren zuvor. Hinzu müssen wir auch noch diejenigen 20 Prozent rechnen, die in so einem Graubereich liegen, die also kein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben, die aber auch nicht klar demokratisch orientiert sind.

Bei der Formulierung „in den ganzen Jahren zuvor“ kann man, so viel ist nun klar, gar nicht genug die Ohren spitzen. In den Jahren seit 2014 lag der Anteil eines geschlossen rechtsextremen Weltbildes (so wie es von der Studie gemessen wird) zwischen 2,5 und 1,7 Prozent4; im Jahr 2002 jedoch bei 9,7 Prozent.5 Die Rate der Zunahme ist dementsprechend im Zeitraum von 2002 bis 2022/23 tatsächlich einzigartig; die absolute, gemessene Höhe rechtsextremer Einstellungen allerdings nicht. Auch das wäre doch eine Differenzierung, die man in einer sich aufgeklärt dünkenden Gesellschaft für relevant halten müsste. Durch den Verzicht auf methodische Einzelheiten bringen sich die Herausgeber übrigens auch noch um eine politisch überaus 'sagbare' Pointe: Und zwar hätte man ja unter dem Verweis auf den Methodenwechsel im Jahr 2014 die These vertreten können, dass die gegenwärtige Zahl an Personen mit einem geschlossen rechtsextremen Weltbild aufgrund der veränderten Methodik gegenüber dem Jahr 2002 deutlich unterschätzt werde. Aber das hätte natürlich sofort weitere kritische Nachfragen über ‚Details‘ zur Folge gehabt und der Botschaft möglicherweise die Eindeutigkeit geraubt.

Auf dem linken Auge sieht man weniger

Der Effekt dieser Lücken ist beträchtlich: Durch das Weglassen der Zeitreihe von 2002 bis 2012 in der aktuellen Mitte-Studie verschwinden im längeren Zeitverlauf sich bemerkbar machende Differenzierungen innerhalb der einzelnen Subkategorien rechtsextremer Einstellungen. So fiel die „Befürwortung rechtsautoritärer Diktatur“ von 7,7 Prozent im Jahr 2002 auf 3,5 Prozent im Jahr 2012; die „Verharmlosung des Nationalsozialismus“ ging von 4,1 Prozent auf 3,1 Prozent zurück – ganz ohne Methodenwechsel. Auch der Rückgang sozialdarwinistischer Einstellungen von 5,2 im Jahr 2002 auf 3,5 Prozent im Jahr 2008 gerät so aus dem Blick. Die aktuelle Mitte-Studie verzichtet damit gleichsam darauf, dass sich aus wissenschaftlichen Studien speisende kollektive Gedächtnis zu re-aktualisieren. Der Fokus der aktuellen Studie richtet den Blick des Kaninchens (ergo: der Gesellschaft, die für rechtextreme Tendenzen sensibilisiert werden soll) so aus, dass die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht wird, auf die Schlange (ergo: die angeblich zunehmenden rechtsextremen Einstellungen) zu starren. 

Auch gerät durch die weggelassene Zeitreihe ausgerechnet das in den Daten sich bemerkbar machende wiederkehrende Muster aus dem Blick. Schließlich steigen sozialdarwinistische Einstellungen im Jahr 2008 von 3, 5 Prozent auf 4, 3 im Jahr 2012 – ein klarer Effekt der Finanz- und der darauffolgenden Eurokrise. Auch der vor 2008 abnehmende Trend bei Fremdenfeindlichkeit wird durch die Finanzkrise konterkariert. Analog dazu verzeichnet die Studie in Zeiten, in denen Corona und der Krieg in der Ukraine für große Aufregung und gesellschaftliche Verwerfungen sorgten und noch sorgen, einen (drastischen) Wiederanstieg von rechtsextremen Einstellungen, die im Zeitraum von 2014 bis 2020/21 ebenfalls größtenteils gesunken sind. Eine Ausnahme bilden auch hier wieder Sozialdarwinismus und Fremdenfeindlichkeit, die, gewiss als Effekt der (wiederkehrenden) Migrationskrise, seit 2016 kontinuierlich angestiegen sind. Ökonomische Krisen, Migrationskrisen, Pandemien und die Konfrontation mit einem den Weltfrieden gefährdenden Krieg begünstigen tendenziell Einstellungen, die sich auch bei Personen mit einem geschlossen rechtsextremen Weltbild finden. Warum nun dieses sich anhand dieser Daten bemerkbar machende Muster grafisch ausgeklammert wird, ist weder aus einer wissenschaftlichen noch aus einer demokratiepolitischen Warte nachvollziehbar.

Die Autoren diskutieren bei der Interpretation ihrer Resultate freilich lang und breit die Rolle von Krisen – auch die vor 2014 – und kommen hierbei, wie auch in den Vorgänger-Studien, zu dem Schluss: Wahrgenommener Kontrollverlust gefährdet demokratische Grundorientierung und befördert die Abschließung der Eigengruppe gegenüber der Fremdgruppe.6 Dass nun ausgerechnet dieser zentrale Befund anhand von weniger Daten für die breite Öffentlichkeit veranschaulicht werden soll, macht nur dann Sinn, wenn das Abschneiden der Zeitreihe zugleich auch durch außerwissenschaftliche Motivlagen bedingt ist.

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