01.12.2023

Mut zur Lücke bei der Ebert-Stiftung (Teil 3/3)

Von Christian Zeller

Titelbild

Foto: Judge Magazine, 1896 via WikiCommons

Wie sich die sogenannte Mitte-Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung mit Rechtsextremismus beschäftigt, basiert auf politischen Haltungen und außerwissenschaftlichen Interessen.

Wie sehr die Logik der Wissenschaft zugunsten einer weltanschaulich vorgeformten Botschaft in der aktuellen Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in manchen Hinsichten preisgegeben wird, zeigt sich überaus prägnant an einer Äußerung des Studienleiters Andreas Zick während der Präsentation der Studie. Zick stellte die Verbreitung eines „rechtsextremen Weltbilds“ aufgeschlüsselt nach Parteipräferenz vor und bemerkte, dass auch unter Anhängern der SPD, der Grünen und der Linkspartei 7,9 Prozent, 3,6 Prozent bzw. 5,3 Prozent ein solches Weltbild aufwiesen.1 Emphatisch unterbricht er an dieser Stelle seinen Redefluss und ermahnt die Zuhörer: „Jetzt bitteschön, das hab ich heute Morgen schon gesagt, nicht reflexhaft zu sagen, ja das kann so nicht sein. Sie können gerne an den Daten zweifeln, aber das Leugnen bringt uns auch irgendwie nicht weiter. Deswegen wär’s schön, wenn wir dann in der politischen Debatte uns eine Auseinandersetzung damit haben, warum verstehen Menschen, die so orientiert sind, vielleicht in einem linken Bereich die rechtsextremen Einstellungen nicht als rechtsextreme Einstellungen.“

Das von Zick möglichen Kritikern zugestandene „Zweifeln an den Daten“ gehört zunächst einmal zum Kern der wissenschaftlichen Tätigkeit. Der Umstand, dass jede These in Frage gestellt werden darf – ja mehr noch: dass das Infragestellen einer jeden These sogar institutionell erwünscht ist und von allen Beteiligten nach Kräften gefördert wird –, ist dabei ein unabdingbares Element jeder wissenschaftlichen Unternehmung.

Der Ausdruck des „Leugnens“ hingegen ist – natürlich – ein semantischer Fremdkörper im Sprachspiel der Wissenschaft. Hinter dem Begriff des „Leugnens“ steckt eine für wissenschaftliche Aktivitäten fehlplatzierte Haltung: Bestimmte Dinge müssen einfach wahr sein. Wer jemandem vorwirft, etwas zu „leugnen“, muss sich seiner Sache absolut sicher sein. Gerade das gilt jedoch in der Wissenschaft gerade nicht, wie jüngst der Philosoph Julian Nida-Rümelin deutlich gemacht hat: „Die Wissenschaft ist immer auf der Suche, und sie wird herausgefordert durch Dissidenz. Wer versucht, diesen Prozess zu formatieren, ihn ideologisch zu bändigen, politisch auf bestimmte Ziele auszurichten, zerstört die Dynamik wissenschaftlicher Rationalität."2 Die aktuelle Mitte-Studie ist genau in diesem Sinn auch von der Logik des Politischen durchzogen, die den Autoren einen einseitig auf Rechtsextremismus ausgerichteten Blick auf die Wirklichkeit nahelegt.

„Aus der Sicht der Mitte-Studie gilt: Wenn die Linke extrem ist, dann ist sie rechtsextrem.“

Ironisch mutet es an, dass diese verzerrte Perspektive, die die Mitte-Studie auf die unterschiedlichen Extremismen in der Gesellschaft zur Anwendung bringt, bewirkt, nun auch nur in der Linken den einen Extremismus, nämlich den Rechtextremismus, feststellen zu können. Damit gilt aus der Sicht der Mitte-Studie: Wenn die Linke extrem ist, dann ist sie rechtsextrem.

Politisierte Wissenschaft

Angesichts derartiger Erkenntnisverzerrungen sieht man, wie enorm wichtig es ist, immer wieder darauf zu pochen, Politik und Wissenschaft sauber voneinander zu trennen: Das Streben nach Wahrheit einerseits und das Streben nach politischem Einfluss andererseits ineinander zu überführen, ist ein Merkmal von Gesellschaftsformationen, zu denen aufgeklärte, freiheitliche Demokratien, wie die unsere, den Gegenentwurf darstellen. In diesen wird – zumindest idealiter, wie man leider mittlerweile sieht – nach wissenschaftlicher Maßgabe und nach bestem Wissen und Gewissen Wirklichkeit beschrieben. Parallel dazu fragt sich der Souverän wie unter möglichst objektiv festgestellten Randbedingungen, demokratisch bestimmte, politische Ziele, die ihrerseits nicht wissenschaftlich abgeleitet werden können, sondern in unser aller Wollen liegen, verwirklicht werden können. Diese strukturelle Trennung stellt sicher, dass demokratische Politik einerseits und Wissenschaft andererseits ihre jeweilige Autonomie bewahren und gerade dadurch in ein fruchtbares Verhältnis kommen können: Der Wissenschaftler kann den Bürgern nicht erzählen, was sie wollen sollen, aber er kann ihnen sagen, ob und unter welchen Umständen sie das, was sie wollen, verwirklichen können. Der Bürger muss es umgekehrt bisweilen akzeptieren, wenn die Wirklichkeit (nach dem jeweiligen Stand der Forschung) nicht so ist, wie er sie sich wünscht, und er kann aber gleichzeitig das Potential der Wissenschaft nutzen, um seine politischen Ziele zu realisieren.

Die Selektionslogik der aktuellen „Mitte“-Studie läuft genau andersherum: Die politischen Ziele einer Partei – in diesem Fall: auf rechtsextreme Gefährdungen zu fokussieren – bestimmen, welche Wirklichkeitsausschnitte beleuchtet werden, und wenn die Wirklichkeit nicht ganz zu den politischen Zielen passen will, dann wird sie eben an diese politischen Ziele angepasst – in diesem Fall: die weggelassene Zeitreihe und das Pochen auf das angeblich Offenkundige, das einen gerechtfertigten Widerspruch zu einem tendenziell irrationalen „Leugnen“ macht. Fatalerweise bestätigt genau dies ausgerechnet jene „Narrative“ von Rechtspopulisten, gegen die sich der politische Impetus der Studie richtet, dass nämlich die Selektion von Fakten und deren ideologisch gefestigtes links-grünes Framing angeblich zum Kennzeichen des Umgangs einer medial-wissenschaftlich-politischen „Elite“ mit dem „Volk“ geworden ist.

Die aktuelle Mitte-Studie stellt unter anderem fest, dass die Zustimmung zu der Aussage „Die regierenden Parteien betrügen das Volk“ von 16 Prozent im Jahr 2020/21 auf 30 Prozent im Jahr 2023 angestiegen ist.3 Sieht man sich die weggelassene Zeitreihe der aktuellen, von einer Parteien-Stiftung herausgegebenen Mitte-Studie an, so gibt gerade diese Studie derartigen Pauschalurteilen Nahrung. Die Selektivität der Studie zeigt performativ genau das auf, wogegen größer werdende Teile der Bevölkerung nun – und auch dies gewiss nicht immer mit dem gebotenen Grad an Differenzierung – aufbegehren: „Die da oben lassen Dinge, die ihnen nicht in den Kram passen, einfach weg.“ Der Umstand, dass dies ausgerechnet in einem sozialdemokratischen Milieu geschieht, aus dem fortwährend wackere Mahnungen ertönen, „faktenbasierte“ Entscheidungen auf sauberer und redlicher wissenschaftlicher Grundlage zu treffen, macht die Sache nur noch schlimmer, weil nun nicht nur die Moral, sondern auch die Doppelmoral im Raum steht.

„Den Bauchladen seiner eigenen politischen Überzeugungen als Nulllinie des Diskurses zu setzen, ist ein blinder Fleck in dieser Art von politisierter Forschung.“

Damit wirft der Fall selbst ein Licht auf genau jene Frage, um die die aktuelle Mitte-Studie kreist: Woher nur kommt es, dass viele Bürger etablierten Institutionen nicht mehr vertrauen und sich einige zum Populismus oder gar zum Rechtsextremismus hinwenden? Der wahrgenommene Kontrollverlust durch Corona (durch das Virus bei den einen, durch die staatlichen Maßnahmen bei den anderen) und den russischen Krieg gegen die Ukraine (Bedrohung des Weltfriedens und damit auch des eigenen Vorgartens) erklärt gewiss ein großes Stück dieses Einstellungswandels. Die reflexive Rückwendung auf genau jene Interaktionsstruktur, die in der weggelassenen Zeitreihe der Mitte-Studie zum Ausdruck kommt, zeigt jedoch ebenso: Es gibt schlicht auch nachvollziehbare, normativ in sich absolut konsistente und nicht per se „rechtspopulistisch“ motivierte Gründe, misstrauisch gegenüber bestimmten etablierten politischen Kräften zu sein. Diese Gründe aus sich heraus erst einmal nicht anzuerkennen (und zwar als prima facie diskussionswürdig), sondern sofort unter das Rubrum des „Rechtspopulismus“, des „Rassismus" oder einen „völkisch-rebellisch-autoritären“ Einstellungskomplex zu subsumieren und den Bauchladen seiner eigenen politischen Überzeugungen als Nulllinie des Diskurses zu setzen, ist ein blinder Fleck in dieser Art von politisierter Forschung.

Der mediale Effekt immerhin war tiefgreifend: Sogar die F.A.Z. verwendet die Grafiken aus der Studie, die durch die fehlende Zeitreihe aus den Jahren 2002 bis 2012 natürlich umso schauderhafter aussehen. Hätte man die in der aktuellen Mitte-Studie abgeschnittenen Zeitreihen gleich in die Präsentation und die Diskussion der Ergebnisse miteinbezogen, wäre die Aufregung um den „Rechtsruck“ wohl um einiges geringer ausgefallen und in viel höherem Maße von wissenschaftlichen und politischen Ambivalenzen durchzogen gewesen. Aber genau diese Ambivalenzen wollten ausgerechnet jene Kreise, in denen emphatisch der Kampf für die offene und vielfältige Gesellschaft geführt wird, nicht unmittelbar erkenntlich abgebildet und sogleich diskutiert wissen.

Die Migrationsfrage

Gegen diese einförmige Phalanx der wissenschaftlich ratifizierten Realität dürfen schließlich Andersdenkende dann hilflos anlaufen, was ihren wahrgenommenen Kontrollverlust wiederum verstärkt und sie noch wütender auf „das System“ macht. Bemerkbar macht sich dies besonders in jenem Themenfeld, das durch die fortwährende Warnung vor rechtsextremen Tendenzen bereits in einer bestimmten politischen Weise ausgestaltet werden soll: der Zuwanderung. Die Mitte-Autoren nehmen ihre eigene politische Bewertung, dass „Etabliertenvorrechte“ möglichst zu unterbleiben haben, zum Ausgangspunkt für ihre Forschung und kritisieren in der „Studie“ (die man in dieser spezifischen Hinsicht mit Apostrophen versehen darf, weil es sich schlichtweg um wissenschaftlich nicht begründbare Meinungsäußerungen handelt) eine bloß „vordergründige Willkommenskultur“.4 Die Autoren gehen sogar so weit, Behörden dahingehend zu kritisieren, dass dort „von Willkommenskultur nicht immer viel zu spüren“ sei.[v]

„Die politische Haltung der Autoren wuchert rund um den Komplex der Migrationsfrage so sehr, dass sie wiederum auf dem wissenschaftlichen Auge an Sehschärfe einbüßen.“

Hier kann man einfach nur doppelt baff sein: Als wäre es die Aufgabe einer Behörde, Migranten „willkommen“ zu heißen und nicht vielmehr im Namen des deutschen Souveräns gesetztes Recht korrekt umzusetzen. Und als wäre es die Aufgabe von Wissenschaftlern, mehr Willkommenskultur in Behörden anzumahnen. Erst vor dem Hintergrund der privaten politischen Einstellung der Forscher (die als solche völlig legitim ist und natürlich in vollem Umfang debattiert werden kann – was allerdings voraussetzt, dass sie nicht im Gewand der Wissenschaft verkleidet wird), kann es dem Leser der „Studie“ in das Hinterstübchen des Bewusstseins geschoben werden, dass der Umstand, dass immer mehr Menschen „Vorrechte für Etablierte“ fordern, aus einer quasi-wissenschaftlich sanktionierten Perspektive irgendwie problematisch, heikel oder doch nicht so ganz ‚sagbar‘ ist.

Die politische Haltung der Autoren wuchert rund um den Komplex der Migrationsfrage so sehr, dass sie wiederum auf dem wissenschaftlichen Auge in einer ganz bestimmten Hinsicht an Sehschärfe einbüßen. Schließlich ist der Komplex der Zuwanderung gerade unter dem von der Mitte-Studie zentral thematisierten Phänomen der politischen Selbstwirksamkeit absolut zentral. So vollzieht sich das Migrationsgeschehen seit Jahren weitgehend ungesteuert und in großer Zahl, verschlingt deshalb Unsummen an Steuergeld für Sozialleistungen und Integrationsmaßnahmen und bringt, auch wenn sich hier Verallgemeinerungen auf die Zuwanderer als Gesamtgruppe strikt verbieten, auch Kriminalität ins Land. Viele Bürger sind nicht mehr bereit, diesen mit unkontrollierter Migration verbundenen Kontrollverlust zu akzeptieren.

Hinzu kommt der demokratietheoretisch fundamentale Gesichtspunkt, dass sich durch Migration der Souverän selbst in seiner personellen Zusammensetzung ändert. Dies allerdings geschieht mehr oder weniger schleichend, so dass es dem Einzelnen erscheint, als hätte er es – wie es ihm dann bisweilen hübsch abstrakt erzählt wird – mit einem „Wandel“ zu tun. In Wirklichkeit resultiert dies aus politischen Entscheidungen, die seiner Mitbestimmung aber weitgehend entzogen sind. Dieser Entwicklung darf auch der konservativer eingestellte Teil des Staatsvolks seit geraumer Zeit nahezu ohnmächtig zusehen, weil es – dank Angela Merkel – lange Zeit so schien, als würde auch die CDU das vertreten, was auch fast alle anderen Parteien wollen: Je mehr Menschen zu uns einwandern, desto besser für das Land, das zudem dadurch noch um einiges „humaner“ werde – eine moralische Dividende, die man als Kompensation für die Verheerungen, die der deutsche Nationalsozialismus über die Welt gebracht hat, gerne annimmt.

„Andersdenkende haben es ja nun mit ‚Wissenschaftlern‘ zu tun, die man in den Kreisen der Hochfrustrierten auch deswegen allzu gerne fundamental ‚delegitimiert‘, damit sie einem nicht mehr vorschreiben können, wie man zu denken und was man zu wollen hat.“

Bis schließlich die AfD die politische Bühne betrat, die das vernachlässigte Kontrollempfinden eines Teils des Souveräns nun für ihre politische Zwecke nutzbar macht und das, was ein relativ rationaler Diskurs über die personelle Zusammensetzung des Souveräns hätte sein können, mit Abwehrreflexen, Ressentiments und Rassismen auflädt. Die Problematik „unkontrollierter Massenmigration“ ist in der politisch-analytischen Welt der Mitte-Studie-Autoren jedoch nichts, das auch nur im Ansatz verfangen könnte. Dabei hätten sie mit dem Stichpunkt „Kontrollverlust“ bereits die passende Brille auf, um hier in voller Schärfe sehen zu können – wenn sie es denn wollten. Aber leider behält besonders an dieser Stelle das Weltbild den Primat gegenüber dem Drang nach Erkenntnis der Wirklichkeit.

Politisierter Forschung in der Machart der „Mitte-Studie“ kommt damit das zweifelhafte Verdienst zu, die sich aufschaukelnde Lagerbildungsspirale aus wissenschaftlichen Realitätskuratoren und den kulturell zu kurz Gekommenen, deren Ohnmachtsempfinden durch exogene Krisendynamiken in den letzten Jahren massiv verstärkt wurde, nicht nur nicht abzuschwächen, sondern gerade in Gang zu halten.

Andersdenkende haben es ja nun mit „Wissenschaftlern“ zu tun, die man in den Kreisen der Hochfrustrierten auch deswegen allzu gerne fundamental „delegitimiert“, damit sie einem nicht mehr vorschreiben können, wie man zu denken und was man zu wollen hat. Und so fördert die politisierte Wissenschaft auch noch die „Wissenschaftsleugnung“, an deren wackerer „Bekämpfung“ sich man dann in eben jenen durchpolitisierten Wissenschaftsmilieus auch noch moralisch aufladen kann – was erkennbar einen Teufelskreis aus angemaßtem Diskursschutz und dem hilflosen Empfinden, der Meinungskorridor werde immer enger, befeuert. Die politisch und wissenschaftlich Verantwortlichen der Mitte-Studie täten deshalb gut daran, die in der aktuellen Studie weggelassenen Zeitreihen unverzüglich in den Bericht aufzunehmen und die Diversität in ihrer Forschung zu erhöhen – und zwar die Diversität an wissenschaftlichen Thesen und Blickwinkeln, die dann möglichst hart auf die Probe gestellt werden. Damit könnten sie mutig ein weiteres Zeichen setzen: für eine Kultur der vertrauenswürdigen, offenen Debatte auf Augenhöhe zu zentralen gesellschaftlichen Problemstellungen. Dann dürfte sich die Studie ruhig auch einmal auf einer Empfehlungsliste der Friedrich Ebert-Stiftung wiederfinden.

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