09.11.2022

Der fremde Stamm

Von Christian Zeller

Eine ARD-Doku geht der Frage nach, welche Haltungen zu Russland und dem Ukrainekrieg in Ostdeutschland verbreitet sind. Dabei zeigt das öffentlich-rechtliche Fernsehen einen herablassenden Gestus.

„Wie kann es sein, dass Menschen aus meiner Heimat glauben, nicht mehr in einer Demokratie zu leben?“ fragt die Sportjournalistin Jessy Wellmer in der am 24. Oktober 2022 ausgestrahlten ARD-Dokumentation „Russland, Putin und die Ostdeutschen“. Mit einer persönlich gefärbten Reise durch Ostdeutschland wollte die 1979 in Güstrow/Mecklenburg geborene Wellmer herausfinden, warum viele Ostdeutsche den Krieg in der Ukraine anders, und zwar irgendwie ‚putinfreundlicher‘, bewerten als viele Westdeutsche. Die erklärbärhafte Überheblichkeit, gepaart mit moralisch-politischer Selbstgewissheit, die der Film ausstrahlt, liefert dabei schon einen entscheidenden Hinweis auf die Frage nach dem Verhältnis vieler Ostdeutschen zur Demokratie.

In der Tat: Der Frust über die Demokratie nimmt zu, in Ostdeutschland noch etwas mehr als in Westdeutschland. In der Talkshow „Hart aber fair", in der im Anschluss an die Sendung über die Befunde aus Wellmers Reportage diskutiert wurde, wurde ein Ergebnis des im Oktober durchgeführten ARD-Deutschlandtrends vorgestellt. Demzufolge sind 54 Prozent der Westdeutschen mit der Demokratie, wie sie in Deutschland funktioniert, zufrieden, aber nur 35 Prozent der Ostdeutschen. Daraus lässt sich freilich noch nicht, wie Wellmer das in ihrer Frage unterstellt, ableiten, dass einige Ostdeutsche nicht mehr Auffassung sind, in einer Demokratie zu leben, sondern vielmehr – genau das besagt ja die Frage – „unzufrieden" mit ihrem Funktionieren zu sein. Solche feinen Nuancen gehen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk bisweilen unter. Auch den Umstand, dass 20 Prozentpunkte Unterschied in der Zufriedenheit mit der Demokratie zu einem Ost-West-Gegensatz hochgejazzt werden, kann man zu Recht skeptisch sehen. Denn zunächst ist doch der globale Befund, dass gerade noch einmal die Hälfte aller Deutschen mit ihrer Demokratie zufrieden ist, eine Warnung an jeden, dem die Demokratie wichtig ist – und zwar unabhängig davon, ob er in Ost oder West lebt.

Die entscheidende demokratiepolitische Frage in den nächsten Jahren wird sein: Wie kann der gestiegene Gestaltungs- und Beteiligungswille der Bevölkerung – der auch durch die digitalen Netzwerke und Online-Medien, die die traditionellen Gatekeeper des klassischen Journalismus umgehen, befördert wird – produktiv in Institutionen eingeleitet werden, die diesem Wunsch nach mehr Mitbestimmung Rechnung tragen? Die Unzufriedenheit mit der existierenden Form der Demokratie ist auch ein Wunsch nach einer Demokratie, die das mit dieser Regierungsform abgegebene Versprechen ernst nimmt: Dass nämlich Regeln des Zusammenlebens entstehen, die denjenigen gemäß sind, die ihnen schlussendlich auch folgen müssen.

Untersuchungsgegenstand Ossis

Wellmer versucht schon zu Beginn des Films, als sie ihre Eltern, beide pensionierte Lehrer, in ihrem Geburtsort besucht, überaus angestrengt, Offenheit gegenüber ihrem ‚Untersuchungsgegenstand‘ zu vermitteln. Sie möchte, wie sie sagt, „verstehen“ und nicht „bewerten“. Das klingt erst einmal toll, aber in dieser quasi-wissenschaftlichen, objektivierenden Haltung, die die Dokumentation ihrem ‚Untersuchungsgegenstand‘ gegenüber einnimmt, liegt bereits das Problem – und ein guter Teil der Antwort auf die Frage nach der Unzufriedenheit „der Ostdeutschen" mit den demokratischen Verhältnissen. Denn dass Menschen auch grundsätzlich diskutable Gründe für eine Position gegenüber Russland haben könnten, die die waffenlieferungsfanatische, ‚Wir schließen Russland für alle Zeiten aus der Weltgemeinschaft aus‘-Haltung, die der mediale Mainstream und weite Teile der etablierten Politik als die alleinig selig machende verkaufen möchte, zu Recht kritisch betrachtet, wird erst gar nicht erwogen.

„Durchgängig wird in dem Film über ‚die Ostdeutschen‘ gesprochen wie vor der Wende über ‚die Zone‘ – ein skurriles Stück Land, das irgendwie ‚zu uns‘ gehört, und doch furchtbar weit weg ist.“

Gerade in seiner Pseudo-Reflektiertheit ist der Film deshalb ungemein borniert. Denn die distanzierte „Erklärung“ der ostdeutschen Prägungen wird mit einer Haltung kombiniert, die die angeblich ‚westdeutsche‘ Position zur weitgehend unhinterfragten Norm erklärt Es wäre besser, man würde einmal hemdsärmelig mit den Leuten dort über ihre Auffassungen streiten und sie damit auf Augenhöhe und mit Respekt behandeln, anstatt sie pauschal als „Putin-Versteher“ abzuqualifizieren und dann sogleich mit ihrem Meinungsreservoir zum Objekt der öffentlich-rechtlichen Küchensoziologie zu machen. Durchgängig wird in dem Film über „die Ostdeutschen“ gesprochen wie vor der Wende über „die Zone“ – ein skurriles Stück Land, das irgendwie ‚zu uns‘ gehört, und doch furchtbar weit weg ist. Ostdeutschland, das ist für den im Geist der US-amerikanischen Re-Education geprägten öffentlichen Rundfunk das Andere in uns selbst. Und deshalb verfängt eine Rhetorik, mit der „die Ostdeutschen" wie eine sonderbare, sorgfältig zu untersuchende und dadurch zu zähmende Spezies behandelt werden: Man hält sie mit einem objektivierenden Gestus auf Distanz und schließt sie damit weder vollständig aus – noch gänzlich ein. 

Der Umstand, dass Wellmer selbst aus ‚dem Osten‘ stammt, ändert an ihrer quasi-ethnologischen Haltung ihren Landsleuten gegenüber nichts; sie wirkt vielmehr wie eine Konvertitin, die sich, um die Reste ihres alten Glaubens abzuschütteln, besonders ‚westdeutsch‘ gibt. In der Reportage wird deshalb psychologisiert, was das Zeug hält: Aufgrund ihrer biographischen Prägung hätten die Ostdeutschen eben ein anderes Verhältnis zu Russland, erklären uns unter anderem die in Leipzig tätige Journalistin Antonie Rietzschel, die in Wittenberg lehrende Historikerin Silke Satjukow, der Linken-Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi und Freunde von Wellmers Eltern, darunter eine pensionierte Lehrerin und ein ehemaliger Offizier der Nationalen Volksarmee. Wenn einem eine „grundsätzliche Anti-Haltung zur Nato und zum Westen“ eingetrichtert worden sei, dann tendiere man eben dazu, diese auch dann beibehalten, wenn der ehemalige Systemfreund, nämlich Russland als Nachfolger der Sowjetunion, einen klaren Fehler begangen habe, erläutert Gysi, der als „oberster Osterklärer“ vorgestellt wird.

In der marxistischen Theorie, die Gysi nicht unbekannt sein dürfte, bezeichnet man eine solche Haltung gegenüber einem lebendigen Objekt mit Eigensinn als Verdinglichung. „Die Ostdeutschen“ – dieser pauschalisierte Ausdruck fällt mehrmals in dem Film –, sind der fremde Stamm, über den sich der Forscher mit seinen gediegen-elitären Wissensbeständen hermacht. Die subkutan vermittelte Botschaft ist verheerend und widerspricht diametral der im Film penetrant vor sich hergetragenen Open-Mindedness: ‚Wir bemächtigen uns deiner, indem wir dich ausschließlich als das Produkt deiner Lebensumstände analysieren‘, ist die latente Botschaft der Reportage. Die ARD hat damit das zwielichtige Kunststück vollbracht, genau das zu reproduzieren, die man mit dem Film zu überwinden trachtete. Nämlich die angeblichen Gräben zwischen Ost und West, die maßgeblich aus dem Umstand resultieren, dass sich immer wieder ‚Erklärer‘ aufmachen, um nach eben jenen angeblichen Gräben zu suchen – anstatt „den Ostdeutschen“ das zu geben, was ihnen als der größte ideelle Vorteil der Wiedervereinigung präsentiert wurde: in einer liberalen und pluralen Gesellschaft als Gleiche ernst genommen zu werden.

„Gegenüber Ostdeutschland reproduziert die Reportage zudem eine Haltung, die den ganz selbstverständlichen Ausschluss bestimmter politischer Positionen offenbar für ein Qualitätsmerkmal professioneller Berichterstattung hält.“

Wenn etwa die Kamera in eine Gruppe demonstrierender Frauen hineingehalten wird und dabei den gesächselten Satz „Wenn sich die USA nicht eingemischt hätte in der Ukraine, dann wäre das so weit gar nicht gekommen“ einfängt, dann wird nicht einmal im Ansatz erwogen, diese These als Diskussionsbeitrag ernst zu nehmen. Dass man das ohne weiteres kann, zeigt die Position des bekannten Politologen John Mearsheimer, eines Anhängers der „realistischen Schule“ der Außenpolitik, der in Deutschland allerdings nur selten zu Interviews eingeladen wird.

Mangelnde Anerkennung

Wenn differenzierende Rationalität und das unvoreingenommene Abwägen von Argumenten wesentliche Merkmale moderner liberaler Gesellschaften sind, dann ist es in der Berichterstattung zum Angriffskrieg auf die Ukraine um weite Teile des Journalismus, auch jenen des öffentlichen Rundfunks, schlecht bestellt. Auch wenn Wellmer verspricht, nicht bewerten zu wollen, so liegt ihrer ganzen Reise doch ihre Bewertung des Ukraine-Krieges bereits zugrunde. In ihrem Gespräch mit Gysi fragt sich die Journalistin allen Ernstes, wie sich Ostdeutsche überhaupt in die „Situation“ begeben könnten, das Verhalten eines „Täters“ – gemeint ist Putin – zu „erklären“. Genau das ist das Weltbild hinter dem „Putin-Versteher“-Vorwurf, der viele Menschen im Osten völlig zu Recht zur Weißglut treibt: ‚Jemanden verstehen zu wollen  bedeutet zugleich, seine Taten zu rechtfertigen.‘ Dieser Kurzschluss ist allerdings so brachial undifferenziert, dass man sich fragen muss, wie man dann überhaupt noch ernsthaften Journalismus betreiben kann, wenn der nicht mehr darin bestehen können soll, auch Skurriles, Absurdes und, ja, auch Verbrecherisches, verstehen zu wollen. Allein in dieser Auffassung Wellmers steckt die Bankrotterklärung jedes professionellen Journalismus und ersetzt diesen durch eine moralistisch aufgehypte Gesinnungsberichterstattung, die uns derzeit von fast allen Leitmedien in der Ukraine-Frage um die Ohren gehauen wird. Dass der Angriffskrieg auf die Ukraine in der Tat ein Verbrechen ist, ist das eine, ob dies allerdings auf sämtlichen Kanälen jeden Tag den Bürgern eingetrichtert werden muss, als wären sie nicht in der Lage, das zu verstehen, das andere.

Gegenüber Ostdeutschland reproduziert die Reportage damit nicht nur die mangelnde Anerkennung des Westens gegenüber den ehemaligen SED-Unterworfenen, sondern zudem eine Haltung, die den ganz selbstverständlichen Ausschluss bestimmter politischer Positionen offenbar für ein Qualitätsmerkmal professioneller Berichterstattung hält. Die geopolitischen Interessen der USA in diesem Kontext auch nur zu erwähnen, führt sogleich zu einem peinlich berührten Hüsteln. Dieses in eine halbwegs angemessene Diskussion zu überführen, ist man in vielen Leitmedien nur dann bereit, wenn man etwa mit der USA-Kritikerin Sarah Wagenknecht gleichzeitig Einschaltquote bzw. Leserschaft generieren kann. Menschen hingegen, deren Hauptaufgabe im Leben nicht darin besteht, ein in zahlreichen medialen Gewittern gestählter Öffentlichkeitsprofi zu sein, dürfen bei Äußerung ihrer Auffassungen hingegen eine latente Fundamental-Ablehnung über sich ergehen lassen.

„Das öffentlich-rechtliche Fernsehen in seiner gegenwärtigen Gestalt nährt vor allem im Osten Deutschlands mittlerweile Ressentiments gegenüber ‚der Elite‘ und verstärkt damit auch den Rechtspopulismus.“

Man kann deshalb nur erstaunt sein, dass sich viele Verantwortliche im öffentlich-rechtlichen Fernsehen so sehr darüber wundern, wie viele Menschen insbesondere im Osten Deutschlands ablehnend reagieren, wenn ein Kamerateam dieser Sender auf sie zusteuert. Denn durch derartige mediale Dar- und Bloßstellungen werden Ohnmachtsgefühle verstärkt, die wie kaum eine zweite Emotion Gift für die Demokratie sind. In einer Allensbach-Umfrage vom September 2022 geben 55 Prozent der Menschen in Ost und West an, „dass die meisten Ereignisse von Ereignissen abhängen, die wir nicht beeinflussen können“.1 Eine der Bedingungen für eine gelungene Demokratie ist allerdings das Empfinden, sein Geschick selbst beeinflussen zu können – in der Sprache der Sozialpsychologie: die Selbstwirksamkeit.2

Entgegen dem berühmten Böckenförde-Theorem, dass die säkulare Demokratie auch von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann, kann die Demokratie die Entstehung eines solchen Selbstwirksamkeitsempfindens jedoch durch transparente, bürgernahe, niedrigschwellig aufgebaute Institutionen fördern. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen in seiner gegenwärtigen Gestalt ist hier jedoch vor allem im Osten Deutschlands mittlerweile kaum ein begünstigender Einflussfaktor mehr, sondern nährt Ressentiments gegenüber ‚der Elite‘ und verstärkt damit auch den Rechtspopulismus.

Die Antwort auf Wellmers entgeisterte Frage nach der scheinbaren Ungeheuerlichkeit, dass sich viele Ostdeutsche in der bundesrepublikanischen Demokratie nicht beheimatet fühlen, liegt also in dem Habitus, den sie selbst mit einer Reichweite an den Tag legt, von der die allermeisten Bürger nur träumen können, nämlich: die politische Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Wellmer präsentiert ihre Position zum Ukraine-Krieg als den Standard, hinter dem man um den Preis des moralisch angeleiteten Ausschlusses nicht zurückbleiben darf. Und das Handeln derjenigen, die sich trauen, dennoch als Abweichler durchs Feuer zu gehen, wird schließlich im Gestus des Verhaltensforschers ‚erklärt‘. Die Reportage „Russland, Putin und die Ostdeutschen“ ist der Ausdruck einer medialen Kolonialisierung Ostdeutschlands.

jetzt nicht

Novo ist kostenlos. Unsere Arbeit kostet jedoch nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Unterstützen Sie uns jetzt dauerhaft als Förderer oder mit einer Spende!