15.07.2022

Talkshow als ritualisierte Abkanzelung

Von Christian Zeller

Titelbild

Foto: Sven Scheuermeier via Unsplash / CC0

In die ZDF-Sendung „Markus Lanz“ werden Andersdenkende zwar eingeladen, aber als Abweichler gebrandmarkt. So geschehen bei Sarah Wagenknecht und Ulrike Guérot.

Die Auseinandersetzung um Meinungsfreiheit und Cancel Culture ist im Zuge des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges auf die Ukraine in den Hintergrund getreten. Dabei gibt es gute Gründe, sie gerade jetzt zu führen. Das Debattieren zwischen weltanschaulichen „Lagern“, die sich gegenseitig die „Sagbarkeit" ihrer Position absprechen, verschärft sich in Zeiten eines Krieges, von dem sich der Westen, formeller Kriegseintritt hin oder her, als integraler Teil begreift.

So werden auf der einen Seite Befürworter der Entsendung von Panzern und Artillerie in die Ukraine mittlerweile verschiedentlich als „Kriegstreiber“ tituliert. Derartige moralische Diskreditierungen stellen einen Versuch dar, die Deutungshoheit auf die Seite derjenigen zu verlagern, die der Lieferung schwerer Waffen kritisch gegenüberstehen und der Nato-Osterweiterung zumindest eine Teilverantwortung bei der Entstehung des Konflikts zuschreiben.

Auf der anderen Seite appellieren zahlreiche Journalisten und Politikern implizit an die moralische Selbstachtung der Bevölkerung, wenn sie Andersdenkende als „Putin-Versteher“, „Putin-Fans“ oder „Kremls willfährige Helfer“ herabsetzen. Die mit der Angst vor sozialer Isolation spielende Botschaft ist sowohl beim „Kriegstreiber“ als beim „Putin-Versteher“ klar: „Wenn du Meinung X vertrittst, gehörst zu dem moralisch verachtenswerten Lager Y an.“ Für die sachliche Gültigkeit eines Arguments ist das ‚“Lager‘“, aus dem es kommt, allerdings grundsätzlich unerheblich; es handelt sich um eine Association Fallacy. Lernen kann man – dies mögen sich insbesondere Journalisten vor Augen führen, die die oben zitierten Kampfbegriffe verwenden – auf diese Weise nichts. Dafür sind die negativen sozialen Effekte der moralisch induzierten Lagerbildung beträchtlich: In Gang gesetzt wird eine Polarisierungsspirale, die an den Rändern immer extremere Meinungen produziert und einen abwägenden, vielstimmigen Diskurs zu den tieferen Kriegsursachen und einer angemessenen Reaktion des Westens unterminiert.

„Eine Polarisierungsspirale produziert an den Rändern immer extremere Meinungen und unterminiert einen abwägenden, vielstimmigen Diskurs zu den tieferen Kriegsursachen und einer angemessenen Reaktion des Westens.“

Besonders problematisch wird es, wenn eine solche Polarisierung bereits die Voreinstellung in Formaten bildet, die die argumentativ strukturierte Debatte eigentlich pflegen könnten und sollten. Eine besonders Form der atmosphärischen Diskreditierung Andersdenkender war paradigmatisch in der Talkshow „Markus Lanz“ zu beobachten, als am 19. Mai die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und am 2. Juni die Politologin Ulrike Guérot ihre Nato-kritischen Positionen der Diskussion ausgesetzt haben. Die Analyse dieser beiden Auftritte wirft ein Licht auf die Mechanismen, mittels derer sich die Herabsetzung bestimmter Meinungsäußerungen in Gesellschaften vollzieht, die sich grundsätzlich zum Wert des liberalen Meinungsstreits bekennen. Eine prinzipielle Überlegung sei zunächst vorausgeschickt.

Wie Meinungsfreiheit eingeschränkt wird

Selbstverständlich gilt: Nicht jeder Widerspruch gegen eine Meinungsäußerung ist gleich eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, die auf staatlich-rechtlicher Ebene in der Bundesrepublik Deutschland vorbildlich abgesichert ist. Liberaler Meinungsstreit erklärt gerade nicht die Weltsicht eines jeden für sakrosankt, sondern setzt sie, wenn damit der Raum der Öffentlichkeit betreten wird, bisweilen einem Sturm der Gegenrede aus. Dass eine Meinungsäußerung, auch in polemischer Form, kritisiert wird, sie hinsichtlich der Faktenlage für falsch oder für normativ unangemessen befunden wird, damit muss jeder leben, der sich öffentlich äußert. Umgekehrt gilt jedoch auch, dass nicht jede Art von Gegenrede dem Sinn liberalen Meinungsstreits – das gemeinsame Ringen um den Kurs, den eine Gesellschaft in einer bestimmten politischen Frage gehen möchte – angemessen ist. Drei Typen von Gegenrede, die den offenen und freien Austausch von Meinungen und Weltsichten untergraben, möchte ich hierbei unterscheiden:

  1. Beleidigungen und Drohungen schüchtern ein und fördern gerade nicht die lebhafte Debatte. Sind sie, was in aller Regel der Fall ist, justiziabel, muss der Staat effektiv eingreifen und damit nicht nur das Persönlichkeitsrechts des Einzelnen, sondern auch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung schützen.
  2. Im Zeitalter von „Safe Spaces" und „Trigger-Warnungen" ist die Forderung verbreitet, der andere dürfe seine Meinung überhaupt nicht äußern, weil deren Verbreitung „Hass und Hetze" bedeute, „rassistisch" sei oder sie ohnehin nur von „Rechtspopulisten" oder „Nazis" geäußert werde. Echte Hate Speech, wirklicher Rassismus und „national befreite Zonen" sind in der Tat ein veritables Problem, greifen sie doch den Kern liberaler, auf individuellen Menschen- und Bürgerrechten aufbauenden Gesellschaften an. Sie gehören deshalb mit den Mitteln des Staates und den wachen Augen der Zivilgesellschaft bekämpft. Allerdings haben sich in bestimmten tonangebenden akademischen Milieus der Gesellschaft die Standards im Zuge des Aufkommens der „Woke Culture" seit einigen Jahren so weit verschoben, dass dadurch der liberale Meinungsstreit beschädigt wird. Wenn etwa bereits die Behauptung, es gebe zwei biologisch bestimmte Geschlechter und daraus abgeleitete Mischformen mit härtesten Worten als „transphob" gegeißelt wird, dann wird damit die freie und offene Debatte eingeschränkt. Denn zu derartigen Fragen melden sich nun primär solche Personenkreise zu Wort, die, wie etwa in Parteien organisierte Rechtspopulisten, vom Trotz gegen „Meinungskorridore“ leben und besonders resistent gegenüber der Strategie inflationär eingesetzter moralischer Beschämung sind. Zu diesem zweiten Typ von Gegenrede, welche die Meinungsvielfalt in einer Gesellschaft beschränkt, gehören auch inflationär eingesetzte Lagerzuweisungen vom „Corona-Leugner" über den „Verschwörungstheoretiker" bis zum „Putin-Versteher". Das Ziel solcher Begriffe besteht jeweils darin, eine Meinung zu stigmatisieren und damit die Wahrscheinlichkeit ihrer Äußerung einzuschränken, um so mit der eigenen politischen Auffassung eine Deutungshoheit erzielen zu können.
  3. Ein dritter Typ informeller Einschränkungen der Meinungsfreiheit besteht darin, dass der soziale Kontext der Meinungsäußerung so herausfordernd gestaltet wird, dass Normalbürger vor einer Äußerung ihrer Meinung zurückschrecken und bloß kommunikative Profis ihre Meinung kundtun wollen und können. Auch diese Art von Gegenrede senkt die Wahrscheinlichkeit meinungsbezogener Diversität in der Gesellschaft.

Gast: Sahra Wagenknecht

Bei „Markus Lanz“ regiert in Bezug auf den Ukraine-Krieg die dritte Strategie. Werfen wir einen Blick auf ihre Funktionsweise und machen uns klar, welche Wirkung von ihr ausgeht. Geladen waren bei Markus Lanz am 19. Mai neben Sahra Wagenknecht die Politologin Daniela Schwarzer, der FDP-Politiker Johannes Vogel und der Bild-Journalist Paul Ronzheimer. Schon die Auswahl der Gäste stellte sicher, dass Wagenknecht der einzige Gast war, der eine Nato-kritische Perspektive vertrat. Kommuniziert wurde: Wagenknecht ist, was auch immer sie genau sagt, eine Abweichlerin. Bereits damit liegt es nahe zu vermuten, dass der eigentliche soziale Sinn der Sendung darin bestand, ein kommunikatives Ritual aufzuführen, in dem eine bestimmte Weise der Weltwahrnehmung bestärkt werden sollte.

„Das Spezifikum dieser Sendung besteht darin, dass der Gastgeber auf Prinzipien eines professionellen Journalismus wie das Neutralitätsgebot des Moderators keinen besonderen Wert legt.“

Darum sitzen bei „Markus Lanz“ in kontrovers angelegten Talks zum Ukraine-Krieg einer ‚Unvernünftigen‘ mindestens zwei bis drei ‚Vernünftige‘ gegenüber. Das Spezifikum dieser Sendung besteht darin, dass der Gastgeber auf Prinzipien eines professionellen Journalismus wie das Neutralitätsgebot des Moderators keinen besonderen Wert legt und mitunter bei den ‚Vernünftigen‘ mitmischt. Die Sendung ist durch und durch eine Kompromissbildung: Einerseits fühlt man sich offenbar an das Prinzip der Meinungsvielfalt gebunden, andererseits hat man eine Heidenangst davor, mainstreamwidrige ‚Narrative‘ zu verbreiten und die unmündigen Zuschauer vom Pfad der wahren Tugend abzubringen. Peinlichst wird darauf geachtet – das haben Journalisten während der Pandemie gelernt –, keine ‚False Balance‘ entstehen zu lassen, also nicht etwa zwei Impfgegnern neben zwei Impfbefürworter zu setzen. Andernfalls könnte der falsche Eindruck entstehen, als stehe auch in der übrigen Gesellschaft einer Impfbefürworterin ein Impfgegner gegenüber.

Dass die Zuschauer so schlau sind, eine Talksendung als das zu sehen, was sie ist, nämlich die kommunikative Inszenierung eines bestimmten Ausschnitts der Realität, darauf baut man in der Redaktion dieser Sendung offenbar nicht. Vielmehr versteht man sich als Serviceagentur für die moralische Betreuung des Publikums. Einer relativ ruhigen Eröffnungsphase folgt das erhitzt-chaotische Abkanzeln der ‚Abweichlerin‘ durch die vorher sorgfältig ausgewählten Kontrahenten sowie den „Moderator" höchstselbst, der im Verlauf der Sendung blitzschnell in die Rolle des Kontrahenten zu schlüpfen vermag. In den ersten Minuten, wenn die Abweichlerin erstmals ‚dran ist‘, darf sie ihre Sichtweise darlegen, während die Kamera bereits auf die ‚vernünftigen‘ Gäste fällt und zeigt, wie sie unruhig werden, auf ihren Stühlen hin- und herrücken, sich räuspern, nervös blinzeln, während gleichzeitig die Empörung über so viel Falsches und moralisch Minderwertiges, was sie da mitanhören müssen, in ihnen aufsteigt. Die Position Wagenknechts bestand darin, dass die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine eine Verhandlungslösung schwieriger mache, auf die lange Frist zu größerem Leid in der Zivilbevölkerung führe und eine territoriale Ausweitung des Krieges begünstige. Zudem ist sie dafür bekannt, ähnlich wie etwa der US-amerikanische Politologe John Mearsheimer, die Nato-Osterweiterung als mitursächlich für die Eskalation des Konflikts anzusehen.

Als die ‚Unvernünftige‘ ihre Sichtweise dargelegt hatte, begann schließlich das große Durcheinander. Weitergehende Erläuterungen der Ausgangsthese wurden zuverlässig durch aufgeregte Einwürfe der anderen Gäste sowie des „Moderators" unterbunden. Phasenweise redeten alle gleichzeitig, und zwar besonders dann, wenn sich im Spiel von disziplinierter Rede und Gegenrede, an der vor allem der „Moderator" keinerlei Interesse zeigte, neue Gesichtspunkte hätten zeigen können.

„Man möchte die Zuschauer nicht mehr verunsichern, als es die praktizierten Bekenntnisse zur Meinungsvielfalt unbedingt notwendig machen.“

Die organisierte Anarchie im Umgang mit ‚Unvernünftigen‘ hat in dieser Sendung durchaus System: Man möchte die Zuschauer nicht mehr verunsichern, als es die praktizierten Bekenntnisse zur Meinungsvielfalt unbedingt notwendig machen. Damit zum Schluss der Sendung ja kein Rest an Ambivalenz, an Nicht-Aufgelöstem, an Nachdenkenswertem verbleibt, zieht der „Moderator" ein ‚vernünftiges‘ Fazit und widerlegt nochmals die ‚falschen‘ Thesen seines Gastes. An dieser Stelle lohnt es sich, in den O-Ton der Sendung hineinzuhören (ab 01:15:00):  

Lanz: Wir sind am Ende der Zeit. Ich würde nur gerne noch einen Punkt ganz kurz klarziehen. Das eine ist, wissen Sie, wenn wir heute Abend immer wieder dieses Narrativ verbreiten, da gibt es diese Provokation, die Nato rückt immer näher an den armen Putin ran. Wissen Sie, jetzt rückt der Putin demnächst an die Nato ran, an Finnland und an Schweden.

Wagenknecht: Das ist ja Russland, ich mein, da rückt er ja nicht ran.

Lanz: Ich will nur sagen, im Zweifel, rückt er immer weiter ran, und wenn das mit der Ukraine gelungen wäre, genauso. Und das zweite Narrativ ist das mit dieser vermeintlichen Einkesselung. Finnland hat 1300 Kilometer gemeinsame Grenze mit Russland. Russland hat 54000 Kilometer Außengrenze. Also Einkesseln, Einkreisen, Bedrohtsein von allen Seiten stelle ich mir anders vor, das tut mir wirklich leid.

Da ist sie, die Angst vor ‚Narrativen‘, die die Gebührenzahler möglicherweise ins Unglück stürzen, wenn sie ihnen aufgrund eines möglicherweise verantwortungslos agierenden „Moderators" anheimfallen sollten. Dass die Sendung mit all ihren Experten-Meinungen kein ‚Narrativ‘ verbreitet, ist damit ebenfalls schon ausgemacht – schlicht und einfach um die reine Vernunft geht es hier. Diese nimmt der „Moderator" für sich zum Schluss nochmals in Anspruch, um die der ‚Abweichlerin‘ tendenziös zugeschriebenen Positionen „klarzuziehen“. Lanz sagt uns mit dieser hübschen Metapher: „Das, was die Abweichlerin an kognitiver Unordnung, an zerknitterten Gedanken, hinterlassen hat, wird nun durch mich, den Volkspädagogen, wieder geglättet."

„Es ging nie um eine Diskussion unterschiedlicher Standpunkte, um das gemeinsame Erwägen und Abwägen von Argumenten und Sichtweisen in einer höchst kritischen weltgeschichtlichen Lage.“

Dass der „Moderator" dabei selbst teilweise wenig Sinnvolles von sich gibt – der Nato-Beitritt von Finnland und Schweden bedeute, dass Russland an NATO-Gebiet „heranrückt" –, spielt dabei keine Rolle, sofern es mit der entsprechenden moralischen Verve vorgetragen wird. Wagenknecht kann gerade noch zu Protokoll geben, dass sie selbst eine „Einkesselung" überhaupt nicht erwähnt hat. „Je früher verhandelt wird, desto mehr Menschenleben kann man retten", spricht sie schließlich noch in die Aufregung des "Moderators" hinein, der nun noch einmal aufdreht und in oberlehrerhaftem Ton einen Satz spricht, dem er mit seiner aufrechten, leicht nach vorne gebeugten Körperhaltung eine besondere pädagogische Würde verleiht:

Wissen Sie was, Frau Wagenknecht. Es wäre schön gewesen, wenn jetzt zum Abschluss dieser Sendung aus Ihrem Mund speziell heute der Satz gekommen wäre: ‚Und es wäre schön, wenn Putin endlich mal verhandeln würde. Und diesen Krieg beenden würde. Er hat das in der Hand.'

An dieser Stelle schließt sich der Kreis der Sendung, die sich damit als Farce entpuppt. Denn es ging nie um eine Diskussion unterschiedlicher Standpunkte, um das gemeinsame Erwägen und Abwägen von Argumenten und Sichtweisen in einer höchst kritischen weltgeschichtlichen Lage. Gedacht war die Sendung als die betont an einen Gast herangetragene Möglichkeit, eine Art politische Beichte abzulegen. Der „Moderator", ganz der Vertreter eines sich als ‚die Vernunft‘ ausweisenden Milieus, das sich die Verteidigung der westlichen Freiheit auf die Fahnen schreibt, während er zugleich sein Publikum wie betreuungsbedürftige Mündel behandelt, erwartete von einem Gast ein Einschwenken auf die einzig ‚wahre‘ Position. Immerhin hatte Wagenknecht ja wenige Tage vor dem Überfall von Putins Armee auf die Ukraine in der Talksendung „Anne Will" noch unterstellt, Russland habe „faktisch kein Interesse einzumarschieren". Mehr Fehleinschätzung war selten. Wagenknecht war bei „Markus Lanz" deshalb das schlechthin ‚Andere‘, das als Kontrastfolie diente, an der sich ein tonangebendes Milieu aus Journalisten, Politiker und den immer gleichen Experten seiner selbst vergewisserte.

Gast: Ulrike Guérot

Das gleiche Maß an Pseudo-Debatte herrschte in der Sendung mit Ulrike Guérot am 2. Juni. Auch Guérot wurde die Möglichkeit gegeben, ihre Thesen einige Minuten lang darzustellen. Der Moderator (der an dieser Stelle noch nicht in Anführungszeichen zu setzen ist) brachte zwei Mal sogar die Geduld auf, eine ganz schlichte, bewertungsfreie Nachfrage zu stellen. Guérots Auffassung war der Position Wagenknechts wahlverwandt. Sie verwies darauf, dass der Schlüssel der Konfliktbewältigung bei den USA läge, denn Putin ginge es ja ganz wesentlich um Sicherheitsgarantien gegenüber der von den USA dominierten Nato. Und so forderte sie, dass sich Biden um ein Gespräch mit Putin bemühen sollte, um den eigentlichen Konflikt, dem ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland zugrunde läge, beizulegen. Wieder schwenkte die Kamera auf die nervösen Gesichter der ‚Vernünftigen‘ – diesmal war diese Rolle (neben der in der Ukraine-Frage weitgehend neutralen Journalistin Natalie Amiri) der FDP-Verteidigungspolitikerin Agnes Strack-Zimmermann und dem CNN-Journalisten Frederik Pleitgen zugedacht. Sie gaben sich fast peinlich berührt im Angesicht von Guérots Ausführungen, und kaum hatte sie ihr Eingangsstatement beendet, war die Spannung so mit Händen zu greifen, dass Lanz keine Frage mehr stellen musste, sondern nur drei vielsagende Worte sprach: „Wer fängt an?"

„Es gibt Länder auf dieser Welt, in denen es eben gar keine Talkshows gibt (auch keine solchen, die Meinungsdifferenz inszenieren).“

Besser könnte man die abgekartete Form des Scheltens, die dem Umgang mit Andersdenkenden in diesen Sendungen zugrunde lag, nicht auf den Begriff bringen. Denn diese Frage, die auf das ‚Widerlegen‘ von Guérots Position abzielte, entlarvte ja schon den Umstand, dass die Rollenverteilung in ‚vernünftige‘ Befürworter von Waffenlieferungen und eine ‚unvernünftige‘ Gegnerin von Waffenlieferungen bereits vor der Sendung festgestanden haben muss. Wieder ging es um das exemplarische Vorführen einer eigentlich ‚unsagbaren‘ Meinung, um kontrastiv dazu die medial gängigen Ansichten zu Russlands Angriffskrieg bestätigt zu wissen. Mit Guérots Position wurde, wie bei Wagenknecht, eine abweichende Meinung pro forma einbezogen, aber es wurde penibel darauf geachtet, dass auch hier gleich ‚die Wahrheit‘ ans Licht kommt. Der „Moderator" musste nur noch das entsprechende Signal in die Runde geben und wie auf Knopfdruck präsentierten die Kontrahenten ‚die Stimme der Vernunft‘.

Strack-Zimmermann empörte sich sogleich darüber, dass Guérot kein einziges Mal von den Opfern des Krieges gesprochen hatte, als würde das Erwähnen der Opfer dieses in der Tat völlig sinnlosen und verbrecherischen Angriffskrieges bereits festlegen, wie der Westen darauf am besten zu reagieren habe. Pleitgen lobte die US-amerikanischen Bemühungen, den Krieg vor dessen Beginn zu verhindern, und er schwärmte geradezu von der Präzision der amerikanischen Geheimdienste, die den Einmarsch der russischen Armee vorausgesagt hatten.

Inszenierung und Abweichler

Warum nun bedeuten mediale Ereignisse wie diese eine informelle, auf der Ebene demokratischer Kultur sich vollziehende Beschränkung der Meinungsfreiheit? Ging es in der Diskussion nicht einfach nur hoch, bisweilen polemisch und etwas chaotisch her? Wagenknecht und Guérot konnten doch immerhin ihre Auffassung vor einem Millionenpublikum äußern. Gewiss, das ist so, und natürlich würde man keinesfalls konstatieren, dass es hier, was die Meinungsfreiheit angeht, gleichsam nicht mehr schlimmer geht. Es gibt Länder auf dieser Welt, in denen es eben gar keine Talkshows gibt (auch keine solchen, die Meinungsdifferenz inszenieren), Länder, in denen jeder abweichende Gedanke schon im Ansatz unterbunden wird, in denen die Äußerung der eigenen Meinung zur Gefahr für Leib und Leben wird, wenn sie der des allmächtigen Diktators widerspricht. Putins Russland hat sich in eine ebensolche Nation verwandelt.

„Das wilde Tier – in Gestalt der ‚inakzeptablen‘ Meinung – wird kurz freigelassen, um es sogleich wieder von mehreren Leuten zuzureiten und zu zähmen.“

Messen wir jedoch derartige mediale Ereignisse an ihren eigenen Maßstäben, sind sie dem Sinn des öffentlichen Meinungsstreits als dem politisch-zivilen Kerngefüge liberaler Gesellschaften unwürdig. Das Menschenbild liberaler Gesellschaften geht aus vom autonomen Bürger, der zur eigenständigen Urteilsbildung fähig und willens ist, und seine Urteile zur Grundlage der individuellen und kollektiven Gestaltung des Gemeinwesens macht. Sind bei „Markus Lanz" allerdings ‚Abweichler‘ geladen, so folgt ausgerechnet hier die Sendung häufig einem paternalistischen Duktus. Permanent werden verbale Anstrengungen unternommen, den vermeintlich giftigen Geist, den die Abweichlerin verströmen lässt, wieder in die Flasche hineinzuzwingen. Die Konversation gleicht einem Rodeo-Ritt: Das wilde Tier – in Gestalt der ‚inakzeptablen‘ Meinung – wird kurz freigelassen, um es sogleich wieder von mehreren Leuten zuzureiten und zu zähmen. Die Geltung einer bestimmten Weltsicht soll gerade durch das kontrollierte Zulassen von Abweichung bekräftigt werden.

Man sehe sich einmal an, wie manipulativ und suggestiv die YouTube-Auszüge der beiden Sendungen zum Ende hin geschnitten sind. In der Sendung vom 19. Mai endet der Auszug mit der Auffassung des Bild-Reporters, dass Putin keinesfalls in die Lage kommen dürfe, seine Armee wieder aufzubauen, andernfalls, so spekuliert Ronzheimer, drohe folgendes: „Und dann wird er in ein paar Jahren wieder Kiew angreifen und diesmal wird er dann vielleicht in Kiew Butscha veranstalten, und dann werden tausende Menschen auf den Straßen hingerichtet, Frau Wagenknecht.“ Cut. In der Sendung vom 2. Juni unterstellt Strack-Zimmermann Ulrike Guérot fälschlicherweise, sie vertrete die Auffassung, dass die Ukraine die Hälfte des Landes an Putins Russland abgeben solle und fügt an: „Und eins ist klar, wenn wir diese wertebasierte Ordnung, in der wir leben, wenn wir die jetzt aufgeben, dann kann ich nur sagen, dann Gnade uns Gott, übrigens auch den Europäern. Dieses ist ein Krieg, wo es darum geht, wird Demokratie und Freiheit gewinnen oder werden die Diktatoren und die Putins dieser Welt eine Chance haben.“ Und wieder: Cut. Es ist dem Publikum offenbar nicht zuzumuten, ohne diese dramatischen, dampfhammerartigen Botschaften, die die gesamte Position von Wagenknecht und Guérot als zutiefst unmoralisch und diktatorenfreundlich diskreditieren sollen, entlassen zu werden.

Dass eine derartig patriarchale Haltung letztlich durchaus eine Einschränkung der Meinungsfreiheit bedeutet, wird klar, wenn man sich die Zuschauer hineinversetzt, die auf der Seite der ‚Abweichlerin‘ stehen. Wir haben es hier mit dem psychologischen Phänomen der Identifikation zu tun. Denn die Gäste debattieren in derartigen Formaten ja gleichsam stellvertretend für die Zuschauer, die mit ‚ihrem‘ Gast mitfiebern. Und was ist wohl die implizite Botschaft an den Zuschauer zu Hause, wenn er mitansehen muss, wie selbst medial gestählte Figuren angesichts der permanenten Unterbrechungen, angesichts des nassforsch-aggressiven Auftretens des „Moderators" ins Schwitzen geraten? „Das passiert mit dir", signalisiert das auf Angst vor Isolation aufbauende Setting dem Zuschauer, „wenn du aus der Welt von Maß und Mitte ausscherst und mit nonkonformen Gedanken schwanger gehst." Sozialpsychologisch gesehen handelt es sich um eine Form der stellvertretenden Bestrafung: „Bleib im Mainstream, schere nicht aus – außer du möchtest wie die Abweichlerin in unserer Sendung behandelt werden."

„Der Austausch von Argumenten trat einem bloß noch als Zombie entgegen.“

Wie sehr sich Zuseher mit den beiden ‚Abweichlerinnen‘ identifizieren, wird deutlich, wenn man sich die Kommentare ansieht, die unter dem Youtube-Auftritt der beiden Sendungen zu lesen sind. Es finden sich jeweils hunderte von Bemerkungen, die die Interviewführung des „Moderators“ und den gesamten Diskussionszusammenhang als unausgewogen kritisieren.

Generelle Medienschelte zu betreiben oder auch "dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk" im Allgemeinen ein zwielichtiges Verhältnis zur Meinungsfreiheit zu attestieren, verbietet sich freilich; dafür sind die Sender und ihre Beiträge zu heterogen, und auch viele Talkshows sind gemessen am Kriterium eines offenen Meinungsaustausches durchaus gelungen. So etwa die Ausgabe von „Maybrit Illner“ vom 2. Juni, in der dank einer kompetenten Moderation die Äußerungen des ebenfalls hinsichtlich der bisherigen westlichen Reaktionen kritischen Politologen Johannes Varwick nicht auf billig-boulevardeske Weise gemaßregelt wurden. Auch in den „Markus Lanz“-Sendungen vom 30. Juni und 5. Juli mit Janine Wissler beziehungsweise Svenja Flaßpöhler, die als Kritikerinnen der Waffenlieferungen geladen waren, herrschte eine umgänglichere Diskussionsatmosphäre.

In den beiden analysierten Sendungen von „Markus Lanz" durften wir allerdings das öffentlich-rechtliche Fernsehen von seiner schlechtesten Seite beobachten: Die Inszenierung von freier Debatte im Geiste eines angstgetriebenen Konformismus. Zu sehen war hier, wie ausgerechnet bei einer politischen Frage, die dringend der ergebnisoffenen Debatte bedarf, das Prinzip der kritisch räsonierenden Öffentlichkeit als sinnentstelltes Ritual aufgeführt wurde. Der Austausch von Argumenten trat einem bloß noch als Zombie entgegen. Greift so etwas um sich, kann der liberalen Gesellschaft, die von freier und offener Debatte lebt, langsam aber sicher der Boden entzogen werden. In Zeiten eines Krieges, der sich auch gegen westliche Freiheitsvorstellungen richtet, ist das keine gute Idee.

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