02.07.2022

Der Krieg ist in eine gefährliche neue Phase getreten

Von Tim Black

Die Ukraine ist nun gefangen zwischen der Rücksichtslosigkeit Russlands und der Kriegsmüdigkeit des Westens.

Der russische Raketenangriff auf ein Einkaufszentrum in Krementschuk, einer Stadt in der Zentralukraine, war angesichts seiner Kaltblütigkeit bemerkenswert. Es handelte sich um ein Einkaufszentrum – nicht um eine Kaserne. Bis zum Ertönen der Luftschutzsirene am Montagnachmittag war es voller Kunden, die versuchten, ihrem Leben so normal wie möglich nachzugehen. Viele schafften es, das Gebäude zu verlassen, bevor es in Flammen aufging, aber es wurden bereits mindestens 15 Tote gemeldet, und diese Zahl dürfte in den kommenden Tagen noch erheblich steigen.

Der Anschlag sagt viel über die Kriegsführung Russlands aus. Über die Gleichgültigkeit gegenüber einem Volk, von dem der Kreml behauptet, es zu befreien. Über seine schamlose Weigerung, Verantwortung zu übernehmen. Und vor allem über seine wachsende Rücksichtslosigkeit. Schließlich handelte es sich um eine Aktion, die – Fehler hin oder her – alle möglichen unbeabsichtigten Folgen haben könnte. Warum also diese Aktion? Warum wurden Raketen auf eine Stadt mitten in der Ukraine abgefeuert, weit weg von Russlands aktueller Frontlinie?

Analytiker vermuten, dass dies ein Versuch war, die Ukrainer zu demoralisieren, eine barbarische Mahnung, die ins Landesinnere geschickt wurde und besagt, dass es keine Rückkehr zur Normalität gibt, solange Russland es nicht erlaubt. Kein Wunder, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Tat als „kalkulierte" Aktion von „dreckigen Terroristen" bezeichnete. Und vielleicht war es das auch. Aber man kann sich auch nur schwer des Eindrucks erwehren, dass sich die russischen militärischen Entscheidungsträger im Moment einfach nicht so sehr um die Tragweite oder die Folgen ihres Handelns scheren. Sie fürchten sie ganz sicher nicht. Und so handeln sie barbarisch – wie die brutale, zermürbende Eroberung der Donbass-Region zeigt. Und sie handeln rücksichtslos – wie dieser tragisch sinnlose Angriff auf Zivilisten schmerzlich zeigt.

Und während Russlands Rücksichtslosigkeit zunimmt, wird die Müdigkeit der westlichen Unterstützer der Ukraine immer größer.

Nicht dass man das nach den öffentlichen Erklärungen der US-amerikanischen und europäischen Staats- und Regierungschefs in der letzten Woche vermuten würde. Der Angriff auf das Einkaufszentrum, der sich während des G7-Gipfels in Deutschland ereignete, hat sicherlich zu einer Menge kämpferischer Worte geführt. Die Teilnehmer gaben eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie diesen „willkürlichen Angriff auf unschuldige Zivilisten" als „Kriegsverbrechen" bezeichneten. Selbst der französische Präsident Emmanuel Macron, der gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin stets eine versöhnliche Haltung eingenommen hat, erklärte, dass „Russland nicht gewinnen kann und darf". Diese kühnen Erklärungen wurden durch die bekannten Zusagen für mehr finanzielle und militärische Hilfe für die ukrainische Sache untermauert.

„Während Russlands Rücksichtslosigkeit zunimmt, wird die Müdigkeit der westlichen Unterstützer der Ukraine immer größer.“

Aber wie immer waren die Unterstützungszusagen der westlichen Staats- und Regierungschefs nicht sehr detailliert. Das lag nicht an einem Versehen oder dem Wunsch, die Dinge geheim zu halten. Es lag daran, dass die Erklärungen und Zusagen mehr als nur ein wenig hohl waren, eine Fassade aus selbstgerechtem Bombast, die eine wachsende Kriegsmüdigkeit der westlichen Mächte verschleiern sollte. Und es ist eine Kriegsmüdigkeit, die die Uneinigkeit des Westens noch verstärkt.

Es ist nicht schwer, die Ursachen für diese Kriegsmüdigkeit zu verstehen. Der anfängliche emotionale Schock über den Einmarsch Russlands, der dazu beitrug, die westliche Öffentlichkeit auf die Seite der Ukraine zu ziehen, ist längst verflogen. In den Augen westlicher Beobachter hat der Krieg viel von seiner politischen Dringlichkeit und, was noch wichtiger ist, von seiner Bedeutung verloren. Was wie ein Kampf um das nationale Überleben und die Selbstbestimmung aussah, hat inzwischen den Charakter einer Naturkatastrophe angenommen, deren tragische Auswirkungen so schnell wie möglich gemildert werden sollten.

„Was wie ein Kampf um das nationale Überleben aussah, hat inzwischen den Charakter einer Naturkatastrophe angenommen.“

Darüber hinaus sind die Folgen der massiven Sanktionen des Westens in Form einer schnell ansteigenden Inflation und – vor allem in Europa – in die Höhe schießender Gas- und Ölpreise deutlich spürbar. Hinzu kommt die wachsende weltweite Nahrungsmittelkrise, die durch diesen Konflikt im so genannten Brotkorb der Welt noch verschärft wird. Es ist kein Wunder, dass die Unterstützung für die Kriegsanstrengungen der Ukraine schwindet.

Umfragen deuten jetzt darauf hin, dass sowohl in Deutschland als auch in Frankreich etwa 40 Prozent der Menschen einfach nur wollen, dass der Krieg so schnell wie möglich beendet wird, während 20 Prozent einen Sieg der Ukraine wünschen, selbst wenn dies einen längeren Krieg bedeutet. In Italien gibt es sogar noch mehr Unterstützung für den Frieden, koste es die Ukraine, was es wolle. Und auch in Amerika haben Umfragen ergeben, dass sich die Einstellung zum Krieg in den letzten Monaten geändert hat. Die Mehrheit der Amerikaner ist nun der Meinung, dass die oberste Priorität der Regierung Biden der Schutz der Wirtschaft und nicht die Verhängung von Sanktionen gegen Russland sein sollte.

Während die Staats- und Regierungschefs der G7 bereit waren, harte Worte zu sprechen, sprechen ihre Taten schon lange eine andere Sprache. Italien hat vor einigen Wochen einen Friedensvorschlag für die Ukraine unterbreitet, der jedoch von Selenskyj kurzerhand abgelehnt wurde. Auch Macron ist dafür bekannt, dass er „einen Ausweg [aus dem Krieg] auf diplomatischem Wege" sucht, wie er es ausdrückte, was wahrscheinlich mit einer Gebietsabtretung der Ukraine an Russland einhergehen würde – ein Vorschlag, den Selenskyj ebenfalls strikt ablehnte.

„Während die Staats- und Regierungschefs der G7 bereit waren, harte Worte zu sprechen, sprechen ihre Taten schon lange eine andere Sprache.“

Hinzu kommt, dass Russland, das zunächst durch den ukrainischen Widerstand zurückgedrängt wurde, nun im Osten der Ukraine erhebliche Gewinne erzielt. Letzte Woche zogen sich die ukrainischen Streitkräfte endgültig aus Sewerodonezk zurück, dem größten Teil der Region Luhansk, der noch unter Kiewer Kontrolle steht. Dies bedeutet, dass die russischen Streitkräfte derzeit fast ein Viertel der Ukraine besetzen.

Entscheidungen, wie die Lieferung weiterer Waffen an die Ukraine und die Verhängung weiterer Sanktionen gegen Russland, schienen den westlichen Staats- und Regierungschefs vor einigen Monaten noch viel leichter zu fallen. Jetzt sind es harte, potenziell unpopuläre Entscheidungen, die schwerwiegende Folgen haben. Und infolgedessen offenbaren sie den mangelnden Willen und die fehlende Einigkeit der westlichen Mächte.

Das ist also der aktuelle Stand der Dinge. Die Ukrainer wollen immer noch kämpfen. Ihr Wunsch nach nationalem Überleben ist so stark wie eh und je. Aber sie brauchen dazu Waffen und Finanzmittel aus dem Westen, und es gibt keine Garantie, dass ihnen beides zur Verfügung gestellt wird. So findet sich die Ukraine gefangen zwischen der Rücksichtslosigkeit Russlands und dem Überdruss des Westens.

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