07.07.2025
Diskursverengung und Lagerbildung (Teil 1/2)
Einschränkungen der Meinungsfreiheit und gesellschaftliche Spaltung von oben stoßen auf Gegentendenzen, die sich z.B. in rechtspopulistischen Wahlerfolgen manifestieren.
Die FPÖ in Osterreich, der Rassemblement National in Frankreich, die Fratelli d’Italia, die PIS in Polen, der Fidesz in Ungarn, Reform UK in Großbritannien: Zunehmend werden die Namen rechtspopulistischer Politikangebote so geläufig wie die der Sozialdemokraten, der Christdemokraten oder der Grünen. Trump reüssierte im November 2024 erneut in den USA, die AfD verdoppelte ihr Wahlergebnis zur Bundestagswahl 2025 auf 20, 8 Prozent. 6 Wochen nach der Bundestagswahl liegt sie in Umfragen bei 24 Prozent.
Der Rechtspopulismus ist in den letzten zwei Jahrzehnten allerdings nicht einfach so über ansonsten intakte Demokratien gekommen. In vielen Beiträgen in Mainstream-Medien, Politik und Wissenschaft wird jedoch genau dies häufig suggeriert. Das mittlerweile sich als alternativlos hinstellende links-grüne Weltbild, entstanden aus dem Erbe von „68“, sieht sich durch die dezentrierenden Relativierungen, die mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus einhergehen, seiner angemaßten Normalität beraubt. Der Rechtspopulismus zerstöre „unsere Demokratie“, die es vor ihm zu „schützen“ gelte. Allenfalls der Neoliberalismus wird noch, nicht ganz zu Unrecht, als Steigbügelhalter von Trump und Co. gebrandmarkt.
Die massive Überrepräsentation dieser Position führt zu einer Wahrnehmungsverengung. Die deutschen Mainstream-Medien – und mit ihnen weite Teile der deutschen Gesellschaft – starren auf die AfD wie das Kaninchen auf die Schlange. Die Gesellschaft verliert darüber ihre Reaktionsbeweglichkeit, die so wichtig ist, um den normativen Impuls von Demokratie und wissenschaftlichem Weltbild einlösen zu können: Bürger legen gemeinsam und möglichst chancengleich die Regeln fest, nach denen sie leben wollen. Und sie tun dies auf der Grundlage valider Erkenntnisse, zu deren Revision sie bereit sind, wenn es bessere Argumente und Einsichten gibt.
Machen wir also ein paar Lockerungsübungen. Ich möchte eine einzige Überlegung entwickeln – idealtypisierend, zeit-diagnostisch, open to further consideration, ein Ent-Wurf gleichsam, der zum Weiterdenken und Widersprechen einladen möchte: Die Verengung von Diskursräumen ist ein Förderprogramm für den Rechtspopulismus. Zugleich liegt meinen Gedanken eine normative Stoßrichtung zugrunde: die Bewahrung des Erbes der Aufklärung, die den Unterboden für die liberale Demokratie und die moderne Wissenschaft bildet.
Die Verengung von Diskursräumen betrifft vor allem Themen, die nicht sehr sexy sind, aber viele Bürger bewegen: Massenmigration und die damit auch unübersehbar negativen Begleiterscheinungen, das progressiv sich gebende Gendern, der Umgang mit der deutschen Identität, wie er sich every once in a while in Leitkultur-Debatten und eingeschliffenen erinnerungspolitischen Maßnahmen entfaltet. Die Corona-Pandemie wirkte als Katalysator für einen Moralismus, der in linksliberalen Journalisten-Milieus über Jahre hinweg herangereift war. Bereits während der Migrationskrise 2015/2016 wurden Skeptiker der Willkommenskultur zu Dissidenten erklärt. Ab 2019 entwickelte sich dann mit Fridays for Future und seinen medialen Ablegern ein neuer moralischer Konsens: Klimaschutz und Energiewende wurden zu Heiligen Kühen. Die Konsequenz: Je kontroverser das Thema, desto enger der Diskursraum. Mit dem Stellenwert der Meinungsfreiheit in unserer Verfassungsordnung befindet sich das nicht in Einklang. Nicht einmal die Hälfte der Bürger hat noch das Empfinden, ihre Meinung frei sagen zu können, 39 Prozent sagen, dass ihre Meinung in den Medien keine Rolle spielt.
„In vielerlei Hinsicht bilden linksidentitär-woke Akteure das Alter Ego der rechtsidentitären Bewegung.“
Ein maßgeblicher sozialer Träger dieser Diskursverengung – die im Übrigen alles andere als ein „Mythos“ ist – sind linke Akteure an Hochschulen, Kultureinrichtungen und NGOs, wobei es auch rechtsidentitäre Versuche gibt, mit zweifelhaften Methoden, wie der Einrichtung von Meldestellen, den Diskurs in eine bestimmte politische Richtung zu schieben. In vielerlei Hinsicht bilden linksidentitär-woke Akteure das Alter Ego der rechtsidentitären Bewegung. Was hat es mit den beiden Bewegungen auf sich? Wo liegen die Unterschiede und Parallelen? In welche Interaktionsdynamik treten sie? Und normativ gewendet: Warum ist diese Dynamik für die liberale Demokratie sowie die freie und offene Generierung von Erkenntnis so gefährlich?
Feindliche Brüder vom selben Stamm
Rechte Identitätspolitik zeichnet sich durch den Versuch der Re-Etablierung einer national und ethnisch bestimmten Identität aus. Der Feind sind aus jener Weltsicht all jene, die diese Identität bedrohen. Also in erster Linie Zuwanderer, sogenannte „Globalisten” und Liberale, die aus der Sicht dieser Bewegung an der Auflösung und Vermischung von Kulturen arbeiten. Der Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen ist hochgradig selektiv. Erkenntnisse, die ins eigene Weltbild passen, werden zur Kenntnis genommen (z. B. beim Klimawandel, bei der Migration). Die AfD macht Politik mit einer ganzen Phalanx an Kampfbegriffen („Altparteien“, „Elite“, „Establishment“ etc.) und betreibt Cancel Culture gegen anderslautende Meinungen. So unterhielt die AfD in einigen Bundesländern Meldeportale, bei denen Lehrkräfte, die gegen die AfD Position beziehen, gemeldet werden konnten. In Niedersachsen ist dies seit 2024 wieder der Fall.
Die wesentliche weltanschauliche Grundlage rechter Identitätspolitik ist der Ethnopluralismus des französischen Philosophen Alain de Benoist. Also die Vorstellung, dass alle Kulturen gleichwertig sind, aber sich möglichst nicht vermischen und auf ihren angestammten Territorien bleiben sollten. Der wesentliche politisch-soziale Träger der rechtsidentitären Weltanschauung sind in Deutschland Teile der AfD, und der ethnopluralistische Weltanschauungsgenerator in deren Umfeld ist die Gruppe um Götz Kubitschek, ehemals Institut für Staatspolitik in Schnellroda. Die Idee, „Metapolitik“ zu betreiben, also den vorpolitischen Raum mit politischen Ideen anzureichern, die erst anschließend institutionell wirksam werden können, haben sie von dem linken Theoretiker Antonio Gramsci übernommen. Die zentrale Spaltungslinie der rechtsidentitären Bewegung ist „Volk vs. Elite“.
Linke Identitätspolitik zeichnet sich aus durch die Vorstellung, bestimmte Identitäten – Menschen nicht-weißer Hautfarbe, Frauen, Homo- und Transsexuelle – seien per se und pauschal unterdrückt. Der Feind ist in jener Weltsicht der permanent seine Privilegien aufrechterhaltende „weiße Cis-Mann”. Dessen Diskursherrschaft muss gebrochen werden, um den Unterdrückten zur Durchsetzung ihrer Gleichachtungsansprüche zu verhelfen. Die weltanschauliche Grundlage der linksidentitären Bewegung ist die Philosophie der Postmoderne und aus ihr hervorgegangene Strömungen wie die Critical Race Theory, die Intersektionalitätstheorie, der Postkolonialismus und die Gender Studies.
Verständigungsorientierter Diskurs und aufklärerisches Weltbild werden hier teilweise explizit abgelehnt. Trotz der legitimen Forschungsfragen, die dort formuliert werden, handelt es sich dabei größtenteils um politisierte Pseudowissenschaft. Der Umgang mit Daten und Fakten ist ähnlich selektiv wie bei der rechtsidentitären Bewegung. In manchen universitären Fachbereichen haben diese Theorien einen außerordentlich großen Einfluss erlangt und sind nun über politische Parteien, Kultureinrichtungen, den Journalismus so weit in die außerakademische soziale Wirklichkeit eingesickert, dass sich viele Akteure auch in der außerakademischen Welt an ihren Prämissen orientieren, häufig ohne diese Denkansätze selbst zu kennen. Akademische Kalendersprüche schlechter Wissenschaft, deren größtenteils öffentliche Finanzierung in den Anspruch umgemünzt wird, eine volkspädagogische Wirkung oder gar eine „Re-Education“ in Sachen Diversität entfalten zu können, haben einen diskurshegemonialen Status erklommen.
Auf diese Weise wurde in den letzten Jahren die Verengung von Diskursräumen befördert, da in diesen Fächern die Vorstellung gepflegt wird, dass liberale Demokratien in sich „strukturell rassistisch“ seien und systematisch auf die „Unterdrückung“ von Minderheiten und marginalisierten Gruppen ausgerichtet seien. Deshalb darf allen möglichen Personen und Positionen „keine Bühne“ oder „keine Plattform“ geboten werden, Leute werden ausgeladen, Karrieren beschädigt, Personen aufs Ärgste diffamiert etc. Dieses Phänomen wird als „Cancel Culture“ immerhin diskutiert, aber in weiten Teilen der Medien zugleich meistens als „rechte“ Einbildung oder legitime „demokratische“ Gegenwehr „gegen rechts“ ausgewiesen. Staatlicherseits hat sich die Cancel Culture in einem Meldestellenwesen manifestiert: Es gibt mittlerweile staatlich finanzierte Meldestellen gegen „Rassismus“, gegen „Antifeminismus“, gegen „Antiziganismus“, gegen „Antifeminismus“ usw. usf. Woke NGOs arbeiten hierbei eng mit woken Parteien und einem in Teilen woken Staat zusammen. Bereits dieses sukzessive Ununterscheidbar-Werden von Nichtregierungsorganisationen, Parteien, Staat und „der Wissenschaft“ ist, noch unabhängig von den Inhalten, ein Alarmzeichen. Der wesentliche politisch-soziale Träger dieser Weltanschauung sind in Deutschland die Parteien Bündnis 90/Die Grünen, die Linkspartei und Teile der SPD. Die zentrale Spaltungslinie der linksidentitären Bewegung ist: „Unterdrücker vs. Unterdrückte“.
„Unabhängig von der politischen Bewertung links- und rechtsidentitärer Politikansätze gilt: Die sich aufschaukelnde Dynamik beider Bewegungen ist zentral, um die Krise der Demokratie in westlichen Industrienationen zu verstehen.“
Sowohl die rechtsidentitäre als auch die linksidentitäre Bewegung überbetonen jeweils einen Teil der historischen gewachsenen Verbindung aus Liberalismus (Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenrechte) und Demokratie (Volkssouveränität). Die linksidentitäre Bewegung überfokussiert in dogmatisch-kompromissloser Weise auf hoch spezifisch ausbuchstabierte Minderheitenrechte. So dass selbst die leiseste Kritik etwa am sog. „Selbstbestimmungsgesetz“ als „transphob“ und „demokratiefeindlich“ gegeißelt wird. Die rechtsidentitäre Bewegung hingegen überfokussiert auf das Moment der Volkssouveränität. Dies kann zu einer Untergewichtung von Minderheitenrechten führen und auch potentiell positive Auswirkungen von Migration unterbinden. Die liberale Demokratie befindet sich also gegenwärtig nicht im Gleichgewicht. Welche Dynamik befördert diese Imbalance?
Wie funktioniert die Lagerbildungsdynamik?
Unabhängig von der politischen Bewertung links- und rechtsidentitärer Politikansätze gilt: Die sich aufschaukelnde Dynamik beider Bewegungen ist zentral, um die Krise der Demokratie in westlichen Industrienationen zu verstehen. Der Aufstieg des Rechtspopulismus ist der sichtbarste und am häufigsten thematisierte Ausdruck dieser Krise. Da der Journalismus in größeren Teilen mittlerweile linksliberal und linksidentitär geprägt ist – 41 Prozent der Journalisten in Deutschland geben an, die Grünen zu wählen, weitere 16 Prozent die SPD –, wird der komplexe Unterboden dieser Entwicklung so gut wie nicht an den Souverän rückgespiegelt. Dasselbe gilt für viele öffentlich auftretende Sozialwissenschaftler, die „die Wissenschaft“ instrumentalisieren, um den in ihrem Milieu geteilten politischen Narrative weiterhin mediales Oberwasser zu verschaffen. Mit ihren Bücherwänden im Hintergrund und ihren akademischen Statusinsignien verkünden sie dann ihre im Gewand von Wissenschaft verpackte politische Meinung. Allein der Rechtspopulismus soll denn auch für die „Spaltung der Gesellschaft“ verantwortlich sein. Wirkungsvoller lassen sich wohl kaum offene Flanken für Wissenschaftsleugnung schaffen. Wer wissenschaftliche Aussagen permanent mit seiner politischen Meinung vermengt, muss sich nicht wundern, wenn andersdenkende Personen Wissenschaft irgendwann für eine intellektuell korrumpierte Angelegenheit halten, ein Vehikel zur Manipulation der Bevölkerung.
Diejenigen, die im letzten Jahr „gegen rechts“ auf die Straße gegangen sind – ganz überwiegend Grünen- und zu kleineren Teilen SPD-Wähler –, wirkten damit an einer Dynamik mit, die in ihrer Gänze systematisch nicht in den Blick gerät: Der maßgeblich aus dem linksidentitären Lager heraus geführte „Kampf gegen rechts“ fördert den Rechtspopulismus. Warum? Zentral für das Aufblühen der Lagerbildungsdynamik zwischen der links- und der rechtsidentitären Bewegung sind aus meiner Sicht drei Mechanismen, die ich „Spaltung“, „Schleuse“ und „kommunizierende Röhren“ nennen möchte.
Mechanismus 1: Spaltung
Spaltung bedeutet, am Beispiel Corona betrachtet: Stellen wir uns vor, eine gebührenfinanzierte Fernsehmoderatorin sagte mit Blick auf teilweise sehr energisch auftretende Corona-Maßnahmenkritiker Folgendes: „Wäre die Spaltung der Gesellschaft wirklich etwas so Schlimmes? Sie würde ja nicht in der Mitte auseinanderbrechen, sondern ziemlich weit rechts unten. Und so ein Blinddarm ist ja nicht im strengeren Sinne essentiell für das Überleben des Gesamtkomplexes.“ Dann bedeutet dies natürlich, dass all jene, die sich mit ihren Meinungen im „Blinddarm“ der Gesellschaft befinden, einen hohen Anreiz haben, sich untereinander zu vergemeinschaften. Der Rest des gesunden (Volks-)Körpers möchte sie ja nicht um sich haben, sofern die Aussage der staatsfinanzierten Fernsehmoderatorin stilbildend für den Umgang mit ihnen wird. In der Soziologie des abweichenden Verhaltens werden solche Prozesse mit dem labelling approach-Ansatz beschrieben: Menschen bekommen ein bestimmtes Etikett und werden dadurch zu genau der Gruppe, als die man sie adressiert. Die Moderatorin Sarah Bosetti wirkte also daran mit, die Gruppe, die sie kritisierte, aktiv zu produzieren und sie für „rechts“ zu öffnen. Die anderen sollten ja nicht mehr mit ihnen reden. Wer es dennoch tut, für den steht wiederum ein Sekundär-Etikett bereit. Er war schließlich mit „Corona-Leugner X“ oder dem „Rechten Y“ in Kontakt und ist deshalb möglicherweise auch von „unsagbaren“ Ansichten infiziert – oder hat sich zumindest nicht artig „distanziert“. Die Kontaktschuld verstärkt die Spaltung und immunisiert die soziale Feedback-Schleife recht wirksam davor, dass sie sich auflöst.
„Die politisch institutionalisierte Form der Spaltung in Deutschland ist die Brandmauer, die zwischen AfD und allen anderen ‚demokratischen Parteien‘ errichtet wurde.“
Der Mechanismus der Spaltung ließe sich an vielen Themen durchspielen, die zu den Kern-Topoi der linksidentitären Bewegung gehören: „Was, du denkst, dass es nur zwei Geschlechter gibt? Das geht ja gar nicht.“ „Was, du denkst, dass People of Color gar nicht überall unterdrückt sind und forderst Differenzierung ein? Das geht ja gar nicht, du willst wohl deine Privilegien aufrechterhalten!“ „Was, du denkst, dass Trump, Höcke, Meloni, Le Pen, Wilders, Milei oder Kickl auch etwas Vernünftiges gesagt haben? Seht her, der Schoß ist fruchtbar noch!“ So erklärte man in linksidentitär geprägten Medien, NGOs, linken Parteien und Teilen des „Experten“-Wesens regelmäßig in den letzten Jahren schätzungsweise 50 bis 80 Prozent der Bürger zu Unmenschen und Nicht-Satisfaktionsfähigen. Und wundert sich dann, dass die AfD immer stärker wird. Diese muss schließlich nur die Schublade mit den Ausgestoßenen aufziehen, um ihre Wählerschaft zu vergrößern.
Übrigens: „Experte“ darf man auf keinen Fall in Anführungszeichen setzen – denn damit „delegitimiert“ man die Wissenschaft und macht sich der „Wissenschaftsleugnung“ schuldig. Experten muss man stets brav zuhören und darf sie auf keinen in Frage stellen. Eine weitere, effektive Diskursstrategie, die dazu führt, dass die Lagerbildungsspirale hübsch weiterläuft, weil sie erneut vor der Kritik, dass man sie eben auch maßgeblich durch politisierte Wissenschaft am Laufen hält, immunisiert wird.
Die politisch institutionalisierte Form der Spaltung in Deutschland ist die Brandmauer, die zwischen AfD und allen anderen „demokratischen Parteien“ errichtet wurde. Es soll als Skandalon gelten, auch noch den vernünftigsten politischen Vorschlag umzusetzen, wenn er mit Stimmen der AfD zustande kommt. Die zentrale Strategie, die Brandmauer diskurshegemonial aufrechtzuerhalten, ist die permanente Vermischung der Worte „rechts“ und „rechtsextrem“ – als verhielten sich die beiden Begriffe synonym. Demokratietheoretisch und verfassungsrechtlich verhält es sich dabei so: In der Lesart des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich bei (Rechts-)Extremismus im engeren Sinn um den Versuch auf aktiv-kämpferische Weise mit einer hinreichenden Erfolgswahrscheinlichkeit die freiheitlich-demokratische Grundordnung abzuschaffen. Der Schutz vor Extremismus in diesem Sinne ist somit konstitutiv für die liberale Demokratie. Wer dafür auf die Straße geht, sollte für diese Absicht grundsätzlich Anerkennung finden. (Auch wenn seine Einschätzung, ob das, wogegen er demonstriert, wirklich „extrem“ ist, freilich noch falsch sein kann.) Gleichzeitig ist jedoch der Anspruch, die Demokratie vor „rechts“ zu „schützen“, unmittelbar demokratieschädigend. Denn „rechts“ ist ein legitimer Teil des demokratischen Spektrums. Genauso wie nicht jeder „Linke“ ein „Linksextremist“ oder jeder Muslim ein „Islamist“ ist.
Der „Kampf gegen rechts“ fördert damit die Einschränkung der Demokratie, indem so getan wird, als müsste man die Demokratie gleichermaßen vor „rechts“ wie vor „Rechtsextremismus“ schützen. Damit steckt in den „Demos gegen rechts/Rechtsextremismus“ bereits eine Spaltung der Gesellschaft. Denn grundsätzlich legitime Positionen – gezielt gesteuerte Migration, die Förderung der traditionellen Kleinfamilie, weitgehende unternehmerische Freiheit und ähnliche Positionen – werden als gleichsam verfassungsfeindlich markiert. Dies führt zugleich zu einer Unterminierung eben jener demokratischen Idee, die expressiv verbis auf den „Demos gegen rechts“ eigentlich unter dem Label „Demokratieschutz“ bewahrt werden soll.
„Diskursräume zu kontroversen Themen werden durch soziale Ächtung mit Hilfe inflationärer, das eigentliche Phänomen verharmlosenden Kampfbegriffen in Medien, vielfältigen Alltagssituationen, aber auch durch eine in Teilen politisierte Wissenschaft verengt.“
So mutiert also ausgerechnet der Versuch, sehr spezifische und teilweise extreme Formen von „Diversität“ gegen alle Widerstände durchzusetzen zu einer Politikkonzeption, die unter Preisgabe jeglicher Form von Dialog und Vermittlung in der Manier von Carl Schmitt das Freund-Feind-Denken zum zentralen Merkmal der politischen Auseinandersetzung werden lässt. Die Paradoxie ist offenkundig, wie der Jurist Udo Heyder ausführt: „Alle Menschen sollen ihre Beziehungen zueinander nicht nach ihren eigenen, vielfältigen und unterschiedlichen Interessen und Werten bestimmen dürfen, sondern verpflichtet sein, überall und jederzeit eine demokratische Haltung zu zeigen. Dabei wird es ihnen verwehrt, darüber mitzudiskutieren, wodurch sich eine demokratische Haltung eigentlich auszeichnet […]. Sie sollen einfach die ihnen vorgegebenen Bewertungen übernehmen.“1
Mechanismus 2: Schleuse
Ist die Spaltung erfolgreich vollzogen, wirkt als Nächstes die Schleuse: Diskursräume zu kontroversen Themen werden durch soziale Ächtung mit Hilfe inflationärer, das eigentliche Phänomen verharmlosenden Kampfbegriffen („Hass und Hetze“, „menschenfeindlich“, „Rassist“, „Nazi“, „homophob“, „transphob“ etc.) in Medien, vielfältigen Alltagssituationen, aber auch durch eine in Teilen politisierte Wissenschaft verengt. So steigt schließlich die Wahrscheinlichkeit, dass diejenigen, die diese Barrieren der drohenden sozialen Ächtung durchstoßen, innerlich sehr gefestigt sein müssen, merklich an. Meiner Beobachtung nach sind es vor allem drei Gruppen2, die die Diskursschleuse zu kontroversen Themen überwinden oder zumindest das Potential dazu besitzen:
Erstens Personen, die religiös gefestigt sind. Man beobachte hier einmal das Umfeld von „Demo für alle“ oder „Citizen go“, in dem man sich gegen „Frühsexualisierung“ und die „Transgender-Ideologie“ ausspricht oder auch die abtreibungskritische Bewegung „Marsch für das Leben“. Bestimmte linksliberale, in jüngerer Zeit stark von der Woke Culture beeinflussten Politik-Agenden widersprechen nicht nur inhaltlich dem christlich geprägten Weltbild dieser Gruppierungen. Sondern die Verwurzelung in einer höheren, nicht irdischen Macht erlaubt es ihnen gleichzeitig, sich vor dem massiven Gegenwind, der ihnen von Seiten linksidentitärer Aktivistengruppen in Medien, NGOs, dem Kulturbetrieb und linken politischen Parteien entgegenschlägt, gewappnet zu fühlen. „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden” (Matthäus 5:10, Bergpredigt), steht unter dem Video einer Frau, die sich offen zur Wahl der AfD bekennt. Sie führt ihren Glauben als Grund dafür an, dass sie damit klarkommt, wenn ihr Menschen aufgrund ihrer politischen Überzeugungen die Freundschaft kündigen. Auch der Youtube-Kanal „Ketzer der Neuzeit“ lebt von einem Bekenntnis zu Jesus Christus. Während in der AfD das religiöse Bekenntnis zumindest nicht im Vordergrund steht, so ist es für den ungarischen Präsidenten Viktor Orbán, ein Wegbereiter der rechtspopulistischen Bewegung in Europa, konstitutiv. Orbáns Bekenntnis zur „illiberalen Demokratie“ beziehungsweise zum „illiberalen Staat“, die er seit seiner berühmten Sommerakademie-Rede 2014 mehrfach wiederholte, ist unmittelbar verknüpft mit der Vorstellung, das Christentum müsse einer der weltanschaulichen Glutkerne Europas bleiben.
Die weltanschaulich randständige Lage, die christlichen Gruppierungen in der hegemonial gewordenen, linksliberalen Spaß- und Unverbindlichkeits-Postmoderne zukommt, kann den Umstand erklären, dass die mitunter treffendsten Analysen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit von Gruppen kommen, die sich eben nicht wie die Fische im Wasser des linksliberalen Mainstreams bewegen. Dieser Umstand mündet in geradezu visionären Prognosen zur Restriktion von Meinungs- und Redefreiheit, wie etwa die überaus luziden Analysen von Paul Coleman zum Überhand-Nehmen von „Hassrede“-Gesetzen zeigen. Coleman ist Anwalt und Aktivist in dem christlichen Menschenrechtsnetzwerk Alliance Defending Freedom International (ADF International) und machte bereits im Jahr 2012 in seinem höchst lesenswerten Buch „zensiert. Wie europäische ‚Hassrede‘-Gesetze die Freiheit bedrohen“ folgende Vorhersagen, die allesamt eingetroffen sind: „Der Anwendungsbereich von ‚Hassrede‘-Gesetzen wird weiter ausgeweitet, und immer mehr Redeweisen werden reguliert und zensiert. Auch Mainstream-Ansichten3 werden immer mehr zum Schweigen gebracht. Eine Zensur-Kultur wird parallel zu den Beschränkungen durch das Strafrecht heranwachsen. Es wird eine Ausweitung von Prozessen und staatlich unterstützten Kontroll- und Berichtsorganen geben, um das Problem der gefährlichen Rede aufrechtzuerhalten.“4
„Insbesondere während der Corona-Zeit war eine zweite Gruppe von Diskursverengungsüberwindern zu beobachten: So manche Ostdeutsche, die selbst noch Diktaturerfahrung im SED-Regime hatten.“
Cancel Culture an Universitäten, ein wie Pilze aus dem Boden schießendes Meldestellenwesen, gruselige Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung à la die Regulierung von Meinungsäußerung „unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“, eine Herrschaft der Kampfbegriffe, die jeden zum „Schwurbler“, „Covidioten“ oder zum „Verschwörungstheoretiker“ erklärt, der auch nur ein Jota vom Mainstream abweicht oder die Unfähigkeit wie Erwachsene über „kontroverse“ Themen wie Migration, das sogenannte „Selbstbestimmungsgesetz“ oder eben die Lage der Meinungsfreiheit zu reden, geben Coleman auch für Deutschland recht. Das christliche Überzeugungsreservoir schafft hier ganz offenbar eine Kontrasterfahrung, die die für viele Akteure bereits unsichtbaren Hintergrundselbstverständlichkeiten des linksliberalen Mainstreams umso schärfer und pointierter vor Augen treten lässt. Und die christliche Verwurzelung motiviert zugleich dazu, sich dann auch pointiert zu äußern und zu widersprechen. Die absehbare soziale Ächtung durch den linksliberalen Mainstream kann den Christen nicht schockieren – er erkennt allein seinen Gott als Richter an.
Eine modernisierte Variante jener religiös Gefestigten scheinen mir Rationalitäts-, Liberalitäts- und Aufklärungsverfechter zu sein. Auch diese Gruppe zeichnet sich durch eine starke Bindung an übergeordnete, wenngleich nicht metaphysisch grundierte Werte aus. Die liberalen Aufklärungsverfechter ziehen einen psychischen Gewinn aus dem Streben nach Objektivität, Differenzierung und Neutralität und wollen sich nicht vorschnell von einer Seite vereinnahmen lassen. Sie sind – im Geiste Gadamers – bereit zuzugestehen, dass grundsätzlich auch der Andere Recht haben könnte und wissen, dass Unsinn Unsinn bleibt, auch wenn er in ein hypermoralistisches Vokabular verpackt wird. Die Bindung an solche Grundsätze kommt dem Streben nach einer höheren Macht gleich. Auch der unverbrüchliche Glaube an eine unabhängig vom Menschen bestehende Welt und deren objektive Erkennbarkeit transzendiert das Ego und die schnöde Welt der Parteiungen. Diese Überzeugung kann Menschen eine innere Standhaftigkeit verleihen, die es ihnen erlaubt, so manchen woken Irrsinn bohrender Skepsis auszusetzen und darüber gleichzeitig nicht zu vergessen, dass auch rechtsidentitären Kontrahenten der Woke-Bewegung manch problematischer Zug innewohnt.
Insbesondere während der Corona-Zeit war eine zweite Gruppe von Diskursverengungsüberwindern zu beobachten: So manche Ostdeutsche, die selbst noch Diktaturerfahrung im SED-Regime hatten. In ÖRR-Fernsehberichten wurden Bürger aus ostdeutschen Bundesländern vorgeführt, die in sächselndem Tonfall in die Kamera sprachen: „No, das mit diesen Impfungen und diesen Freiheitseinschränkungen ist ja wie in einer Diktatur.“ Die eigene Erfahrung mit der Spätphase der DDR mag hier die Sensibilität für die häufig subtilen Umformungen von Alltagspraxis geschaffen haben, die sich strukturanalog geballt in der Corona-Zeit zeigten: Das Ausgeschlossen-Werden, das Diffamiert-Werden, der „Seht her, die Leute reden schon“-Konformismus, aber auch die manifeste Einschränkung von Freiheitsrechten, die von Sozialwissenschaftlern mitentwickelte Herrschaft der Angst, die Doppelmoral von hauptamtlichen Coronapanik-Verkündern, die „social distancing“ predigten, aber sich in einer Uni-Klinik wie die Hühnchen im Stall in einen Aufzug hineinquetschten.
Wer Diktaturerfahrung hat, verfügt bereits über die kognitiven Schemata, um solche Erfahrungen korrekterweise als Vorstufe des Totalitarismus zu interpretieren. Ähnliches spielt sich nun seit dem Krieg in der Ukraine ab: Auch hier zeigen viele ostdeutsche Bürger eine Tendenz dazu, eine gleichsam oppositionelle Identität auszubilden, die durch die geopolitische Nähe der Ex-DDR zu Russland noch befördert wird. Diese oppositionelle Identität vieler Ostdeutscher, die sich jüngst auch in den großen Wahlerfolgen der AfD manifestiert, verschärft sich noch dadurch, dass sich viele, zumeist im Westen angesiedelte Medien mit einer gleichsam ethnologischen Haltung über Ostdeutsche beugen, als gehörten diese einem fremden Stamm an, der sich vor den Kolonialherren für seine Unzivilisiertheit – ergo: seine abseitigen politischen Meinungen – zu rechtfertigen hätte.
Ich danke André Sebastiani und Andrea Seaman für hilfreiche Kommentare zu einer ersten Fassung dieses Textes.