07.03.2025
„Cancel Culture an Hochschulen ist kein Mythos“
Interview mit Richard Traunmüller
Mit der Meinungsfreiheit ist es gerade an den Unis nicht zum Besten bestellt. Ein Cancel-Culture-Forscher präsentiert Ergebnisse seiner Studien: Linke Studenten erweisen sich als intoleranter.
Christian Zeller: Meinungsfreiheit ist in den letzten Jahren ein viel diskutiertes Thema; bisweilen ist von verengten Diskursräumen die Rede – im Kontext von Corona, Klima, Ukraine, aber auch zu Debatten um Gender und Rassismus. Manche halten hingegen die Aufregung für übertrieben. Zuletzt hat sich die Diskussion um die Meinungsfreiheit aufgrund des europäischen Digital Services Act und der eingesetzten „trusted flagger“ wieder verschärft. Lassen Sie uns einmal aus einer empirischen Perspektive einen Blick auf die Thematik werfen. Eine Studie von Ihnen und Ihrem Kollegen Matthias Revers, die an der Universität Frankfurt durchgeführt wurde, hat im Jahr 2020 bundesweit Aufmerksamkeit erfahren. Was wollten Sie denn herausfinden und was waren die wesentlichen Befunde?
Richardt Traunmüller: Die Studie, die Sie ansprechen, hatte den Zustand der Meinungsfreiheit an den Universitäten zum Gegenstand, also eine spezifischere Frage innerhalb der allgemeinen Diskussion um Meinungsfreiheit. Damals kam es zu einer Absage eines geplanten Vortrages an der Goethe-Universität in Frankfurt. Wir nahmen dies zum Anlass, um einmal genauer hinzuschauen und der Frage nachzugehen, was an dem Vorwurf, linke Studierende seien intolerant und würden ihnen nicht liebsame Meinungen unterdrücken, wirklich dran ist. Dazu haben wir eine Umfrage unter Frankfurter Studierenden der Sozialwissenschaften durchgeführt und drei zentrale Befunde gemacht. Erstens, dass tatsächlich beträchtliche Anteile der Studierenden der Ansicht waren, dass bei kontroversen Themen Redner auszuladen seien, sie nicht unterrichten sollten und deren Bücher aus der Universitätsbibliothek zu entfernen seien. Zweitens, dass sich ebenfalls eine beträchtliche Zahl der Studierenden an der Universität selbstzensiert, also womöglich aus Furcht ihre eigentlichen Ansichten nicht preisgibt. Drittens, dass es sowohl in der Intoleranz als auch im Selbstzensurverhalten klare Unterschiede nach politischer Selbstverortung gab. Politisch links orientierte Studierende waren intoleranter, rechts orientierte Studierende neigten eher dazu, sich selbst zu zensieren. Die Studie wurde dann sowohl unter methodischen als auch politischen Gesichtspunkten kritisiert, wobei sich diese beiden Aspekte auch stark vermischt haben. Die methodischen Probleme haben wir inzwischen in einer breiter angelegten Replikationsstudie behoben – und kommen wieder zu ganz ähnlichen Befunden.
Vielfach wurde der Studie ja auch vorgeworfen, sie fokussiere auf eine Hochschule, bei der linke Vorstellungswelten schon aus universitätshistorischen Gründen weiter verbreitet sind als an vielen anderen Universitäten. Schließlich vertraten am Institut für Sozialforschung in Frankfurt Adorno, Horkheimer, Habermas und andere berühmte Intellektuelle Theorien, die die links-revolutionäre Studentenbewegung um ‚‘68‘ tief beeinflussten. Aber der Witz Ihrer Studie von 2020 schien ja gerade in der Frage bestanden zu haben: Wenn es so etwas wie Cancel Culture überhaupt gibt, wo finden wir sie am ehesten? Und mit den Befunden ist zumindest der Nachweis geführt, dass Cancel Culture in dem von Ihnen beschriebenen Sinne an Hochschulen existiert. Aber sieht denn die Lage aus, wenn wir uns von der Mikrowelt der Universität Frankfurt in Richtung Totale bewegen: Welche Befunde zeigen sich denn zum Thema Meinungsfreiheit für die Hochschullandschaft in Deutschland insgesamt? Ist hier der Befund auch so eindeutig wie in Frankfurt?
Ja, den Witz – technisch gesprochen das „most likely case design" – haben viele Kritiker nicht verstanden. Dabei ist die Logik recht einfach: Nehmen wir an, Sie möchten die Hypothese widerlegen, der Tasmanische Tiger sei ein Mythos. Alles was Sie dann tun müssten, ist ein einziges Exemplar dieses Tiers zu finden. Und natürlich würden sie es in Tasmanien suchen und nicht im Bayerischen Wald. Bei uns war die Cancel Culture gewissermaßen der Tasmanische Tiger und die Frankfurter Universität Tasmanien. Und wir sind daran gescheitert, Cancel Culture als Mythos zu entlarven.
Um zu erfahren, wie es in der deutschen Hochschullandschaft insgesamt aussieht, haben wir für die bereits erwähnte Replikationsstudie ein deutschlandweites Studierendensample verwendet. Die Studie befindet sich momentan im fortgeschrittenen Begutachtungsprozess, weshalb ich noch nicht zu weit vorgreifen möchte. An dieser Stelle vielleicht nur so viel: Es gibt unter Studierenden deutschlandweit eine große Bereitschaft, „konservative" Positionen aus der Universität zu verbannen. Und wir können aufgrund des Designs ausschließen, dass diese Cancel-Bereitschaft rein pro-sozial motiviert ist oder sich gar auf wissenschaftliche Kriterien stützt.
„Fast jeder fünfte Studierende in Deutschland zensiert sich bei kontroversen Diskussionen selbst und vermeidet es, seine ehrliche Meinung zu sagen.“
Wir haben außerdem einige Fragen zur Cancel Culture in der großangelegten „Studierendenbefragung in Deutschland" untergebracht, die von rund 16.000 Studierenden in ganz Deutschland beantwortet wurden. Dabei zeigt sich, dass es sich bei den intoleranten Studierenden um eine Minderheit handelt. So ist ‚nur‘ rund jeder Zehnte der Meinung, man solle kontroverse Gastredner auf Wunsch wieder ausladen. Etwas mehr sehen im Stören und Verhindern von Gastrednern eine legitime Form zu protestieren. Ziemlich sicher dürfte es bei der Beurteilung dieser Frage aber auf den konkreten Redner oder die konkreten Inhalte ankommen. Interpretiert man Antworten der Form „es kommt darauf an" in diese Richtung, so liegt die potenzielle Unterstützung von Ausladungen und von aktiver Störung von Gastrednern immerhin bei fast einem Drittel der Studierenden. Außerdem zensiert sich fast jeder fünfte Studierende in Deutschland bei kontroversen Diskussionen selbst und vermeidet es, seine ehrliche Meinung zu sagen.
Wendet man den Blick weg von den Studierenden und hin zu den Professoren, Hochschullehrern und Wissenschaftlern in Deutschland, gibt die jüngst erschienene Studie zur akademischen Redefreiheit Aufschluss, die von der Zeit Stiftung Bucerius beauftragt wurde. Auch wenn ich unter den daran beteiligten Wissenschaftlern eine Minderheitenposition einnehme, so komme ich auch hier zum Schluss, dass Cancel Culture an deutschen Hochschulen kein Mythos ist. Erstens beobachten wir ein ausgeprägtes politisch-ideologisches Ungleichgewicht an deutschen Hochschulen, die eine deutliche Schlagseite nach links aufweisen. Zweitens finden sich ideologisch gefärbte Vorstellungen davon, was an Universitäten erlaubt sein soll und was nicht. Fünf Prozent der befragten Wissenschaftler würden einen Vortrag absagen, der von zwei biologischen Geschlechtern ausgeht. Jeder zehnte würde einen Vortrag absagen, der eine kulturalistische Erklärung für migrantische Kriminalität vorschlägt. Und 29 Prozent sind der Ansicht, es solle nicht erlaubt sein, sich der sogenannten gendersensiblen Sprache zu verweigern. Drittens berichten die befragten Wissenschaftler von restriktiven Erfahrungen. Je sechs Prozent geben an, in den letzten zwei Jahren für ihre Forschung moralisch abgewertet worden zu sein oder sich gar berufliche Probleme eingehandelt zu haben. Nun erscheinen sechs Prozent auf den ersten Blick als nicht sehr viel. Hochgerechnet handelt es sich dabei aber um immerhin rund 9700 Fälle allein in zwei Jahren. Jetzt kann man darüber streiten, ob das viel oder wenig ist. Nur Einzelfälle, wie manchmal argumentiert wird, sind es definitiv nicht. Etwa doppelt so viele geben außerdem an, aus Furcht vor negativen Folgen oder aufgrund von Druck bestimmte Forschungsthemen nicht zu behandeln.
Für sich allein genommen ‚beweist‘ keines dieser einzelnen Ergebnisse zweifelsfrei die Existenz einer Cancel Culture an deutschen Hochschulen. In der Gesamtschau ergibt sich für mich aber der Schluss, dass es sich definitiv um mehr als einen bloßen Mythos handelt.
Was man wohl sagen kann, ist, dass es einige linke Akteure an Hochschulen gibt, die eine Meinungshoheit über gewisse Themen beanspruchen und sich tendenziell etwas konservativere oder rechte davon in ihrer Meinungsäußerung eingeschüchtert fühlen, und dass dieses Phänomen kein Randphänomen ist. Auch ein Blick in den Bauchladen der dokumentierten Cancelling-Strategien reicht dafür ja aus: Ausladungen, Deplatforming, Kampfbegriffe etc. Gecancelt wird also. Aber das Konzept einer Cancel Culture – mit dem soziologisch gehaltvollen Begriff der Kultur im Namen – beinhaltet natürlich mehr. Kultur unterstellt ja, dass es gleichsam eine soziale Systematik im Ausschluss von Meinungen gibt, die nicht mit bestimmten linken (oder möglicherweise in bestimmten Hinsichten auch rechten) Ansichten konform gehen. Ist aus Ihrer Sicht der Begriff Cancel Culture ein grundsätzlich gehaltvolles Konzept? Was müsste ihrer Ansicht nach eigentlich empirisch vorliegen, damit man als Resultat empirischer Forschung sagen würde: Ja, hier gibt es Cancel Culture?
„Cancel Culture" ist zunächst natürlich ein politischer, vor allem medial geprägter, kein wissenschaftlicher Begriff. Ich halte ihn dennoch für wissenschaftlich nützlich, weil er einen hohen heuristischen Wert besitzt, wenn man Probleme der Meinungsfreiheit analysieren möchte. Auch lässt er sich sehr gut mit etablierten und zentralen sozialwissenschaftlichen Konzepten rekonstruieren.
„Meinungsfreiheit erfordert aber auch den Mut und die Bereitschaft, sich auch dann zu äußern oder seine Position zu verteidigen, wenn man dafür Kritik erfährt oder Nachteile in Kauf nehmen muss.“
Der Cancel-Culture-Begriff schärft zunächst einmal das Bewusstsein dafür, dass es sich bei Meinungsfreiheit (oder im Hochschulkontext angemessener: bei Wissenschaftsfreiheit) nicht nur um eine rein rechtliche Kategorie, also ein Grund- und Abwehrrecht gegenüber dem Staat, handelt. Vielmehr benötigen die freie Rede und der freie Austausch von Argumenten auch ein kulturelles Fundament, um sich voll entfalten zu können. Nun ist der Kulturbegriff notorisch schwierig zu definieren, aber ein solches kulturelles Fundament bedeutet, dass es für die Meinungsfreiheit jenseits des gesetzlichen Rahmens gewisser gesellschaftlicher Vorstellungen und daraus abgeleitet gewisser Normen und Praktiken bedarf, damit sie auch tatsächlich gelebt wird. Also Dinge, die man auch als freiheitliche politische Kultur bezeichnen kann. Meinungsfreiheit erfordert beispielsweise Toleranz, also die Idee und Bereitschaft, dass auch diejenigen sprechen dürfen, deren Meinungen und Ansichten man selbst ablehnt oder für falsch oder sogar für gefährlich hält. Umgekehrt erfordert Meinungsfreiheit aber auch den Mut und die Bereitschaft, sich auch dann zu äußern oder seine Position zu verteidigen, wenn man dafür Kritik erfährt oder Nachteile in Kauf nehmen muss.
Mit „Cancel"-Kultur lassen sich nun also umgekehrt solche gesellschaftlichen Vorstellungen und entsprechende Normen und Praktiken bezeichnen, die einer freiheitlichen Kultur fundamental entgegenstehen, also etwa Intoleranz statt Toleranz und Selbstzensur oder Konformismus statt mutigen Widerspruch fördern. Dazu gehören etwa solche Ideen wie die, dass man Menschen in „gute" und „böse" Gruppen einteilen kann und man der Gruppe der „Guten" hilft, indem man der Gruppe der „Bösen" keine Plattform bietet. Oder die Idee, dass Menschen nicht mündig und resilient seien, sondern fragile Wesen, die vor bestimmen Äußerungen oder Ansichten geschützt werden müssten, etwa weil Worte genauso wirksam oder verletzend seien wie Taten.
Der Clou des Cancel-Culture-Begriffs oder besser der Cancel-Culture-Hypothese ist also in der Tat, dass es sich dabei im Kern um ein „kulturalistisches" Argument handelt: dass es auf den konkreten Inhalt der kulturellen Vorstellungen einer Gesellschaft oder innerhalb einer Institution ankommt, inwieweit sich Menschen frei äußern können oder dies lieber unterlassen. Für eine wissenschaftliche Unterstützung der Cancel-Culture-Hypthose müsste also der empirische Nachweis geführt werden, dass sich gesellschaftliche oder institutionelle Kontexte darin unterscheiden, ob sich Menschen frei äußern können und dass sich diese Unterschiede mit Verweis auf die dort in unterschiedlichem Maße vorfindbaren inhaltlich-kulturellen Vorstellungen erklären lassen.
„Insgesamt ist es wohl ratsamer, Cancel Culture als graduelles Phänomen zu fassen.“
Folgender Punkt scheint mir in diesem Zusammenhang noch bedenkenswert, da er ein wichtiges Problem bei der empirische Forschung zu Cancel Culture verdeutlicht: Von einer rein quantitativen Verbreitung eines Phänomens lässt sich nicht auf dessen „soziale Systematik" schließen. Um das an einem Beispiel zu verdeutlichen: Angenommen, eine Gesellschaft beschließt, dass die Meinung von Personen mit roten Socken systematisch unterdrückt werden soll. Nehmen wir außerdem an, dass ein Prozent der Population rote Socken trägt. Jetzt beobachten wir, dass ein Prozent der Population seine Meinung nicht sagen kann. Das ist vielleicht quantitativ nicht viel – aber eben trotzdem das Ergebnis einer sozialen und hochwirksamen Systematik. Das Problem wird noch dadurch verschärft, dass wir nicht ausschließen können, dass viele Personen aufgrund ihres Wissens um diese Systematik erst gar keine roten Socken tragen und nur deswegen als nicht eingeschränkt erscheinen.
Sie sehen und ich gebe zu: Es ist kompliziert. Insgesamt ist es wohl ratsamer, Cancel Culture als graduelles Phänomen zu fassen. Statt also zu fragen „gibt es sie oder nicht?" sollte man eher fragen „wie stark oder schwach ist sie ausgeprägt?". Dies erlaubt es, sowohl Unterschiede als auch Veränderungen in der Meinungsfreiheit nuanciert zu beschreiben, ohne dabei in ein simples Schwarz-Weiß-Denken oder gar in Alarmismus zu verfallen.
Cancel Culture als graduelles Konzept – das leuchtet unmittelbar ein. Dann bewegen wir uns doch mit diesem Gedanken im Hinterkopf weiter in die Totale und schauen auf die Lage des Landes. Wie würden Sie denn jenseits der Hochschulen die Situation der Meinungsfreiheit auf der kulturellen Ebene beschreiben? Was sind dazu die aus Ihrer Sicht wichtigsten Erkenntnisse?
Das sicherlich Bemerkenswerteste ist die Tatsache, dass immer mehr Bürger sagen, dass sie Ihre Meinung nicht mehr frei äußern können. Nach der bekannten Zeitreihe des Instituts für Demoskopie in Allensbach hatten in den 1970er Jahren noch über 80 Prozent der Bevölkerung das Gefühl, sie könnten „ihre politische Meinung frei äußern“. 50 Jahre später, also heute, hat sich dieser Anteil halbiert. Das ist schon ein dramatischer Rückgang in der subjektiv empfundenen Meinungsfreiheit. In meiner eigenen Forschung, die eine leicht andere Frageformulierung verwendet (wir fragen nicht „oder muss man vorsichtig sein?" sondern direkt „fühlen Sie sich frei oder nicht frei?") kommen wir zwar auf etwas geringere Zahlen (hier sagen ‚nur‘ etwa 25 Prozent, sie fühlen sich „nicht frei zu sagen, was sie wirklich denken"), aber auch dieser Anteil ist für eine liberale Demokratie nach meinem Empfinden noch erschreckend hoch.
Die Fragen, die sich also stellen sind: Welche Sanktionen haben die Bürger eigentlich im Kopf, wenn sie sagen, sie seien nicht frei? Und wie akkurat sind diese Wahrnehmungen, inwieweit beruhen sie auf bloßer Einbildung? Mit unseren Daten können wir zeigen, dass die wahrscheinlichsten Folgen, die in einer liberalen Demokratie wie Deutschland erwartet werden, grundsätzliche diskursive Risiken sind. D.h. die Bürger erwarten, dass ihnen „widersprochen“ wird und sie „andere beleidigen“, wenn sie frei ihre Meinung sagen. Schon diese niedrigschwelligen Konsequenzen werden als relevante soziale oder kulturelle Einschränkungen der Meinungsfreiheit wahrgenommen.
„Je weiter links, desto freier, und je weiter rechts, desto unfreier fühlen sich die Menschen in ihrer Meinungsfreiheit.“
Aber: Über jeder Zehnte rechnet auch mit ganz manifesten negativen persönlichen Konsequenzen, wenn er frei sagt, was er wirklich denkt. Wir haben versucht, die Kostspieligkeit verschiedener Konsequenzen freier Rede statistisch zu berechnen und stellen dabei fest, dass vor allem die Bezeichnung als „extrem“ oder „radikal“, Probleme am Arbeitsplatz und rechtliche Konsequenzen die höchsten Kosten für die Meinungsfreiheit der Bürger mit sich bringen. Interessanterweise wirkt sich umgekehrt die Furcht, vom eigenen sozialen Nahumfeld, also von Freunden oder Bekannten, geächtet zu werden, nicht in gleichem Maße auf die wahrgenommene Redefreiheit aus. Das ist auch konsistent mit dem Befund, dass die wahrgenommene Redefreiheit in engen sozialen Beziehungen als wesentlich höher eingeschätzt wird als in öffentlichen Umgebungen wie etwa dem Arbeitsplatz oder auch den sozialen Medien im Internet. Die Gründe oder Verantwortlichen der als eingeschränkt empfundenen Meinungsfreiheit werden also im weiteren politischen System verortet – bei den Eliten, den NGOs und den Medien.
Durch die experimentelle Manipulation von Fragethemen können wir außerdem zeigen, dass die Bürger bei der Beantwortung von Fragen zur Meinungsfreiheit definitiv an politisch relevante (und nicht etwa nur an triviale persönliche) Themen denken und dass sich die wahrgenommenen Sanktionswahrscheinlichkeiten und -kosten je nach politischem Thema ganz erheblich unterscheiden. Insbesondere kulturelle Themen wie Einwanderung und Islam werden als viel heikler und sanktionsbewährt angesehen als Covid-19 und Klimawandel oder einfache Regierungskritik.
Zuletzt haben wir geprüft, inwieweit die Erwartungen und Wahrnehmungen der Bürger auf tatsächlichen Erfahrungen mit Sanktionen für freie Meinungsäußerung beruhen. Wir zeigen, dass es – relativ gesehen und auf die gesamte Population bezogen – eine nahezu perfekte Korrelation zwischen Erfahrungen und Erwartungen gibt. Anders ausgedrückt: Sanktionen, die tatsächlich häufiger vorkommen, werden auch eher erwartet. Außerdem sind auch die individuellen persönlichen Erfahrungen der Bürger in hohem Maße prädiktiv für ihre Wahrnehmung der Redefreiheit. Das heißt nicht, dass ihre Wahrnehmungen 100 Prozent korrekt sind – tatsächlich scheint es zu einer Überschätzung des Risikos freier Rede zu kommen. Aber als bloße Einbildung lässt sich die Wahrnehmung einer zunehmenden Zahl an Bürgern sicher nicht abqualifizieren.
Sie sagen, dass unter anderem die Qualifizierung als „extrem" oder „radikal" zu einer wahrgenommenen Einschränkung der Meinungsfreiheit führt. Ist hier der Vorwurf „linksextrem" zu sein, genauso wirksam wie der „rechtsextrem" zu sein? Haben Sie das erhoben?
Kurz und knapp: Nein, das haben wir in dieser Form leider nicht direkt erhoben, sondern nur allgemein nach „extrem" oder „radikal" gefragt. Allerdings kann man diese Frage mit der eigenen politisch-ideologischen Selbsteinstufung korrelieren. Hierbei zeigt sich, dass die Erwartung, von anderen als „extrem" oder „radikal" bezeichnet zu werden, wenn man frei sagt, was man denkt, im rechten politischen Spektrum höher ist. Konkret (und wenn man für Bildung kontrolliert, indem man sich nur auf Menschen mit hoher Bildung konzentriert) würden das 20 Prozent auf der sehr linken Seite (eher) erwarten und 30 Prozent auf der sehr rechten Seite. Auf der gemäßigt rechten Seite sind das immer noch 25 Prozent. Generell zeigt sich in unseren Daten immer wieder, dass die politisch-ideologische Selbstverortung mit zu den entscheidendsten Erklärungsfaktoren für die subjektive Meinungsfreiheit zählt. Hier lässt sich ein sehr klarer Gradient beobachten: je weiter links, desto freier, und je weiter rechts, desto unfreier fühlen sich die Menschen in ihrer Meinungsfreiheit.
„Ich möchte eigentlich nur noch Forschung zu kontroversen Themen machen, weil sie offensichtlich relevant sind und mich das persönlich am meisten befriedigt.“
Eine Sache gab mir im letzten Jahr Rätsel auf. Im Allensbach-Freiheitsindex ist 2024 die Zahl derer, die angeben, sich bei ihrer Meinungsäußerung frei zu fühlen, von 40 auf 47 Prozent gestiegen. Das scheint mir erklärungsbedürftig, denn das Jahr stand ja – Stichwort: Correctiv-Berichterstattung über die „Potsdamer Geheimkonferenz", die Landtagswahlen im Osten – medial und politisch im Zeichen des „Kampfes gegen rechts" – wobei „rechts" und „rechtsextrem" meiner Wahrnehmung nach häufig austauschbar gebraucht werden. Dies sollte eigentlich auf eine weitere Verengung des Diskurskorridors einzahlen. Haben Sie eine Erklärung, wie es zu diesem leichten Anstieg der subjektiven Meinungsäußerungsfreiheit kommt?
Ich bin mir nicht sicher, wie belastbar dieser Befund eines vermeintlichen Anstiegs der subjektiven Meinungsfreiheit in Deutschland wirklich ist. Das hat zwei Gründe. Erstens lag der Allensbach-Index ja schon 2022 bei 48 Prozent, was bereits einen Anstieg gegenüber den 45 Prozent in 2021 nahelegte, nur um dann 2023 wieder auf 40 Prozent zurück zu fallen. Anders ausgedrückt: Statt eines Trends – so wünschenswert dieser aus meiner Sicht wäre – sieht mir das eher nach einer Fluktuation aus. Und bei dieser Fluktuation ist nicht sicher, ob sie wirklich eine systematische Veränderung widerspiegelt oder aufgrund statistischer Unsicherheit zustande kommt. Zweites zeigen unsere eigenen Daten keine solche Trendumkehr, sondern – wenn überhaupt – eher eine weitere Zunahme des subjektiven Gefühls, seine Meinung nicht frei äußern zu können. Tatsächlich sehen wir dabei auch, dass die Sorge, als „rechts" oder „extrem" bezeichnet zu werden, signifikant gestiegen ist und auch als noch kostspieliger wahrgenommen wird als zuvor. Dies scheint mir also völlig konsistent mit ihrer Beobachtung zu sein – die ich im Übrigen teile.
Wie ist denn eigentlich die Situation als Forscher, wenn man ein Thema wie Meinungsfreiheit behandelt, das ja häufig als „umstritten" oder sogar „rechts" geframt wird? Angesichts der eingangs von Ihnen beschriebenen Situation an Hochschulen: Erfährt man Cancel Culture, wenn man Cancel Culture erforscht?
Ja, es besitzt schon eine gewisse Ironie: Manche Stimmen, die eine Cancel Culture – oder generell Probleme mit der Meinungsfreiheit – vehement in Abrede stellen, sind oftmals die ersten, die mit Vokabeln wie „umstritten" oder „rechts" hantieren, um Forscher oder Forschungsthemen zu markieren. Und man darf sich da nichts vormachen, diese Markierung ist natürlich politisch motiviert und mit einer exkludierenden, moralischen Abwertung verbunden. Für die Frankfurt-Studie wurde mir explizit vorgeworfen, ich würde „rechte Narrative" bedienen. Das aktuellste Beispiel ist eine Journalistin, die einen meiner Vorträge zur Meinungsfreiheit zwar in ihre Podcastserie aufnahm, sich aber offenbar bemüßigt gefühlt hat, in ihrer Einleitung sowohl meine Forschung als auch meine Person richtig ‚einzuordnen‘. Und natürlich fielen da auch Worte wie „umstritten". Dass das natürlich die performative Bestätigung für die These ist – das entgeht diesen Stimmen. Im konkreten letztgenannten Fall haben allerdings auch meine Hochschulkollegen nur mit dem Kopf schütteln können.
Aber Sie sehen auch: Gecancelt werde ich offensichtlich nicht. Es ist im Gegenteil eher so, dass das Forschungsthema viel Aufmerksamkeit erfährt und es entsprechend auch sehr viele Einladungen zu Vorträgen gibt, die auch ungestört stattfinden. Das ist der Vorteil, wenn man vermeintlich ‚heiße‘ Themen beforscht – es gibt dann nicht so viel Konkurrenz, die sich ebenfalls damit befassen möchte. Und je mehr ich meine Rolle als Forscher reflektiere, desto stärker wird mir auch bewusst, dass ich eigentlich nur noch Forschung zu kontroversen Themen machen möchte, weil sie offensichtlich relevant sind und mich das persönlich am meisten befriedigt. Mein eigenes Ideal folgt da ganz der antiken Vorstellung der „Parrhesia", also der franken und freien Rede. Wahrheiten zu ergründen und sie dann offen zu kommunizieren – auch oder gerade dann, wenn es mit Risiken verbunden ist, weil es anderen vor den Kopf stößt oder nicht den Vorstellungen der Mehrheit oder der Mächtigen entspricht, genau darum geht es. Was wahr oder falsch ist, hat auch nichts mit links oder rechts zu tun. Ein wichtiger Gradmesser ist für mich deshalb, ob meine Forschung abwechselnd und je nach Thema mal aus der einen, mal aus der anderen politischen Richtung kritisiert wird. Das wird sie und somit ist für mich auch alles bestens.
Das Interview führte Christian Zeller.