24.07.2024

„Ich sehe hier einen Einschüchterungseffekt“

Interview mit Christoph Degenhart

Titelbild

Foto: Hpeterswald via WikiCommons / CC BY-SA 4.0

Um den Zustand der Meinungsfreiheit in Deutschland sorgt sich auch ein Staatsrechtsprofessor. Bundesregierung und Verfassungsschutz geben kein gutes Bild ab. Das gilt auch bei der Compact-Affäre.

Christian Zeller: Herr Professor Degenhart, wie schätzen Sie die gegenwärtige Lage der Meinungsfreiheit in Deutschland aus verfassungsrechtlicher Sicht ein?

Christoph Degenhart: Grundrechte sind stets gefährdet und erfordern Wachsamkeit. Dies gilt ganz besonders für die Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG. Wenn die Hälfte der Bevölkerung der Auffassung ist, man könne seine Meinung nicht mehr frei sagen, so deutet dies auf eine gewisse Verunsicherung hin, die dem Meinungsklima abträglich ist. Befürchtet werden wohl gesellschaftliche Sanktionen, wenn der Korridor des korrekterweise Sagbaren verlassen wird; schon dies kann jenen chilling effect hervorrufen, der die Meinungsfreiheit einschränkt. Hinzu kommen zusehends staatliche Einwirkungen – einerseits mit dem „sanften“, aber nicht minder problematischen Instrumentarium der Förderung, andererseits aber zusehends mit Mitteln des repressiven Staates.

Zum Verständnis der gegenwärtigen Lage hilft vielleicht auch ein Blick ins Grundsätzliche: Was ist Meinungsfreiheit eigentlich und welche Bedeutung kommt diesem Recht in der liberal-demokratischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zu?

Meinungsfreiheit ist für die demokratische Ordnung des Grundgesetzes, wie es das Bundesverfassungsgericht ausgedrückt hat, „schlechthin konstituierend“; sie ist„unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte“ und „in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt“, „für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung […] schlechthin konstituierend, denn [sie] ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist.“

Blicken wir nun der Reihe nach auf einzelne Äußerungen staatlicher Akteure und Gesetze aus der jüngeren Zeit. Bundesinnenminister Faeser sprach auf einer Pressekonferenz zur Präsentation des „großen Maßnahmenpakets gegen Rechtsextremismus“ am 13. Februar 2024 davon, dass derjenige mit einem starken Staat rechnen müsse, der diesen Staat verhöhne. Denken wir einmal in verfassungsrechtlichen Szenarien und stellen wir uns einmal vor, aus dem Geist dieser Äußerung würde ein Gesetz gemacht werden: Wie könnte es aussehen und wäre es verfassungsgemäß?

Entsprechende Gesetze haben wir bereits im StGB, so § 90a – verfassungsfeindliche Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole. Schon diese Bestimmung muss, wie auch die § 90b ff., verfassungskonform ausgelegt werden – einen Bedarf nach weiteren Gesetzen sehe ich nicht.

In derselben Pressekonferenz beobachtete Verfassungsschutzpräsident Haldenwang „mentale und verbale Grenzverschiebungen“. Befindet sich eine solche Warnung im Einklang mit dem gesetzlichen Auftrag des Verfassungsschutzes?

Nein – der Verfassungsschutz ist keine Gedanken- und Sprachpolizei.

„Der Verfassungsschutz verwechselt Kritik an der Regierung mit Kritik am Demokratie- und am Rechtsstaatsprinzip.“

Haldenwang verwendete in eben jener Pressekonferenz auch den Begriff der „Staatswohlgefährdung“. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?

Zweifellos ist es Aufgabe eines Geheimdienstes, Gefahren für das Staatswohl zu erkennen – die Frage ist nur, wie man dieses definiert; darunter fällt etwa der Schutz von IT-Strukturen, kritischer Infrastrukturen, der Verteidigungsfähigkeit. Haldenwang will den Begriff aber wohl weiter fassen.

Wie beurteilen Sie die 2021 eingeführte Kategorie der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“?

Der Verfassungsschutz verwechselt Kritik an der Regierung mit Kritik am Demokratie- und am Rechtsstaatsprinzip, seine Aufgabe ist Schutz der Verfassung und nicht Schutz der Regierung vor Kritik, die er  jedoch als „Agitation“ seinerseits delegitimiert. Es handelt sich um einen unscharfen, kaum justitiablen und vom Verfassungsschutz mehr oder weniger beliebig auszufüllenden Begriff.

Auf der Webseite des Verfassungsschutzes ist die Kategorie der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ wie folgt bebildert: Ein Mann mit FFP3-Maske, der sich offenbar auf einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen befindend, hält ein Schild mit der Aufschrift hoch: „Diese Politik vernichtet uns alle.“ Ist diese Äußerung von dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt? Und „delegitimiert“ sie den Staat im Sinne der neuen Kategorie des Verfassungsschutzes?

Gegenprobe: Bei einer Anti-AKW-Demonstration hält ein Teilnehmer ein Schild hoch mit der Aufschrift: „Atomkraft ist tödlich“ oder so ähnlich. Ich würde in beiden Fällen von einer Meinungsäußerung (und nicht von einer Tatsachenbehauptung) ausgehen, die zweifellos scharf, überspitzt und polemisch wäre, aber eben doch unter die Meinungsfreiheit fiele.  Den Versuch, mit dem Begriff der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates gegen Meinungsäußerungen vorzugehen, halte ich für verfassungswidrig.

Bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts konfrontierte eine Journalistin des Medienportals Nius Faeser und Haldenwang mit der Einschätzung von verschiedenen Staatsrechtlern, dass die Äußerungen von Faeser und Haldenwang ihrerseits ein Fall für den Verfassungsschutz darstellten. Faeser parierte unvermittelt mit den Worten, dass diese Auffassung „absurd“ sei. Wie schätzen Sie diese Reaktion der Innenministerin ein? 

„Absurd“ ist kein Argument. Kritik darf scharf und polemisch – „unpleasantly sharp“, wie dies der Supreme Court formulierte – sein.

„Ist das ‚Volk' wirklich so leicht zu verhetzen? Was für eine obrigkeitsstaatliche Geringschätzung des Volks!“

„Verfassungsfeindlichkeit“ und „Verfassungswidrigkeit“ sind Begriffe, die derzeit häufig im öffentlichen Diskurs gebraucht werden. Was bedeuten sie?

Verfassungswidrig meint: Ein staatlicher Akt verletzt die Verfassung. Verfassungsfeindlich meint Bestrebungen, die freiheitliche Verfassungsordnung zu bekämpfen.

Ursprünglich war der Verfassungsschutz im Institutionengefüge der jungen Bundesrepublik Deutschland dafür gedacht, dass sich die Demokratie nach der nationalsozialistischen Diktatur besonders wehrhaft gegen Angriffe von innen zeigen müsse. Wird aber eine solche Institution in einer seit Jahrzehnten etablierten liberalen Demokratie noch gebraucht?

M.E.: nein.

An demselben Tag als Faeser und Haldenwang ihre gemeinsame Pressekonferenz abhielten, nahm auch Familienministerin Lisa Paus an einer Pressekonferenz teil. Thema war hier: „Hass im Netz“. Paus verwendete die Formulierung, dass auch Äußerungen „unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ zum Gegenstand staatlicher Kontrolle gemacht werden sollen, schließlich wüssten „viele Feinde der Demokratie […] ganz genau, was auf den Social Media-Plattformen gerade noch so unter Meinungsfreiheit fällt“. Sie hatte bei einer schärferen Disziplinierung solcher Aussagen den neuen „Digital Services Act“ der EU im Blick, der im Februar 2024 in Kraft getreten ist. Wie ordnen Sie die Äußerungen von Paus ein?

Die Formulierung „was gerade noch so unter die Meinungsfreiheit fällt“ lässt auf ein grundlegendes Fehlverständnis des Grundrechts schließen.

In den letzten Jahren wurde der Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 StGB) mehrfach erweitert. Sind diese Änderungen geeignet, die Meinungsfreiheit auf verfassungsrechtlich problematische Weise einzuschränken? Die NZZ mutmaßt sogar: „Schon wer in Abrede stellt, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, muss inzwischen befürchten, hierfür belangt zu werden.“ Ist diese Sorge berechtigt?

Durchaus – ohnehin wird der Volksverhetzungsparagraph instrumentalisiert; davon abgesehen: Ist das „Volk“ wirklich so leicht zu verhetzen? Was für eine obrigkeitsstaatliche Geringschätzung des Volks!

Eine weitere Gesetzesänderung, die die Meinungsfreiheit zumindest mittelbar berühren könnte, ist das neue Disziplinarrecht für Beamte, das am 1. April 2024 in Kraft getreten ist. Wie ordnen Sie dieses Gesetz ein?

Auch dieses Gesetz entfaltet einen erheblichen „chilling effect“.

„Staatliche Finanzierung bedeutet Staatsnähe, schafft Abhängigkeiten und staatliches Einflusspotential.“

Am 3. April 2021 wurde § 188 StGB, der Beleidigungen, üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens erfasst, auf Kommunalpolitiker erweitert. Welche rechtliche Bedeutung haben dieser Straftatbestand und dessen Erweiterung? Enthält er möglicherweise Elemente, die die Meinungsfreiheit gefährden können?

M.E. ist § 188 StGB überflüssig und demokratiewidrig: es darf kein Sonderrecht für Bundes-, Landes- oder Kommunalpolitiker geben.

In den letzten Monaten traten gehäuft Fälle auf, in denen Spitzenpolitiker gegen Bürger wegen angeblich beleidigender Äußerungen Strafanzeige erstattet haben. Außenministerin Anna-Lena Baerbock stellte Strafantrag gegen einen Tegernseer Unternehmer wegen einer Karikatur, auf der ein Bild ihres Kopfes auf die Abbildung eines trotzigen Kindes montiert war. Wirtschaftsminister Robert Habeck stellte Strafantrag gegen einen Journalisten, der in einem Tweet geschrieben hatte, er würde „mit seiner äußeren Erscheinung in einer Ansammlung von Bahnhofsalkoholikern nicht negativ auffallen.“ Habeck hatte sich zuvor mit Kapuzenpulli auf einem Bahnsteig sitzend ablichten lassen. Beide Fälle endeten mit einem Freispruch. Beobachten wir hier eine Instrumentalisierung des Strafrechts, um faktisch das Recht auf Meinungsfreiheit einzuschränken, ohne bislang de jure dessen verfassungsrechtlich geschützten Kern anzutasten?

Ich sehe hier einen Einschüchterungseffekt, der der Meinungsfreiheit zuwiderläuft. Man muss bedenken, dass das hier die Risiken sehr ungleich verteilt sind; tatsächlich sehe ich hier eine Instrumentalisierung des Strafrechts.

Wie blicken Sie auf das geplante Demokratiefördergesetz?

Es soll, so die Bundesregierung, einen gesetzlichen Auftrag des Bundes zur „Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung und Extremismusprävention“ begründen. Projekte zivilgesellschaftlichen Engagements sollen hierzu dauerhaft verlässlich unterstützt, also finanziert werden, u.a. gegen Rassismus, Queerfeindlichkeit, Antifeminismus oder Antiislamismus und ähnliche als demokratiefeindlich identifizierte Tendenzen. So begrüßenswert jedoch das Anliegen eines Demokratiefördergesetzes erscheinen mag: Nicht nur sind staatlich alimentierte Nichtregierungsorganisationen ein Widerspruch in sich. Staatliche Finanzierung bedeutet Staatsnähe, schafft Abhängigkeiten und staatliches Einflusspotential. Eben deshalb ist ein Demokratiefördergesetz, wie es der Bundesregierung vorschwebt, keineswegs so demokratiefördernd, wie es die Bezeichnung, unter der das Gesetz firmieren soll, suggeriert.

Öffentliche Meinungsbildung soll in der Demokratie des Grundgesetzes ‚von unten nach oben‘ erfolgen, nicht zuletzt durch zivilgesellschaftliches Engagement, nicht aber als Meinungsbildung durch den Staat ‚von oben nach unten‘, wie der BGH (NJW 2019, 763) dies bildhaft treffend formuliert. Wenn Nichtregierungsorganisationen, insbesondere Organisationen mit dezidierter politischer oder weltanschaulicher Ausrichtung oder Nähe zu Parteien von staatlicher Unterstützung getragen in den gesellschaftlichen Diskurs eingreifen, so werden die Grenzen unscharf. Hier ist Skepsis angebracht, auch wenn dies auf dem sanften Weg staatlicher Förderung geschehen soll. Der umfassend fördernde Staat ist ein Erbe des aufgeklärten Absolutismus, nicht aber der freiheitliche Staat des Grundgesetzes.

„Staatliches Informationshandeln muss dem Gebot der Sachlichkeit und Objektivität entsprechen – dies sehe ich nicht durchweg gewahrt.“

Blicken wir nun auf den Prozess der Willensbildung in Zivilgesellschaft und Parteien, der derartige Gesetzesvorhaben anzuleiten scheint. Eine oft zu hörende Äußerung von Seiten der regierenden Parteien, insbesondere von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD, ist, dass man „Hass und Hetze“ bekämpfen wolle und auch müsse. Unter „Hass und Hetze“ kann natürlich jeder etwas anderes verstehen: Als „Hass und Hetze“ können strafbare Handlungen wie Beleidigung oder Volksverhetzung gelten, aber auch die Behauptung, es gäbe zwei Geschlechter, gilt in manchen politischen Milieus bereits als „Hassrede“. Auch die Verhinderung von „Desinformation“ ist ein oft genannter Grund, um Gesetze gegenüber den Wählern zu legitimieren – und über all dem schwebt seit dem Correctiv-Bericht zu dem „Geheimplan“ in Potsdam vom Januar 2024 das permanente Ineinanderschieben von „rechts“ und „rechtsextrem“, auch von Seiten von Regierungsmitgliedern. Wie ist es verfassungsrechtlich einzuordnen, wenn Staatsorgane sich in solchen unbestimmten Begrifflichkeiten ausdrücken, um Gesetzesvorhaben auf den Weg zu bringen?

Staatliches Informationshandeln muss dem Gebot der Sachlichkeit und Objektivität entsprechen – dies sehe ich nicht durchweg gewahrt.

Die verfassungsrechtliche Brisanz der Phänomene, die wir in unserem Gespräch bislang thematisiert haben, scheint offenkundig zu sein. Warum bleibt Ihrer Ansicht nach ein Aufschrei unter Medienschaffenden, aber auch unter Juristen über die Äußerungen von Haldenwang, Paus und Faeser weitgehend aus?

Die Medienschaffenden sind ganz überwiegend dem Lager Paus und Faeser zuzuordnen, Haldenwang ist nur his master’s voice.

Wie sprechen denn Verfassungsrechtler untereinander über diese Phänomene? Gibt es Kollegen, die durchaus kritisch sind, es aber vorziehen, sich nicht allzu laut zu äußern?

Leider ja.

Angebliche oder tatsächliche Fälle von Diskriminierung, „Menschenfeindlichkeit“ oder „Hassrede“ werden zunehmend von Meldestellen dokumentiert, die von zivilgesellschaftlichen Organisationen, teilweise mit staatlicher Teilfinanzierung, unterhalten werden. Ein bekanntes Beispiel ist die „Meldestelle Antifeminismus“ der Amadeo Antonio Stiftung. Wie ordnen Sie diese Entwicklungen ein?

„Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant“.

„Ein Vereinsverbot, das sich im Wesentlichen auf grundrechtlich geschützte, also nicht strafbare Presseinhalte stützt, wäre verfassungswidrig.“

Am 16. Juli hat Bundesinnenministerin Faeser die beiden GmbHs, die das Magazin Compact und seine Videosparte verlegen bzw. betreiben, verboten. Wie bewerten Sie diesen Vorgang aus verfassungsrechtlicher Sicht? Wird das Verbot vor dem Bundesverwaltungsgericht Bestand haben?

Es handelt sich hier um einen massiven Eingriff in die Pressefreiheit. Das Vorgehen des Innenministeriums erscheint mir rechtlich in hohem Maße problematisch, und ich habe erhebliche Zweifel, ob es einer verfassungsgerichtlichen Prüfung standhalten würde.

M.E. ist der Weg über das Vereinsverbot verfassungsrechtlich nicht gangbar. Wenn es sich wie hier um einen Verein handelt, dessen wesentlicher Vereinszweck die Herausgabe einer Zeitung/einer Zeitschrift, Print oder online ist, handelt es sich materiell um ein Publikationsverbot in Gestalt eines Vereinsverbots. Damit wird die Kompetenzordnung des Grundgesetzes umgangen – Presserecht ist Landesrecht, dies gilt auch für Verbote, die in dieser Form im Presserecht der Länder eben nicht vorgesehen sind. Materiell ist das Verbot unmittelbar am Grundrecht der Pressefreiheit zu messen – Beschränkungen der Pressefreiheit sind zulässig, wenn strafbare Inhalte verbreitet werden, können aber auch dann m.E. nur die jeweilige Ausgabe betreffen und kein Totalverbot rechtfertigen.

Selbst wenn man die Konstruktion des Innenministeriums als vertretbar halten wollte:  Art. 5 GG – Meinungs- und Pressefreiheit – ist in jedem Fall zu beachten, s. BVerfGE 149, 160 Rn. 93: „Ein Vereinigungsverbot wäre mit den Anforderungen des Grundgesetzes allerdings nicht zu vereinbaren, wenn es nur das Mittel wäre, Meinungsäußerungen oder Publikationen zu untersagen, die für sich genommen den Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG genießen. Der Schutz durch andere Grundrechte darf von einem Vereinigungsverbot nicht unterlaufen werden.“ Ein Vereinsverbot nach Art. 9 Abs. 2 GG, das sich im Wesentlichen auf grundrechtlich geschützte, also nicht strafbare Presseinhalte stützt, wäre verfassungswidrig – die ominösen Meinungsäußerungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze reichen nicht aus. 

Problematisch auch die mediale Inszenierung: Wenn es zutrifft, dass die Medien vorab einen Hinweis aus dem Innenministerium erhielten und deshalb rechtzeitig zur Stelle waren, wäre nicht nur die staatliche Informationspolitik hier verfassungsrechtlich zweifelhaft, sondern auch das Rollenverständnis der Medienvertreter: Die Medien sollten die Staatsmacht kritisch beobachten, aber sich nicht für staatliche Machtdemonstrationen instrumentalisieren lassen.

Sie sind seit über 40 Jahren Hochschullehrer. Beobachten Sie eigentlich unter Ihren Studenten ein verändertes Verhältnis zur Meinungsfreiheit in den letzten Jahren?

Meine aktive Zeit liegt schon einige Jahre zurück – Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen gab es aber auch schon zu meiner Studienzeit. Was man aktuell aus den Universitäten vernimmt, ist aber in der Tat besorgniserregend.

Wagen wir abschließend einen rechtsphilosophischen Ausblick. Im Kern scheinen die sich abzeichnenden Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch ein grundsätzlich legitimes Ziel motiviert zu sein: Die Verletzung von anderen Menschen, insbesondere auch von vulnerablen Gruppen wie Zuwanderern, sexuellen Minderheiten, Menschen anderer Hautfarbe, soll minimiert, und faktenbasierte gesellschaftliche Debatten gefördert werden. Es geht also mithin um ein ehrenwertes Anliegen: den moralischen Gebrauch von Freiheit. Könnte dieses legitime Ziel von der Politik so umgesetzt werden, dass es Pluralität nicht erstickt, also seinerseits nicht in Freiheitsverlust ausartet?

Das ist ja genau das Problem, dass viel zu viel moralisch argumentiert wird und dass diejenigen, die die Freiheit einschränken wollen, sich auf der Seite der „Guten“ sehen, die wissen, was richtig und falsch ist und die glauben, die Moral auf ihrer Seite zu haben.

 

Das Interview führte Novo-Autor Christian Zeller.

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