29.09.2023

Linksextreme Gewalt und Woke Culture (Teil 1/2)

Von Christian Zeller

Titelbild

Foto: Robert Anders via Flickr / CC BY 2.0

Der Dresdner Prozess gegen Linksextreme zeigt, dass sie Gewalt gegen Personen zunehmend für ein probates Mittel halten. Die Woke Culture beeinflusst diese wie früher die 68er die RAF.

Der vor dem Oberlandesgericht Dresden verhandelte „Antifa-Ost-Prozess“ endete am 31. Mai mit empfindlichen Gefängnisstrafen für die vier Angeklagten. Lina E.1, die das Gericht als den Kopf der Gruppe, der sogenannten Hammerbande, erkannte, erhielt eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten. Der Prozess hat eine neue Aufmerksamkeit für die Gefahren des Linksextremismus geschaffen. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang sieht ein weiteres Radikalisierungspotential. Nachdem Anfang der 1990er Jahre der Terror der RAF abgeebbt war und die „Stadtguerilla“ – die bereits von dem Studentenführer Rudi Dutschke im Jahr 1966 angekündigt worden war – schließlich 1998 aufgelöst wurde, galt auch in weiteren Teilen des linksextremen Milieus lange Zeit das Prinzip: Gewalt gegen Sachen ja, Gewalt gegen Personen nein. Zumindest nicht als systematische politische Strategie. „Verantwortliche Militanz“ war eines der prominentesten, wenngleich nicht unumstrittenen Leitbilder innerhalb der Szene nach dem Ende des RAF-Terrorismus. Im Gegensatz zum Rechtsextremismus, der vor schwerer Körperverletzung und Morden nie Halt machte und der denn auch eine mehr als doppelt so hohe Zahl an Körperverletzungen wie der Linksextremismus aufzuweisen hat.2

Der Dresdner Linksextremismusprozess hat deutlich werden lassen: Diese Demarkationslinie zwischen Links- und Rechtsextremismus erodiert. Nordrhein-Westfalens Verfassungsschutzchef Jürgen Kayser attestiert der Gruppe um Lina E. noch vor der Urteilsverkündung „eine neue Qualität.“ Denn hier, so Kayser, gehe es „nicht um spontane Gewalt, die sich aus einem Versammlungsgeschehen heraus entwickelt, sondern um geplante Gewalt gegen den politischen Gegner, die mit hohem Verletzungspotential einhergeht.“ Neo-Nazis oder augenscheinliche Sympathisanten der Szene wurden von Linksextremen zwischen 2018 und 2020 am helllichten Tag verprügelt, mit Baseballschlägern traktiert, mit Reizgas eingesprüht. Die öffentlich wahrnehmbare Drastik der Taten spiegelt sich auch in der Statistik wider: Während im Jahr 2022 61 Körperverletzungen von Rechtsextremisten gegen Linksextremisten (oder vermeintliche Linksextremisten) zu verzeichnen waren, sind es 164 Körperverletzungen, die von Linksextremisten gegen Rechtsextremisten oder (vermeintliche Rechtsextremisten) verübt wurden.3 Ein versuchtes Tötungsdelikt kommt hinzu.

Die Prozesse um die Gruppe von Lina E. gehen derweil in die nächste Runde der juristischen Aufarbeitung und Bewertung. Sowohl die Anwälte der Tatverdächtigen als auch die Bundesanwaltschaft haben gegen das Urteil des Dresdner Oberlandesgerichts Revision eingelegt. Während die Urheberschaft der Taten damit rechtstaatlich gesehen noch nicht zweifelsfrei geklärt ist und in einiger Zeit vom Bundesgerichtshof entschieden werden wird, steht fest: Die Taten selbst wurden begangen, so dass die Frage im Raum steht: Wo könnte eine Spurensuche beginnen, die uns den qualitativen Sprung im Linksextremismus verstehen lässt?

68 und die RAF

Blicken wir 50 Jahre zurück. Die Rote Armee Fraktion (RAF) entführt Industrielle, begeht Morde auf offener Straße, erpresst den Staat, kooperiert mit global agierenden Terrorgruppen. Das Habitat, aus dem Ende der 1960er Jahre der Terror erwuchs, floss über vor den hehren Motiven der studentischen Protestbewegung, die das Jahrzehnt geprägt hatten. Entzündet hatte sie sich in Deutschland an den von der Regierung Kiesinger initiierten Notstandsgesetzen, an überkommenen Strukturen in den Hochschulen, an der notwendigen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, dem US-amerikanischen Angriffskrieg auf Nordvietnam (und später Kambodscha) sowie dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg bei dem Besuch des iranischen Schahs am 2. Juni 1967 in Berlin. Man übte Kritik an autoritären Verhältnissen in Politik, Familie und Bildungssystem, an einer an der Logik der Verwertung orientierten Medienlandschaft, an technokratischer Gesellschaftssteuerung, an Konsumismus und Verschwendung, an imperial motivierter Kriegstreiberei, an entfremdenden Arbeitsstrukturen. Man zielte ab auf die Befreiung der Triebe, die Demokratisierung der Gesellschaft, das Erheben der eigenen Stimme, ein Mehr an Partizipation in Staat und Wirtschaft, die Beendigung der Unterdrückung Marginalisierter, Entrechteter und Kolonisierter.

Die Kehrseite allerdings war auch zu jener Zeit bereits klar sichtbar: In seiner „vor-revolutionären Praxis" orientierte man sich an der Kulturrevolution Mao Zedongs und schwenkte, ebenso fanatisiert wie seine Roten Garden, die Andersdenkende bloßstellten und schikanierten, die „Mao-Bibel“, der bereits in ihrer landläufigen Bezeichnung jene Unhinterfragbarkeit eingeschrieben war, gegen die die 68er eigentlich zu Felde zogen. Man schwadronierte über die BRD als „faschistisches System“ ohne zu bemerken, dass man ein solches in der eigenen Praxis gerade reproduzierte. Jürgen Habermas‘ Wort vom „linken Faschismus“, geäußert beim SDS-Kongress am 9. Juni 1967 in Hannover wenige Tage nach der Ermordung Benno Ohnesorgs, traf bezüglich des von den Wortführern der Bewegung geschaffenen dogmatisch-totalitären Duktus den Kern der Sache, auch wenn er die Wortwahl später bereute.4

„In der RAF konzentrierte sich die dunkle Seite von ‚68'; es war gleichsam die Kehrseite der Modernisierungsgewinne, die die Protestbewegungen der 1960er Jahren mit auf den Weg gebracht hatten.“

Man baute kaderartige Organisationsstrukturen auf und begann der „Masse“, die bloßes Objekt der eigenen Revolutionsphantasien wurde, in einer durchblickerhaften, intellektuell-aristokratischen Einstellung zu begegnen, die den eigenen Ansprüchen an eine demokratisierte Gesellschaft diametral entgegengesetzt war. In den sog. „Kommunen“ betrieb man, in Anschluss an Theoretiker wie Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und Marxismus verbanden, die geradezu zwanghaft wirkende Auflösung der angeblich unausweichlich „repressiven“ Kleinfamilie. In der Kinderladen-Bewegung wurden Kinder zur pädagogischen Verfügungsmasse für die Schaffung des „neuen Menschen“ und einer vollends „sexuell befreiten" Gesellschaft, die auch – in kleinen Teilen der Bewegung – die Unterschiede zwischen herangereiften Erwachsenen und Kindern einebnen wollte. Man denke etwa an Daniel Cohn-Bendits 1982 im französischen Fernsehen vorgetragene Schwärmereien zu einem Flirt mit einer Fünfjährigen.5

Die Führungsfiguren der dem eigenen Selbstverständnis nach „antiautoritären“ Bewegung wie Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, Karl-Dietrich Wolff oder Hans-Jürgen Krahl zielten auf nicht weniger als die Formung des ganzen Menschen und sämtlicher sozialer Verhältnisse ab. Damit ähnelte sich die Bewegung genau jenen Totalitarismen an, gegen die man sich – insbesondere in Gestalt des deutschen Faschismus und dessen personeller Fortwirkung in der neu gegründeten Bundesrepublik, insbesondere im Gerichtswesen – ursprünglich gewandt hatte. Der Umstand, dass prominente Anführer der „Antiautoritären“wie das ehemalige SDS-Vorstandsmitglied Bernd Rabehl oder das 1974 ausgeschlossene RAF-Mitglied Horst Mahler Ende der 1990er Jahre vom linksextremen ins rechtsextreme Lager wechselten, legt ein beredtes Zeugnis dafür ab, dass kleinen Teilen der Spitze der Bewegung eine flexible extremistische Haltung eingeschrieben war. Diese konnte ihre Inhalte wechseln; fest stand der Dogmatismus – womit dieser gefüllt wurde, schien von den kontingenten Umständen der Zeitläufe abzuhängen.

Mit nur ein wenig Zuspitzung lässt sich also sagen: Autoritäre Einstellungen bildeten, wie dies Götz Aly beschrieben hat, eine der Grundlage für den Anti-Autoritarismus von „68“. Eben diese autoritären Einstellungen verselbständigten sich im realitätsblinden Fanatismus von Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin, der 1968 mit den Brandanschlägen auf zwei Frankfurter Kaufhäuser seinen Anfang nahm und in der Entführung des damaligen Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer im Herbst 1977 durch das „Kommando Siegfried Hausner" gipfelte.

In der RAF konzentrierte sich die dunkle Seite von „68“; es war gleichsam die Kehrseite der Modernisierungsgewinne, die die Protestbewegungen der 1960er Jahren mit auf den Weg gebracht hatten: Eine weniger steifer zwischenmenschlicher Umgang, aufgelockerte Charakterstrukturen, ein offenerer Umgang mit Partnerschaft und Sexualität, eine größere Akzeptanz für Minderheiten und von der Mehrheitsgesellschaft abweichende Lebensformen, die Emanzipation von Frauen und Kindern aus patriarchalen Strukturen in Familie und Staat. Zudem trugen sie zur intensivierten Aufarbeitung der NS-Verbrechen bei.

Ein gehöriges Maß an Selbsttäuschung war „68“ allerdings eingeschrieben: Die Protestbewegungen beförderten nämlich in ihren Konsequenzen einen Liberalisierungsschub, der die Gesellschaft letztlich näher an ihre in der Epoche der Aufklärung entstandenen normativen Grundlagen der Bürgerlichkeit heranführte: Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Und dies, obwohl „68“ nichts mehr verhasst war als der Bürger, der seinen Freiheitssinn mit Werten wie Ordnungssinn und Verlässlichkeit verbindet. Aus der Abschaffung des Kapitalismus wurde es schon deshalb nichts, weil ein zentraler Wertkomplex der 68er, nämlich die ungehinderte ‚Spontanität‘ sozialer Beziehungen und die ‚Ausschöpfung menschlichen Potentials‘, sich in hohem Maße affin zu eben jener Verwertungslogik des Kapitals zeigte, die von den 68ern so wortgewaltig angeprangert wurde.

Woke Culture, 68 und die Postmoderne  

Karl Marx schrieb einmal, dass sich geschichtliche Ereignisse zuerst als Tragödie und dann als Farce ereigneten.6 Wenn die Schattenseiten und die unfreiwilligen Affirmationen des Bestehenden „68" zu einer tragischen Gestalt der Historie machen, so ist die Woke Culture die Farce, die auf dieser Tragödie aufruht. Der Woke Culture geht es um bestimmte Minderheiten und marginalisierte Gruppen wie People of Color, Homo- und Transsexuelle. Überall dort, wo sie Ansprüche an Gerechtigkeit nicht eingelöst sieht, zeigt sie sich „aufgeweckt", also „woke", und geißelt jeden, der vermeintlich oder real seine "Privilegien" auf Kosten "der Unterdrückten" verwirklicht.

Bei aller Rhetorik gegen liberale Bürgerlichkeit bestand die weltanschauliche Grundlage von „68" letztlich in einem Universalismus, in dem die für die Bewegung konstitutive Melange aus Anarchismus, Maoismus, Situationismus und der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule stets mit einer Prise kategorischem Imperativ überzuckert war. „68", das war geistig gesehen: Immanuel Kant, der die Internationale singt. Vom Universalismus möchte die Woke Culture – und das macht sie als Emanzipationsbewegung zur Farce – jedoch nichts mehr wissen: Schließlich sei es der „alte, weiße, heterosexuelle Cis-Mann" gewesen, der ausgerechnet mit seinem Anspruch auf die Universalisierbarkeit der eigenen Normen, mit seinem kapitalistischen Expansionsstreben und seiner angeblich wertfreien Wissenschaft, die als Legitimationsinstanz für alle möglichen Schandtaten diente, den Kolonialismus hervorbrachte, Frauen unterdrückte und alternative sexuelle Orientierung aus der Sphäre der von ihm bloß prätendierten „Normalität" ausschloss. Die Größen der Aufklärung und des Liberalismus wie Locke, Hume, Kant oder Mill werden deshalb heute von der Breite der Woke-Bewegung pauschal und undifferenziert als Rassisten verunglimpft. Schließlich bildete ihre Annahme, das Menschengeschlecht sei von einer unteilbaren Vernunft geprägt, angeblich nur den Vorwand, um vermeintlich „unvernünftige“ Menschen zu versklaven und die zu „emotionalen“ Frauen aus der entstehenden Sphäre kollektiver Mitbestimmung draußen zu halten.

Auch „Wissenschaftsleugnung" war in der postmodernen Wissenschaftstheorie schon lange en vogue: „In einer freien Gesellschaft sind Wissenschaft und Rationalismus eine bestimmte Tradition, deren freie Ausübung durch die Organe der freien Gesellschaft (allerdings nicht auf Kosten der freien Gesellschaft) garantiert wird. Heute haben die Wissenschaft und der Rationalismus die Macht, fremde Traditionen zu unterdrücken. Also muss die Macht des Staates […] gegen Rationalismus und Wissenschaft eingesetzt werden, um andere Traditionen zu schützen.“7 Diese Äußerung stammt nicht etwa von einem neurechten Esoteriker, sondern von Paul Feyerabend, einem der Säulenheiligen postmoderner Wissenschaftskritik. Wissenschaft macht in dieser Lesart „unfrei“, deshalb gehört die fundamentale Wissenschaftskritik zu einem Kernbestandteil weiter Teile der Gender- und der Rassismusforschung – auch wenn sich diese Fundamentalkritiker der Wissenschaft selbst Wissenschaftler nennen und auf die daraus ergebende „Deutungsmacht“ gerne zurückgreifen, wenn es darum geht, die eigenen politischen Präferenz in der Wissenschaft, den Medien, dem Kulturbetrieb und (zumeist den eher linksgerichteten) politischen Parteien zu platzieren und sie so zu einer „hegemonialen“ Diskursformation zu machen. Der italienische Marxist Antonio Gramsci lässt grüßen.

Gewiss, bei Weitem nicht alles an der postmodernen Kritik an Aufklärung und moderner Wissenschaft ist falsch. Es finden sich empörende Rassismen bei Kant und man darf auch die Bräsigkeit nervig finden, die das Gerede von der „Zivilisation" in manchem Text des großen Liberalen John Stuart Mill begleitet. Aber kein vom Kampf gegen falsche Pronomina infizierter Politikwissenschafts-Student hat plausibel darlegen können, worauf sich denn sonst der Kampf gegen Diskriminierung stützen soll, wenn nicht auf die Kernannahme des liberalen Universalismus, die darin besteht, dass es schlicht keine guten Gründe gibt, bestimmten Menschen willkürlich die Gleichheit vor dem Recht streitig zu machen. Wer die bürgerlichen Rechte als den Kern des Übels dieser Welt zu identifizieren meint, sägt genau an dem Ast, von dem er seine eigenen Forderungen nach mehr Gerechtigkeit in die Welt hinausposaunt.

„Die Woke Culture tief unter dem Einfluss des französischen poststrukturalistischen Denkens der 1970er Jahre.“

Dasselbe gilt für die fundamentale Wissenschaftskritik. Ja, Wissenschaftler haben in der Geschichte ihre Position als mächtige Experten benutzt, um die „rassische“ Überlegenheit von Weißen zu erklären oder Frauen für unweigerlich weniger intelligent als Männer.8 Und die Schandtaten der Phrenologie, die aus der Form eines Schädels die Intelligenz von Menschengruppen meinte ableiten zu können, gehören zu Recht in den Mülleimer der Wissenschaftsgeschichte.9 Aber allein der regulative, wenn auch nie vollends einlösbare Maßstab der objektiven Erkenntnis konnte diese Fehlurteile in einem langen Prozess von Versuch und Irrtum korrigieren. Gäbe man diesen regulativen Maßstab auf, bestünde Wissenschaft nur noch aus avancierten Machtspielen, die aufgrund ihres hohen gesellschaftlichen Ansehens dazu dienen, wieder andere Machtspiele anzuheizen. Genau dieser Weltanschauung allerdings folgt die Woke Culture. „Macht“ und „Differenz“ sind die Götter der Bewegung. Der Woke Culture zufolge

…zerfällt die Menschheit gleichsam in unterschiedliche identitäre Stämme, weil nur so der radikalen Vielfalt Rechnung getragen werden kann;

…sind Weltbilder unterschiedlicher Menschengruppen nicht nach den angeblich „repressiven“ Maßstäben von wahr und falsch miteinander zu vergleichen, weil nur so die Komplizenschaft der modernen Wissenschaft bei der Beherrschung „der Unterdrückten“ zu brechen sei;

…dürften sich Menschen nichts mehr kulturell voneinander „aneignen", weil damit schon der koloniale Mindset des weißen Mannes reproduziert würde;

…ist Geschlecht gänzlich, nach manchen Lesarten auch das biologische, eine „soziale Konstruktion", weil nur so der Imperativ, dass jeder mit der ihm eigenen Identifikation  selig werden können, einzulösen sei.

Mit diesem Denken steht die Woke Culture tief unter dem Einfluss des französischen poststrukturalistischen Denkens der 1970er Jahre, das sich in den sozialen Spannungen der 1960er Jahre, die sich in den Barrikaden-Kämpfen um den Mai 1968 entlud, herangereift war. Die Gegen-Aufklärung und die fundamentale Wissenschaftsskepsis – die schon in dem esoterischen, sich der Kritisierbarkeit entziehenden Jargon ihrer Proponenten zum Ausdruck kam – waren dem poststrukturalistischen Denken von Anbeginn eingeschrieben: „Alles ist Konstruktion", „Es gibt nur Deutungsmacht" und „Alles ist Kampf" sind die intellektuellen Kalendersprüche, die sich in den folgenden Jahrzehnten in jenen akademischen Sphären durchsetzen sollten, die tief von dem poststrukturalistischen Denken beeinflusst wurden: die Theorie des Postkolonialismus von Denkern wie Edward Said (einem späteren Kritiker Foucaults), Homi K. Bhabha – und vor allem – Gayatri Spivak sowie der Queer-Feminismus von Akademikerinnen wie Hélène Cixous, Luce Irigary, und – vor allem – Judith Butler. Auf Resonanz stieß dieses Denken, weil es eine plausible Erzählung für den in den 1960er Jahren einsetzenden Kampf um das abgab, was man in der marxistischen Theorie die „Nebenwidersprüche" genannt hatte. Nicht mehr der starre Gegensatz von „Arbeit versus Kapital" stand auf der Tagesordnung, sondern die Gesellschaft wurde gleichsam viel durchgreifender politisiert und in identitäre Gruppen einsortiert: Um Geschlechterverhältnisse ging es nun, um Hautfarben, um Spielarten von Sexualität, um die Ansprüche kolonisierter Völker.

Foucault als Prophet der Woke Culture

Um diese Kämpfe voranzutreiben und auszufechten, schien das poststrukturalistische Denken eine überaus attraktive Waffe zu sein: Jaques Derrida und Michel Foucault, die beiden Propheten der Postmoderne, lösten die Welt auf in angeblich beliebig veränderbare, zu „dekonstruierende" Zeichensysteme sowie einander permanent feindlich gegenüberstehende kleinräumige Machtformationen. Mit Derrida und Foucault im Rücken schien nun buchstäblich alles veränderbar, und jede Veränderung konnte, genug Machtakkumulation vorausgesetzt, auch erreicht werden. Von einem common ground, der die Gesellschaft zusammenhält, geschweige denn einer universell geteilten Vernunft, die noch in der „Vielfalt ihrer Stimmen“ (Habermas) eine prekäre Einheit bewahrt, wollte man nichts mehr wissen.

Radikale Wissenschaftskritik glitt in manifest totalitäre Denkmuster ab: Foucault, der in den USA und Europa die Sozialwissenschaften wie kaum ein zweiter Intellektueller prägen sollte, vertrat die Auffassung, dass Macht und Wissen identisch seien, man also keinen Punkt außerhalb von allgegenwärtigen Machtspielen, in denen nicht ihrerseits Machtansprüche artikuliert werden, beziehen könne. Foucault ging in seinem berühmten Buch „Überwachen und Strafen“ (1975) davon aus, „dass Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.“10 Macht und Wissen bildeten, so Foucault, einen „Nexus“11, der durch seine „Unlöslichkeit“12 gekennzeichnet sei.

Und genau diese Allgegenwärtigkeit und Ausschließlichkeit von Machtverhältnissen treffe, so Foucault konsequenterweise, auch auf seine eigenen politisch-wissenschaftlichen Interventionen zu: „Mein Diskurs ist selbstverständlich der Diskurs eines Intellektuellen und funktioniert als solcher in den bestehenden Machtnetzen.“13 Für Foucault gibt es nichts und niemanden, der daran mitwirken könnte, partikulare Standpunkte in der Gesellschaft zu übergreifen und im Hinblick auf die Vorstellung eines Gemeinwohls oder gar einer gemeinsam geteilten Vernunft zu umfassen.

Genau diese Lehre bildet die Blaupause für die identitären und machtfixierten Positionen der heutigen Woke Culture. Foucault entlehnte seine Vorstellung der Ausschließlichkeit von Machtverhältnissen von Friedrich Nietzsche, dem Übervater der Postmoderne, dessen utopischer Fluchtpunkt – den Foucault freilich an keiner Stelle teilte – in einem rassebasierten Kastenstaat bestand14, der dem „Übermenschen" wieder den Raum der Entfaltung zukommen lassen sollte, der ihm gegenüber den von den Gleichheitsbestrebungen seit der Aufklärung verdorbenen „Herdenmenschen" zukam. Nietzsche hat mit dieser Vision eine auch mögliche Variante von „Identitätspolitik“ avant la lettre konsequent zu Ende gedacht.

„Wenn die Woke Culture den weißen Cis-Mann kritisiert, dann liegt dem das totalitäre Denkmuster der Lehre Foucaults zugrunde.“

Foucault, der in seiner eigenen politischen Praxis linke und linksliberale Positionen vertrat15, folgte mit seiner These von der Identität von Macht und Wissen also einer Auffassung, die einen wesentlichen Bestandteil totalitären und faschistoiden Denkens ausmacht. Hitler etwa lehnte die Relativitätstheorie in der Physik entschieden ab; allerdings nicht deshalb, weil sie nach objektiven Maßstäben möglicherweise widerlegt worden wäre, sondern sie musste aus der Sicht der Nazis falsch sein, weil ihr Begründer Albert Einstein Jude war. Deshalb gab es im Nationalsozialismus eine „arische Physik“. Stalin verwarf die Mendelsche Vererbungslehre, da man im Sowjet-Marxismus allein (stets änderbare) Umwelteinflüsse selbst in der Pflanzenwelt anerkennen sollte. Stalin förderte deshalb den Agrarwissenschaftler Trofim Lyssenko, der die Theorie vertrat, dass Gene bei der Ausprägung der Eigenschaften von Pflanzen keine Rolle spielten. Diese falsche Annahme hatte gravierende Auswirkungen, denn sie führte in der Agrarindustrie zu Ernteeinbußen und Hungersnöten.

In beiden Fällen galt das Prinzip, das Foucault wenige Jahrzehnte später in den Kreisen der postmodernen Linken populär machte, um seine politischen Kämpfe zu rechtfertigen: Das Wissen von der Welt sollte in der Macht des jeweiligen Akteurs aufgehen, die Welt nach seinem Gusto einzurichten. Wenn eine Weltauffassung von der politisch „falschen“ Seite kam oder einer existierenden Doktrin widersprach, hatte sie zugleich auch unwahr zu sein. Genau das lehrte auch Foucault: Zwischen Macht und Wissen können wir nicht unterscheiden. Jedes Wissen geht mit einem Machtanspruch einher, und jedes Machtstreben ruht auf Wissen auf. Wenn also die Woke Culture den weißen Cis-Mann kritisiert, dann liegt dem das totalitäre Denkmuster der Lehre Foucaults zugrunde: Der weiße, heterosexuelle Standpunkt ist falsch, also können die Äußerungen von Personen, die ihre Weltsicht aus dieser Perspektive formulieren, nicht richtig sein.

Damit immunisieren sich gesellschaftliche Debattenformationen gegeneinander; jeder Verständigungsversuch wird unmöglich gemacht: Egal, was weiße, heterosexuelle Männer sagen, es wird unter dem Blickpunkt interpretiert, sie verteidigten – natürlich zur Not auch unbewusst – ihre „Privilegien“, hätten also ein latentes Interesse daran, neo-koloniale Zustände, die Unterdrückung Menschen nicht-weißer Hautfarbe und das Patriarchat zu verteidigen. Je mehr „gute“ Merkmale hingegen eine Person hat – wenn also etwa eine weiße Frau, die als Weiße „unterdrückt“, aber als Frau „unterdrückt wird“ –, desto höher muss auch der Wahrheitsgehalt ihrer Weltsicht sein. Die größte epistemische Glaubwürdigkeit dürfen dann wohl schwarze, körperlich eingeschränkte Transsexuelle aus einem Land des sogenannten globalen Südens  genießen, denn sie müssen schließlich den höchsten Grad an Unterdrückung ertragen.

Auch diese völlig unsinnige Auffassung ist aus einer breit rezipierten akademischen Theorie, namentlich der von Donna Haraway, hervorgegangen. „Es gibt gute Gründe für die Überzeugung, dass die Sicht von unten besser ist als die von den strahlenden Weltraumplattform der Mächtigen herab“16, führt die fest in der Postmoderne verwurzelte Feministin Haraway aus. „Die Unterworfenen“ hingegen hätten, so Haraway weiter, „eine passable Chance, dem göttlichen Trick mit seinen blendenden – und deshalb blindmachenden – Illuminationen auf die Schliche zu kommen.“17 Die Unterdrückten sind in der Standpunkt-Theorie die neuen allwissenden, allgütigen Götter, ihnen darf prinzipiell nicht widersprochen werden und wer es dennoch tut – der sündigt.

„Foucault legte mit einer Theorie, die man besser als eine Form des Aktivismus bezeichnet, den Grundstein für eine ‚kritische‘ Wissenschaftsauffassung, die es für legitim hält, die politischen Meinungen der Forscher qua ‚Deutungsmacht‘ der Gesellschaft zu oktroyieren.“

Foucault, dessen Macht/Wissen-Theorie die Blaupause für die heute vertretene „Standpunkt“-Theorie bildet, hatte Nietzsches Lehre vom „Willen zur Macht" in mehreren Jahrzehnten Nietzsche-Lektüre in sich aufgesogen. Er folgt mit seiner Theorie der kleinräumigen Machtformationen, die sich in einem permanenten, nie entscheidbaren Widerstreit befinden, formal dieser Auffassung, entband sie jedoch von der für den Faschismus typischen „Bündelung" der Macht (= fascio) in einer zentralisierten Instanz, typischerweise einem Führer und seinem jeden Winkel der Gesellschaft durchdringenden Herrschaftsapparat. Foucault parzellierte die Machtquanten gleichsam so, dass nun ein jeder mit jedem im fortwährenden Kampf stand: „Wer kämpft gegen wen?", fragte er einmal und er gab sogleich die Antwort: „Wir kämpfen alle gegen alle. Und es gibt stets etwas in uns, das gegen etwas anderes in uns kämpft."18

Foucault wollte selbst mit seinen Theorien des Wahnsinns, des Gefängnisses, der Sexualität die Welt nicht adäquat beschreiben und erklären, sondern durch eine bewusst verzerrte Darstellung der Realität eine neue Wirklichkeit schaffen, die uns nun – mit der Woke Culture – langsam vor Augen zu treten beginnt. So sagte er über sein berühmtes Buch „Wahnsinn und Gesellschaft“ (1961) im Jahr 1979 rückblickend: „Was ich damals gemacht habe, ist aus historischer Sicht gewiss voreingenommen und übertrieben. Das weiß ich sehr wohl. Vielleicht habe ich einige Elemente übersehen, die meinen Aussagen widersprechen. Aber mein Buch hat die Wahrnehmung des Wahnsinns bei den Menschen verändert. Darum besitzt das Buch samt der darin entwickelten These in der heutigen Realität eine gewisse Wahrheit.“19 Diese Haltung entspricht exakt dem oben aufgewiesenen Muster totalitären Denkens: Man schafft qua Deutungsmacht jene von einem selbst für politisch richtig empfundene Realität, an die Menschen dann schon glauben, wenn sie ihnen nur von einflussreichen Personen für „richtig“ verkauft wird.

Bei einer Prägung der Woke Culture durch eine derart zynische, anti-aufklärerische Weltanschauung wundert sich noch irgendjemand, dass hier der Fanatismus regiert und eine Kultur des Meinungsausschlusses, subtilste Sprachregelungen (Gendern, mit obligatorischem Knacklaut) und peinlichst zu beachtende Sprechverbote („Indianer“, „Eskimo“) um sich greifen? Foucault legte mit einer Theorie, die man besser als eine Form des Aktivismus bezeichnet, den Grundstein für eine „kritische" Wissenschaftsauffassung, die es für legitim hält, die politischen Meinungen der Forscher qua „Deutungsmacht" der Gesellschaft zu oktroyieren.

Die Woke Culture ist das nachgelagerte Resultat dieser Deutungsmacht akademischer Eliten in Teilen der Sozial-, Geistes- und Literaturwissenschaften, die in den USA und Europa bereits seit Jahrzehnten das Wissenschaftssystem dazu missbrauchen, um ihre politischen Privatauffassungen – die sie, um mit Max Weber zu sprechen, als Bürger selbstverständlich vertreten und in den liberalen Wettstreit der Meinungen einbringen können – unter dem Deckmäntelchen der Wissenschaftlichkeit vor Kritik abzuschirmen. Ausgerechnet die wissenschaftsaktivistischen Strömungen, die das Etikett der „Kritik“ vor sich herschieben, wirken am nachhaltigsten daran mit, genau jene Atmosphäre offener und freier Diskurse zu unterbinden, in denen ein „hinterfragendes“ Weltverhältnis seinen Platz hat. Eine der Paradoxien des postmodernen Wissenschaftsmissbrauchs besteht darin, dass er ausgerechnet jene fundamentale Wissenschaftsskepsis genährt hat, auf der bestimmte Rechtspopulisten aufbauen, wenn sie von „alternativen Fakten“ sprechen.

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