06.10.2023

Linksextreme Gewalt und Woke Culture (Teil 2/2)

Von Christian Zeller

Der Hass auf den „weißen Cis-Mann“ kann in kriminelle Gewalt umschlagen. Zu den geistigen Ahnen dieses postmodernen Denkens und Handels gehören Derrida, Butler & Co.

Jacques Derrida, neben Michel Foucault der zweite Prophet der Woke Culture, lehnte auf eine nicht minder radikale Weise den Universalismus ab. Derrida war der heideggerianisch inspirierte Schwärmer eines messianisch infizierten poststrukturalistischen Denkens1, der in seiner akademischen Praxis ein ausgeprägtes Freund-Feind-Denken pflegte, und „totale Zustimmung"2 (so sein enger Weggefährte Bernard Pautrat) von seinen Gefolgsleuten verlangte; er vertrat die Position, dass die aufklärerische Idee einer universellen Vernunft „phallogozentrisch", also von einem angeblich männlich konnotierten Logos geprägt sei.

Derridas „Dekonstruktion“ zielt darauf ab, eingeschliffene Unterscheidungen der philosophischen Tradition wie Mensch und Tier, Mythos und Logos, Rede und Schrift, Wirklichkeit und Abbild, Original und Kopie in Frage zu stellen und zu „erschüttern". Auch wenn Derrida mit der Dekonstruktion theoretisch eher idealistisch gelagerte Akzente setzte, war sie für die Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er Jahre ebenso attraktiv wie die machtfixierte Machtkritik Foucaults. Sie ermöglichte es, die marxistische Kritik an wirtschaftlichen Unterdrückungs- und Klassenverhältnissen auf andere soziale Beziehungen auszudehnen, und zwar auf genau jene, die sich ‚quer‘ zu den herrschenden Schemata der Gesellschaft befanden. Also etwa zu der Differenz zwischen Mann und Frau, zwischen Homosexualität und Heterosexualität, zwischen weißen und schwarzen Menschen. Derrida legte damit in den späten 1960er und 1970er Jahren das Fundament für eine neue Spielart des (Queer-)Feminismus, der von Körperverhältnissen nichts mehr wissen wollte, sondern (sexuelle) Identitäten in ein bloßes Spiel der Zeichen überführte.

Gender und Postkolonialismus

Judith Butler, Hohepriesterin des Queer-Feminismus, ist die heute wohl einflussreichste Erbin eines Denkens, das alle realen Verhältnisse im Dunst allgegenwärtig gewordener Zeichenrelationen auflöst. Und sie pflegt die aus ihrer weltweit beachteten akademischen Karriere sich ergebende Deutungsmacht, um diese Symbolwelten in ihrem politischen Sinne zu formen – mit einem kaum noch steigerbaren Erfolg, wie man mittlerweile erkennen kann. Derridas Figur der „Dekonstruktion" sickerte aber nicht nur in die „Gender"-Debatten ein, sondern erstreckte sich weit in die Thematik der Dekolonisierung und seiner Nachwirkungen hinein.

Die indische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak wurde, nachdem sie durch ihre Übersetzung von Derridas „Grammatologie" (1967) in die englische Sprache, maßgeblich dazu beigetragen hatte, die Dekonstruktion in den USA zu verbreiten, zur Ikone der postkolonialen Theorie. Das von ihr vertretene normative Prinzip, die Stimmen der Unterdrückten und Entrechteten als solche hörbar zu machen anstatt sie nur durch vermeintlich überlegenere Sprecher zu repräsentieren, befindet sich ebenfalls auf der Schiene eines aufgeklärten, an der Freiheit des Einzelnen orientierten Universalismus, der allerdings von sich selbst nichts wissen will.

„Es handelt sich um ein Denken, das alles als relativ behauptet, außer die Moral desjenigen, der diese Relativität behauptet; um ein Denken, das Nicht-Normalität zur neuen Normalität machen möchte.“

Wenn die woke Gemeinde heute dem weißen Cis-Mann attestiert, qua Hautfarbe am Kolonialismus schuld zu sein und den angeblich allgegenwärtigen „strukturellen Rassismus“ westlicher Industrienationen aufrechtzuerhalten, dann ist das eine nur leicht verflachte und politisch zugespitzte Variante dessen, was die Theorien des Postkolonialismus lehren: Differenzierungsversuche zu politisch aufgeladenen Themenkomplexen wie dem Kolonialismus, der Sklaverei und dem nach wie vor bestehenden skandalösen ökonomischen Gefälle zwischen reichen Industrienationen und einem globalen Süden, der als Rohstofflager der reichen Nationen herhalten muss, gelten hier schnell mit Spivak als „epistemische Gewalt“, mit der man selbstredend die Dominanz des Westens – ein sagenhaft homogenisierendes Denken erhält hier akademische Weihen – verteidigt. Zielsicher diffamiert wird jeder, der nicht die These vom angeblich in den Verfassungen westlicher Industrienationen liegenden Rassismus pflichtschuldig anerkennt und so der „identitätslinken Läuterungsagenda“3 zackig Folge leistet. Im woken Postkolonialismus gibt es nur „die Unterdrückten“ und „die Privilegierten“, und freilich gilt vor dem Hintergrund solcher Dichotomien das aus der Bibel bekannte Dogma: „Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich.“ (Matthäus 12,30).

Die „angewandte Postmoderne" (Pluckrose/Lindsay) ist mit ihren zahllosen Widersprüchlichkeiten, Inkonsistenzen und Proto-Extremismen zu einem ausgeprägten intellektuellen Geduldsspiel geworden, das die Gesellschaft – nun da sich die Zahl derjenigen, die sich explizit oder implizit auf ihre Auffassungen beruft, eine kritische Masse erreicht hat – in das einübt, was jedes totalitäre System zuerst seinen Untertanen einzupflanzen versucht: die kritiklose Akzeptanz von Willkür. Das poststrukturalistische Denken verwirklicht die liberalen Ansprüche an Gleichachtung und Gleichberechtigung für jedermann auf der Grundlage einer Weltanschauung, die keinen Unterschied zwischen Macht und Wahrheit mehr anerkennt, und sich so jedes kritischen Maßstabs beraubt, um Unsinn oder Unrecht überhaupt noch von seinem Gegenteil unterscheiden zu können. Es handelt sich um ein Denken, das alles als relativ behauptet, außer die Moral desjenigen, der diese Relativität behauptet; um ein Denken, das Nicht-Normalität zur neuen Normalität machen möchte; um ein Denken, das radikale Differenzen zwischen Menschengruppen zum epistemologischen Normalfall und Verständigung für unmöglich hält; und um ein Denken, das Identitäten für völlig variabel erklärt, sie aber gleichzeitig sakrosankt setzt.

Linke Identitätspolitik und Gewaltphantasien

Der postmoderne Sozialaktivismus sendet fortwährend Botschaften in die Welt, die auf so skurrile Weise widersprüchlich sind, dass Gesellschaften, die diesen Botschaften längere Zeit ausgesetzt sind, aus dem Gleichgewicht geraten müssen. Ein machtfixierter Differenzessentialismus bildet in der Woke Culture den Kern der Abkehr vom linken Universalismus der 68er. Der postmoderne Sozialaktivismus, der mit der Woke-Bewegung nun seine akademischen Sonderwelten sichtbar und öffentlichkeitswirksam zu überschreiten beginnt, beschädigt massiv die kommunikative Integrität der Gesellschaft, und vor diesem Hintergrund stellt sich drängend die Frage, ob diese Beschädigung gesellschaftlicher Verständigungsverhältnisse auch ins Gewaltförmige ausgreifen wird.

Dass es bereits innerhalb der woken Gemeinde zu Abwertungs- und Gewaltphantasien kommt, vermag bei unverstelltem Blick auf die Zeitläufe nicht zu verwundern, wird aber so gut wie nicht medial thematisiert. Bereits der Umstand, dass – und zwar in genau dieser Pauschalität – „der alte weiße, heterosexuelle Cis-Mann“ überhaupt zu einem so prominent markierten Feindbild im postmodern-sozialaktivistischen Milieu aufsteigen konnte, lässt eine höchst bedenkliche Tendenz innerhalb der Woke Culture erkennen: ein höchst stereotypisiertes Freund-Feind-Denken nämlich. Jonathan Haid und Greg Lukianoff haben dies in ihrem 2018 erschienen Buch „The Coddling of the American Mind“ eindringlich herausgearbeitet. Es handelt sich hierbei um eine gruppenbezogene Abwertungspraxis, die das Einfallstor für weiterreichende Abwertungen, auch gewaltförmiger Natur, bilden kann.

Dass dieses Einfallstor bereits einen Spalt offen ist, ist daran zu erkennen, dass Tötungsaufforderung, die sich auf Männer allein aufgrund ihres Geschlechts richten, faktisch keinerlei Skandalisierungspotential in einer ansonsten überaus leicht auf moralische Reize reagierende, digitalisierte Medienlandschaft enthalten. Mit dem Spruch „Kill all men“ kann man auf einer Demonstration zum Weltfrauentag problemlos mitziehen.4 Zwar würden sich wohl die allerwenigsten Personen eine derartige Formulierung wirklich zu eigen machen, allerdings löst sie auch nicht die üblichen Distanzierungsaufforderungen aus, die eintreten, falls in einer Friedensdemo mit zig-tausend Leuten ein Grüppchen Rechtsradikaler mitmarschiert. Man vergleiche die (völlig berechtigte) Empörung, die entstünde, man würde auf einer pro-palästinensischen Demo das Plakat „Kill all jews" oder auf einer Männerrechtsdemo den Satz „Kill all women" vernehmen.

Im Feminismus unserer Gegenwart scheint es also ein analoges Problem mit der Abgrenzung zu radikalen Flügeln zu geben, wie dies etwa bei Männerrechtsgruppierungen bezüglich gewaltaffiner Maskulinisten5 zu beobachten ist. „Kill all men" ist bereits höchst ‚sagbar‘, und schon diese Normalisierung schier ungeheuerlicher Äußerungen legt den Umstand frei, dass hier das Potential für das Übergreifen in für legitim gehaltene physische Gewalt im Entstehen begriffen ist. Gewiss, Gewalt gegen Männer ist derzeit ein eher untergeordnetes Problem in der Gesellschaft; im Gegensatz zur Gewalt gegen Frauen oder ihrer Ausbeutung als Sexualobjekte.

„Warum die Gewalt gegen die einen jedoch die pauschalisierte Abwertung der anderen rechtfertigen sollte, vermag einfach nicht einzuleuchten.“

Warum die Gewalt gegen die einen jedoch die pauschalisierte Abwertung der anderen rechtfertigen sollte, vermag einfach nicht einzuleuchten. Eben so wenig wie „Kill all men“ stellt es in der gegenwärtigen Debattenlandschaft einen Aufreger dar, wenn Männer pauschal als „Müll“ bezeichnet und damit aufgrund ihres Geschlechts massiv verbal diskriminiert werden. An den Tag gelegt wird hier eine atemberaubende Rhetorik der Verachtung, die dem eigenen Selbstverständnis nach darauf abzielt, für eine im linksliberalen Sinne gerechte Gesellschaft einzutreten. Als Alexander Gauland im Jahr 2018 die damalige Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz „in Anatolien entsorgt“ wissen wollte, ergoss sich zurecht ein Aufschrei durch die Republik. Warum nur ist es so leise, wenn man sich als Feministin öffentlich gut vernehmbar eines analogen Jargons bedient? In der rassismus- und patriarchatskritischen taz werden derartige Einlassungen allenfalls unter der geradezu niedlichen Frage „Doch ist es okay, alle Männer als Abfall zu bezeichnen?“ diskutiert. Man stelle sich einmal vor, ein rechts-konservatives Blatt würde zwei Journalisten unter der Überschrift „Doch ist es okay, alle Muslime (wahlweise: Frauen, Transpersonen, Ausländer) als Abfall zu bezeichnen?“ zu einer Pro-/Contra-Diskussion antreten lassen. Bei Männern, noch dazu bei weißen Männern, scheint dies jedoch eine lässliche Verfehlung zu sein, weil ja der weiße Mann an sich die Speerspitze der „Mehrheitsgesellschaft" bildet, die angeblich für die Unterdrückung von Schwarzen, Transmenschen, Homosexuellen und Frauen verantwortlich ist.

In den USA, dem Land also, in dem sich auch wegen des dort herrschenden Zweiparteiensystems die Polarisierungsspirale zwischen der Woke Culture und dem Rechtspopulismus in Gestalt des Trumpismus am weitesten hochgeschraubt hat, schreckt man in einer solchen Diskursatmosphäre selbst vor Anspielungen auf eugenische Säuberungsaktionen nicht mehr zurück. Auf einer Pro-Choice-Protestkundgebung vor dem Gebäude des Supreme-Courts im Mai 2022 war auf einem der in die Luft gehaltenen Banner zu lesen: „Rettet den Fötus, das Kind, wenn es nicht weiß, nicht männlich, nicht christlich geboren ist.“6

Ein Argument gegen die These, die totalitären Tendenzen der Woke Culture könnten irgendwann in manifeste Gewalt gegen weiße Cis-Männer umschlagen, drängt sich auf: Weiße Männer sind ja, insbesondere in westlichen Industriegesellschaften, in dieser Allgemeinheit schlecht als Gruppe adressierbar. In weißen Männern überschneiden sich viele andere Identitätsmerkmale, es gibt also etwa reiche, arme, heterosexuelle oder homosexuelle weiße Männer mit sehr unterschiedlichen Mindsets, in den unterschiedlichsten Berufsfeldern und in den unterschiedlichsten sozialen Milieus. Dieser Umstand führt dazu, dass man besonders verwerfliche Unterpopulationen des weißen Cis-Mannes selektieren muss, um gegen ihn als gewaltförmig in seine Schranken zu weisenden Sündenbock agitieren zu können.

Die Figur des Neo-Nazis, auf den es die „Hammerbande“ abgesehen hatte, erfüllt diesbezüglich alle Anforderungen: Er lebt, von seinen normativen Ansprüchen her gesehen, außerhalb der Verfassungsordnung liberal-demokratischer Gesellschaften, die er durch eine „rassisch“ gegliederte Gesellschaft ersetzen möchte; er weist selbst eine überaus hohe Gewaltneigung auf, zumeist auch noch gegen Schwache und Minderheiten, deren Schutzbedürftigkeit bei Nicht-Nazis einen nachvollziehbaren Beschützerinstinkt weckt; er verstößt in mannigfaltiger Weise gegen das Prinzip der Gleichberechtigung, tritt ein für höchst traditionale Geschlechtervorstellungen, gegenüber denen unsere moderne Ordnung zurecht skeptisch geworden ist; und er ist auch noch ein manifester Anti-Demokrat und möchte den Grundsatz, dass alle gleichberechtigt mitbestimmen können sollen, durch ein extrem antiquiert wirkendes Führer-Prinzip ersetzt wissen.

„Ein pauschalisierenderes Denken ist kaum vorstellbar: Nur der weiße Mann kann Täter sein.“

In schwachen Momenten könnte man sich deshalb sogar fragen: Verdient der Neo-Nazi überhaupt den Schutz des Rechtsstaates, den er selbst zu untergraben versucht? Die Antwort muss natürlich lauten: Selbstverständlich. Denn wenn jedes Menschenleben gleich zählt und genau dies die Grundlage unserer Ordnung bildet, dann gilt die körperliche Unversehrtheit eben auch für Neo-Nazis – in einem funktionierenden Rechtstaat verstehen Gerichte das ohne weiteres. Der Umstand allerdings, dass der Neo-Nazi in jeder nur erdenklichen Hinsicht unser abzulehnender „Anderer“ ist, macht ihn zum perfekten Objekt eines von den Einflüssen der Woke Culture überdeterminierten Linksextremismus, der zu seinen angestammten, in sich freilich höchst differenten und auch selten konsistenten weltanschaulichen Grundlagen aus Marxismus, Anarchismus und Polizeikritik nun auch den mit totalitären Denkmustern durchsetzten postmodernen Diskurs um Hautfarbe, Geschlechtlichkeit und Sexualität in sich aufgesogen hat.

Die Kehrseite der Gewaltphantasien gegenüber „dem weißen Mann“, die sich in kleinen Teilen der woken Bewegung bemerkbar machen, ist der Umstand, dass „die Unterdrückten“ von Schandtaten prinzipiell reingewaschen werden, weil sie per se als Opfer des westlichen Rassismus gelten. Die in den letzten Jahrzehnten importierte Homosexuellen- und Transfeindlichkeit, wird ausgerechnet von Kreisen, die sich für die Rechte jener Minderheiten stark machen, lautstark beschwiegen. Dasselbe gilt für die Zustände in manchen großstädtischen Schwimmbädern, in denen einige muslimische junge Männer ein striktes Regiment führen, um ihre traditionalen Regeln gegenüber Frauen sowie Homo- und Transsexuellen durchzusetzen. Der Ausdruck „strukturelle Gewalt“ wäre hier in manchen Fällen durchaus angemessen. Aber wer diese Art von Gewalt anspricht, beteiligt sich, natürlich, an einer „rassistischen Diskussion“. Ein pauschalisierenderes Denken ist kaum vorstellbar: Nur der weiße Mann kann Täter sein.

Weiße Menschen (auch Frauen) werden in diesem windschiefen Gedankengebäude sogar dann als potentielle Täter im Rahmen kolonialer Strukturen beäugt, wenn sie als Nachgeborene kolonialen Unrechts überhaupt keine sein können. Aus einer Kolonialismus-Ausstellung im Ruhrgebiet werden am Samstag, so ist zu vernehmen, Menschen mit weißer Hautfarbe vom Besuch ausgeschlossen, da ein „Safer Space“ für Schwarze, Farbige und Indigene geschaffen werden soll. Dies ist nichts anderes als die Reproduktion der Logik kolonialer Apartheid im Namen ihrer Überwindung. Derartiges folgt mit drängender Notwendigkeit aus der manichäische Weltsicht des postmodernen Antirassismus. Dass sich in dieser weltanschaulichen Gemengelage einmal auch Gewaltphantasien an den weißen Mann anheften würden, ist ein sozialpsychologischer Abzählreim.

Fazit

Ein näherer Blick auf die Weltanschauung der Woke Culture, die gegenwärtig die zentrale Basis für Forderungen nach Gleichachtung und Gleichberechtigung marginalisierter Personen darstellt, legt ihr Potential zur Beförderung extremistischer Einstellungen und Praktiken frei. Zudem finden sich empirische Indikatoren, die dafür sprechen, dass sich dieses Potential in derzeit noch kleinen, aber merklich wahrnehmbaren Dosen in der sozialen Realität bereits ausformt. Die Praxis wächst hier also bereits der Theorie in kleinen Schritten nach.

Anhand der dargestellten strukturellen Analogien zwischen der 68er-Bewegung und der RAF einerseits sowie der Woke Culture und dem sich radikalisierenden Linksextremismus andererseits, ergeben sich Hinweise auf ein weiteres Radikalisierungspotential im linksextremen Milieu. Der qualitative Sprung von der Gewalt gegen Sachen hin zur systematischen Gewalt gegen Personen in der Gruppe um die 28 Jahre alte, ehemalige Sozialpädagogik-Studentin Lina E. und ihre drei überwiegend gleichaltrigen Mitangeklagten könnte – dies legt die strukturelle Analogie nahe – bereits eine Folge dieses Radikalisierungsprozesses sein. Dieser zeigt sich auch in einer Reihe weiterer linksextremistischer Attacken gegen Rechtsextreme oder vermeintlich Rechtsextreme, insbesondere in Thüringen.

Wenngleich in der Breite der Woke-Bewegung die aggressivsten Handlungen wohl das Protestgeschrei wegen „unsagbarer“ Äußerungen bleiben werden, so stellt sie mit den extremismusaffinen Theorieversatzstücken, aus denen sie sich eben auch speist, einen zusätzlichen Nährboden dar, auf dem sich eine zur gewalttätigen Militanz neigende linksextreme Avantgarde erheben kann, die das Freund-Feind-Denken so weit übersteigert, dass auch physische Attacken auf „Feinde“ (Neo-Nazis, aber auch weiterhin Polizisten) subjektiv als höchst legitim, ja gar als geboten für die Durchsetzung der guten Sache erscheinen. Während man in der Breite der Woke-Bewegung dem „weißen, heterosexellen Cis-Mann" auf seinerseits aggressive Weise seine vorgeblichen „Mikroaggressionen" vorhält und sich für legitimiert hält, den Austausch von Argumenten zugunsten der Errichtung einer Kultur des Meinungsausschlusses auf inflationäre Weise zu beschneiden, um die von ihm angeblich beförderte „Dominanzkultur“ zurechtzurücken, setzt die gewaltaffine Avantgarde des Linksextremismus wieder vermehrt auf die gezielte physische Verletzung der politischen Gegner.

Damit mehren sich die Anzeichen, dass sich der zunehmend sich auch gegen Personen richtende Linksextremismus zur Woke Culture wie die RAF zu den Protestbewegungen um „68“ verhält. Es spricht einiges dafür, dass es sich bei dem neuen Linksextremismus um die gewaltbereite Vorhut einer ihrerseits mit extremismusaffinem Gedankengut liebäugelnden Woke Culture handelt. Diese wurde von den intellektuellen Propheten postmoderner Geistes- und Sozialwissenschaften mit Versatzstücken totalitären Denkens versorgt, die wiederum, so dürfen wir angesichts des Alters und des Bildungshintergrunds der Angeklagten annehmen, in die linksextreme Szene eingesickert ist. Politisch überaus fragwürdige Einstellungen wie „Vernunft ist ein Mittel der Unterdrückung“ und „Weiße sind als Weiße für das Unrecht der Welt verantwortlich“ sowie fundamental wissenschaftsskeptische Einstellungen, die die Normalwissenschaften pauschal zum Komplizen einer angeblich allgegenwärtigen Unterdrückung von Minderheiten erklären, sind heute in der Woke Culture überaus sag- und denkbar. In Teilen der Geistes- und Sozialwissenschaften gelten derartige Thesen – in einer freilich differenzierteren, akademisch konnotierten Aufmachung – geradezu als Ausweis „kritischen" und „progressiven“ Denkens.

„Es ist höchste Zeit, sektenhafte und doktrinäre Denkmuster in der Woke Culture einschließlich der akademischen Theorien, die sie unterfüttern, einer gründlichen Aufarbeitung zu unterziehen.“

Insofern birgt die Woke Culture ein noch höheres Radikalisierungspotential als die Protestbewegungen der 1960er Jahre. Letzterer waren zwar Dogmatismen alles andere als fremd, sie ließ aber wegen der in ihr auch vertretenen universalistischen Positionen die Überwindung eines Freund-Feind-Denkens zugunsten eines Bonum commune grundsätzlich plausibel erscheinen. Die gelungene Integration radikaler 68er wie Joschka Fischer, der 1973 einen Polizisten niedergeschlagen hat, oder Daniel Cohn-Bendit, der sexuellen Verkehr mit Kindern verharmloste, in die politischen Kreisläufe liberaler Demokratien, legt hiervon Zeugnis ab.

Demgegenüber wird in der Woke Culture der Glaube an die radikale Differenz verschiedener identitärer Gruppen gepflegt und der Ausschließlichkeit und Unüberwindbarkeit von Machtverhältnissen das Wort geredet. Ihren Ursprung haben derartige Positionen in der Regel in einem ehrfurchtserbietenden intellektuellen Jargon, der die kaum kritisierbare Denkgrundlage für sozialwissenschaftliche Seminare in Teilbereichen der Gender Studies,des Postkolonialismus oder der Critical Race Theory bilden.

Es ist somit höchste Zeit, sektenhafte und doktrinäre Denkmuster in der Woke Culture einschließlich der akademischen Theorien, die sie unterfüttern, einer gründlichen Aufarbeitung zu unterziehen, um einem weiteren Anheizen der Lagerbildungsspirale vorzubeugen. Die bereits erfolgte Aufarbeitung von „68" gäbe der Gesellschaft die Möglichkeit, einen Lernprozess abzukürzen, der schon durchlaufen wurde, nämlich auf die tiefen Ambivalenzen der eigene Fortschrittsbestrebungen zu reflektieren, um so deren „dialektischen“ Umschlag in Repression zu vermeiden oder wenigstens abzuschwächen. Geschieht dies nicht, werden sich bestehende Radikalisierungstendenzen im Linksextremismus weiter verstärken und in eine zunehmende Polarisierungsdynamik mit dem Rechtextremismus – einschließlich seiner Ableger in der Selbstverwalter- und Reichsbürgerszene – treten. Dass beide Bewegungen in einer fatalen Synergiewirkung zunehmend die Fundamente liberaler Demokratien unterspülen, kann niemand wollen, der der Auffassung ist, dass sich in modernen Gesellschaften auch die Idee eines stets prekären Fortschritts verkörpert.

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