12.09.2024
Simple Anleitung zur Welteroberung (Teil 2/2)
Von Boris Kotchoubey
Gesellschaften können phasenweise subvertiert werden, ohne dass zwingend ein Geheimdienst dahinterstecken muss. Auf Demoralisierung folgen nach einem Kalten-Kriegs-Modell Destabilisierung und Krise.
Im ersten Teil haben wir bereits einige Elemente des Subversionsprogramms behandelt, die Tomas Schuman beim KGB kennengelernt hatte. Unterstützt wird diese Arbeit von der Aktivität in Richtung Gesellschaft bzw. Leben. Eine offene demokratische Gesellschaft beruht auf Menschenrechten, aber wie sollen diese verstanden werden? Die Bürger sollen aufgeklärt werden, dass Ihre Menschenrechte nicht bloß Abwehrrechte gegen den Staat, sondern v.a. Anspruchsrechte sind, die außerdem nicht allgemeinmenschlich sind, sondern nach Spaltgruppen gegliedert: Jede Gruppe soll daran glauben, dass sie mehr Menschenrechte verdient als alle anderen. Die Anspruchsmentalität wird dem Begriff von Pflichten gegenübergestellt: Der Einzelne soll daran denken, was „die Gesellschaft“, „der Staat“ für ihn tun soll, nicht daran, wer in der Gesellschaft dafür Kosten übernimmt und wer das Gut, das ich von der Allgemeinheit erwarte, herstellen wird.
In der Richtung Leben geht es weiter in den Bereich Familie. Auch hier soll Beliebigkeit das oberste Prinzip sein. Ehetreue sollte als Relikt längst vergangener Epochen verpönt, jede flüchtige Verbindung von Menschen sollte der Familie gleichgestellt und damit auch die letztere zu einer flüchtigen Verbindung herabgestuft werden.
Im Bereich Demographie soll der natürliche Prozess der Urbanisierung unterstützt, entgegenlaufende Prozesse wie der Bau von Eigenheimen verhindert werden. Eine Nachbarschaft ist genauso wie eine Familie ein potenzieller Ort, in dem Menschen miteinander frei reden können. Der Demoralisierungsprozess zielt deshalb auf die Zersetzung der beiden. Das Ziel ist Atomisierung und Anonymisierung der Gesellschaft, in der niemand seinen Nächsten kennt und daher keiner keinem vertraut.
Der letzte (nach Zählung, nicht nach Wichtigkeit!) Lebensbereich ist die Gesundheit. Das Gesundheitssystem sollte bürokratisiert und zumindest in großen Teilen verstaatlicht werden. Im Namen der Sorge um die Gesundheit des Einzelnen sollen immer mehr medizinische und damit zusammenhängende Eingriffe und Leistungen (z.B. Ernährung) reguliert und sogar verpflichtend werden. Das Gefühl, jeder sei der Herr über den eigenen Körper, soll schwinden und einer körperlichen Entfremdung Platz machen.
„Die Zerlegung der traditionellen Strukturen wie Familie, Kirche, Kommune oder Nachbarschaft führt dazu, dass der Mensch allein und ohne puffernde Vermittler dem allmächtigen Staat hilflos ausgeliefert ist.“
„Das Ziel des Unterwerfers ist“, schreibt Tomas Schuman, „das Konzept der Loyalität gegenüber der Nation durch die Loyalität gegenüber dem Großen Bruder Staat so langsam und schmerzlos wie möglich zu ersetzen – gegenüber einem Wohlfahrtsstaat, der alles gibt und alles wieder nehmen kann, einschließlich der persönlichen Freiheit.“ Die Zerlegung der traditionellen Strukturen wie Familie, Kirche, Kommune, Nachbarschaft u.v.a. führt nicht dazu, wie einst irrtümlich gedacht wurde, dass der Mensch sich von diesen Strukturen „befreit“, sondern dass er allein und ohne puffernde Vermittler dem allmächtigen Staat hilflos ausgeliefert ist.
Destabilisierung und Krise
Erfolgreiche Demoralisierung im Laufe von mindestens einer Generation führt in die nächste Phase der Destabilisierung. Hier spielen die Domänen der Ideen und des Lebens keine wichtige Rolle mehr, sondern im Vordergrund stehen die zentralen Strukturen der Gesellschaft: Wirtschaft und Politik.
Aus Schumans Sicht markieren zwei Phänomene den Übergang zur Destabilisierung: Populismus und Graswurzel-Bewegungen. Die beiden sind Produkte eines vollständigen Verlusts des Vertrauens in die Institutionen. Unter dem Populismus meinte Schuman nicht, wie heute üblich, die Kritik an politischen Eliten, sondern vor allem den Glauben an eine „starke Hand“, an einen „charismatischen Führer“, der „weiß, wo es langgeht“. (Politische Kritik als „Populismus“ zu bezeichnen, wäre für Schuman gerade ein Anzeichen des Populismus.) Oft versprechen solche Führer „Freibier für alle“, ohne zu erklären, wer die Kosten deckt; d.h. es geht v.a. um einen Linkspopulismus. Der typische Politiker der Destabilisierungsphase verspricht eine bedingungslose Befriedigung aller partikularen Ansprüche und ignoriert die Tatsache, dass die Ansprüche einer Minderheit nur in einem Kompromiss mit anderen Minderheiten und mit der gesellschaftlichen Mehrheit ausgehandelt werden können. Er verspricht „Sicherheit“, in der ersten Linie aber keine Sicherheit vor äußeren Feinden oder Kriminellen, sondern sichere Jobs, sichere Medizin und sonstige soziale Leistungen. Er verspricht Freiheit, aber nicht im Sinne der politischen und ökonomischen Freiheit, sondern einer Freiheit zum Konsumieren („free of charge“). Er suggeriert, man kann alles zugleich haben, auch die Dinge, die sich logisch ausschließen – und zwar für die Kosten einer Kugel Eis. Er betrachtet Menschen nicht als Bürger, sondern als Verbraucher.
Wie der Populismus entstehen auch Graswurzel-Bewegungen aus der Enttäuschung über nicht mehr funktionierende staatliche Strukturen wie das Parlament, die Gerichte, die kommunalen Verwaltungen. Auch hier meint Schuman nicht die geordneten Strukturen ‚von unten‘ wie Clubs oder eingetragene Vereine, sondern spontane Kommissionen, Bürger- und Expertenräte, die eine Illusion der Demokratie erschaffen, obwohl ihnen die wichtigsten Komponenten der Demokratie fehlen: Legitimation und prozeduraler Charakter.
„Leider zeigt die gesamte Geschichte des Sozialismus, dass Regulierungen zu noch krasseren Dysbalancen führen, die nach noch aggressiveren Regulierungsmaßnahmen rufen, die ihrerseits… usw.“
Sowohl die populistischen Führer von oben als auch die Räte von unten dringen in den freien Verhandlungsprozess ein und versuchen, die Dysbalancen, die in diesem Prozess auftreten können, durch Regulierung auszubügeln. Leider zeigt die gesamte Geschichte des Sozialismus, dass die Regulierungen zu noch krasseren Dysbalancen führen, die nach noch aggressiveren Regulierungsmaßnahmen rufen, die ihrerseits… usw. Dadurch bildet sich eine „Todesspirale“ aus immer stärkeren Freiheitseinschränkungen und immer negativeren Erscheinungen in der Wirtschaft (Rezession, Inflation), bis schließlich die gesamte Wirtschaft in die Hände der unheiligen Dreifaltigkeit (Staatliche Bürokratie – Bürokratie der halbverstaatlichen Monopolunternehmen – bürokratisierte Gewerkschaften) fällt.
Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch öffnet die Tür in die dritte Phase, die Krise. Hier findet ein offener Machtkampf zwischen radikalisierten Gruppierungen statt, und die Gesellschaft nähert sich dem von Hobbes beschriebenen Zustand „jeder gegen jeden“. Jeder reißt so viel Macht an sich, wie er kann, und friedliche Menschen sehnen nach einem harten Eingriff, auch nach einer Diktatur, die endlich das Chaos beenden soll. Der Eintritt dieser starken Hand kennzeichnet die Schlussphase der Unterwerfung, die Phase der Normalisierung, wobei Schuman dieses Wort eher sarkastisch meint.
„Gesetz und Ordnung“ werden jetzt schnell und gewaltsam wiederhergestellt, aber das Gesetz ist hart, und die Ordnung schließt elementarste Freiheiten aus. In der von Tomas Schuman beschriebenen klassischen Version wird diese harte ordnende Kraft von außen gesteuert – aber wir werden unten sehen, dass diese Annahme heute nicht unbedingt mehr nötig ist. Sämtliche Minderheiten-, Menschenrechts-, Protest- und Friedensbewegungen, die in der Demoralisierungsphase so viel zur Zersetzung der alten Autoritäten beigetragen haben, werden in der Phase der Normalisierung gnadenlos vernichtet, und Graswurzel-Strukturen werden mit allen Wurzeln rausgeworfen: Man braucht sie nicht mehr. Um Schiller und Lenin gleichzeitig zu zitieren: Die nützlichen Idioten haben ihre Schuldigkeit getan, sie können gehen, und wenn sie nicht wollen, so wird ihnen beim Gehen aktiv nachgeholfen.
Cui bono?
Diese Geschichte aus den 1970er-80er Jahren kommt uns heute erstaunlich bekannt vor. Alle wichtigen Komponenten der Demoralisierungskampagne, wie sie Tomas Schuman damals beschrieb, sind offenbar, am deutlichsten die Politisierung der Kirchen, die Verschmelzung der Interessen der Politik mit denen der Großindustrie und der Angriff auf die Familie. Vor über 20 Jahren sprach ein SPD-Politiker, der damals wohl noch nicht daran gedacht hat, Kanzler zu werden, von der „Lufthoheit über den Kinderbetten“, und heute wird die Familie sogar offen als rechtsextreme Erscheinung angesehen, als Feindin der angestrebten Neuen Ordnung. Die Frage, ob wir uns noch in der Zeit der fortgeschrittenen Demoralisierung oder schon einer beginnenden Destabilisierung befinden, ist von keinem großen Interesse, weil sie rein quantitativer Natur ist, vom Ort und von der Zeit abhängt, und wer diesen Artikel in zwei Jahren liest, wird sie möglicherweise anders beantworten als heute.
Belangvoller finde ich die Frage nach dem Subjekt dieser Veränderungen: Wer steckt dahinter? Ich sehe mindestens vier mögliche Antworten darauf und ordne sie nach ihrer Offensichtlichkeit, von der unmittelbar einsehbaren bis zu komplexeren und spekulativeren.
„Das Subjekt der Subversionspolitik muss nicht unbedingt ein Sicherheitsdienst eines Staates sein. Die dafür notwendigen Ressourcen und Interessen können auch nicht-staatliche oder überstaatliche Strukturen haben.“
Am simpelsten wäre zu vermuten, dass, wenn der sowjetische Geheimdienst die oben beschriebene Strategie über längere Zeiten ziemlich erfolgreich angewendet hat, sein direkter Nachfolger FSB dieses Vorgehen fortsetzt. Warum soll es auch nicht tun? Seine Ressourcen sind im Vergleich mit dem alten KGB nur gewachsen. Die größten staatseigenen Konzerne Russlands sind in der Tat FSB-eigen. FSB-Leute kontrollieren alle wichtigsten Naturschätze Russlands: Öl, Erdgas, Gold, Wälder. Innenpolitisch ist die Stellung des FSB so fest wie nie: Während sich der KGB immer wieder beteuern musste, dass er die Ziele der KPdSU (und nicht seine eigenen) verfolgt, gibt es heute in Russland keine politische Instanz mehr, der der Geheimdienst Rechenschaft schuldet. Eine Struktur, die sich leisten kann, einen deutschen Ex-Bundeskanzler als einen einfachen Angestellten anzuheuern und mehrere europäische politische Parteien zu finanzieren (auch solche mit Regierungsbeteiligung), hat offensichtlich kein Geldproblem, und moralische Probleme waren ihr ohnehin immer fremd.
Fast genauso bietet sich allerdings die Möglichkeit an, dass auch andere mächtige Geheimdienste die gleichen Subversionsverfahren anwenden könnten. Auch wenn diese Intelligence Services nicht so intelligent waren, diese oder ähnliche Strategien selbständig zu entwickeln, so haben sie inzwischen Tomas Schumans Vorträge gehört; und wenn (soweit ich weiß) kein anderer Geheimdienst so viele offizielle und inoffizielle Mitarbeiter beschäftigt wie der FSB, so hängen manche anderen den russischen Geheimdienst in technischer Hinsicht ab.
Aber das Subjekt der Subversionspolitik muss auch nicht unbedingt ein Sicherheitsdienst eines Staates sein. Die dafür notwendigen Ressourcen und Interessen können auch nicht-staatliche oder überstaatliche Strukturen haben, von der internationalen Mafia über die zahlreichen staatsfinanzierten Nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) bis zu den internationalen Behörden, wobei man natürlich fragen kann, ob dies alles nicht längst Synonyme geworden sind. Wenn ein Mann, der seine politische Laufbahn in einer Terrorbande verbracht hat, heute die Weltgesundheit verwaltet, und wenn Uno-Mitarbeiter an einem der brutalsten Terrorangriffe der letzten Zeit teilgenommen haben, dann sind wir in einer Welt, in der ein früherer Slogan von Toyota, „Nichts ist unmöglich“, Realität geworden ist.
„Der Demoralisierungsprozess muss nicht das Produkt einer im Detail ausgearbeiteten Strategie einer bestimmten Organisation sein.“
Doch die Realität kann noch eine schlimmere sein. „Das ist keine Verschwörung, sondern eine Tendenz“, formuliert es Michael Esfeld in seinem Buch „Land ohne Mut“. Der Demoralisierungsprozess muss nicht das Produkt einer im Detail ausgearbeiteten Strategie einer bestimmten Organisation sein. Er kann ein Ergebnis zusammenwirkender sozialer Kräfte sein, die „des gleichen Geistes Kinder“ sind, aber nicht unbedingt miteinander eine Absprache halten, nicht unbedingt einen Ideenpool teilen, nicht unbedingt einander mögen. Sie können miteinander konkurrieren oder sogar einander hassen, so wie in der Mitte des 20. Jahrhunderts verschiedene autoritäre und totalitäre Konzepte wie Kommunismus, Faschismus, lokale autoritäre Nationalismen, der argentinische Peronismus u.v.a. den Menschen konkurrierende undemokratische Modelle anboten und erfolgreich „zusammenarbeiteten“, indem mehrere von ihnen gemeinsam die Menschheit zum Abgrund eines Weltkrieges schoben.
Zentral verwaltetes System
Die Formen dieser Zusammenwirkung können sehr unterschiedlich sein – von koordinierten Aktionen (wie z.B. zwischen deutschen und arabischen Terroristen in den 1970er Jahren) über Ausnutzung (wie die russischen Bolschewiken und die deutschen Nationalsozialisten im Prozess der Machtergreifung die kriminelle Welt ihrer Länder ausgenutzt haben) bis zum fanatischen gegenseitigen Hass (wie damals zwischen Kommunisten und Faschisten). Die gemeinsame Strategie entsteht unabhängig von Gefühlen als Resultante aller Wirkungskräfte.
Wir brauchen nicht anzunehmen, dass der westliche totalitäre Transhumanismus, der russische Imperialismus, das chinesische Digitalgulag, die islamische Infiltration und sonstige Geschenke der Postmoderne einen einzigen strategischen Stab haben, aus dem sowohl die iranischen Mullahs als auch die Brüsseler Bürokraten, sowohl Russia Today als auch die Washington Post Anordnungen bekommen. Und am wenigsten benötigen wir die Unterstellung, dass uns eine bestimmte Ideologie aufgezwungen wird, wie es bei den Totalitarismen in der Mitte des letzten Jahrhunderts der Fall war.
Schließlich betonte Schuman noch zu den Hochzeiten des Kalten Krieges, dass das Ziel der Unterwerfung nicht darin besteht, die Massen im Westen im Geiste des Marxismus-Leninismus zu erziehen, „sondern die kapitalistische Gesellschaft, die auf der freien Marktwirtschaft beruht und individuelle Freiheiten sowohl in der wirtschaftlichen als auch in der politischen Sphäre voraussetzt, langsam durch einen Kohledurchschlag des ‚progressiveren Systems‘ zu ersetzen, oder wahrscheinlich die beiden in ein einheitliches, weltumfassendes, von einer wohlwollenden Bürokratie zentral verwaltetes System zusammenzuführen, das sie Sozialismus nennen.“ Unabhängig von der Antwort auf die Subjektfrage bleibt dieses Ziel auch heute bestehen. Der Name auf dem Etikett ist austauschbar, das angestrebte System bleibt im Wesentlichen dasselbe.