11.08.2023
In einer stickigen Blase
Rezension von Boris Kotchoubey
Mit seinem Buch „Land ohne Mut“ wendet sich Philosoph und Leopoldina-Mitglied Michael Esfeld gegen politischen Szientismus, real existierenden Postmodernismus und staatliche Machtkonzentration.
Zum Erscheinen von Michael Esfelds Buch „Land ohne Mut“ könnte Deutschland ein spannendes Jubiläum feiern (wenn es nur wollte): Genau vor 400 Jahren endete die „große Kipper- und Wipperzeit“, die Epoche der stets zunehmenden, staatlich geförderten Geldentwertung. Durch diese forcierte Inflation finanzierten die Fürsten (u.a. der berühmte Wallenstein) ihre Kriege und ihren Luxus. Erst die massive Empörung der städtischen Bevölkerung und v.a. der Söldner, die mit „gutem Geld“ (also Silber und nicht Kupfer und Blei) bezahlt werden wollten, beendete 1623 diesen Missbrauch.
Den 15. August 1971 kann man als Beginn einer neuen, weltweiten „Kipper- und Wipperzeit“ betrachten. An diesem Tag kündigte der US-Präsident Richard Nixon den Bretton-Woods- Vertrag auf und löste den Dollar von seinem Realwert (bis dahin 1/35 Feinunze Gold). Durch Wechselkursbindung zum Dollar lösten sich auch andere Währungen vom Gold. Dieses Ereignis wurde seinerzeit nicht gebührend gewürdigt. Es sah aus, als würde der demokratische Rechtsstaat etwas mehr Freiheit bekommen, um wichtige Investitionen zu tätigen, um Bedürftige zu unterstützen und den Motor der Wirtschaft anzukurbeln, wenn er sich mal verlangsamt.
Doch in einem Zusammenwirken mit anderen Vorgängen, die Michael Esfeld in seinem Buch analysiert, hatte die Trennung der Währung vom Goldstandard fatale Langzeitfolgen. Erstens hat der Souverän das „Königsrecht“ der Kontrolle über das staatliche Budget verloren. Seit Jahrhunderten versuchten die europäischen Völker, die Übermacht der Könige dadurch einschränken, dass sie den Regierungen die Mittel verweigerten. Der Gegenschlag des Königs bestand zwar darin, mit Gewalt die erhöhten Steuern einzutreiben, doch die Polizei und das Militär, die dazu verwendet wurden, wollten auch bezahlt werden. In den meisten Fällen führte eine solche Ausgangslage zu harten Verhandlungen.
Dieser Kontrollmechanismus entfällt, wenn der König unbeschränkt so viel Geld drucken kann, wie er will. So hat eine schwere finanzielle Krise Frankreichs die Große Revolution ausgelöst. 1781 stieg die Staatsverschuldung auf fast 20 Prozent des Nationalbudgets, und nach acht Jahren erfolgloser Reformversuche entschied sich der König für das letzte Mittel, die Einberufung der Generalstände. Deren Sitzungen gingen in eine Nationalversammlung über, und so begann die Revolution, die den großen Bruch von der Adelsherrschaft zum modernen Kapitalismus kennzeichnete. Heute wäre so etwas unvorstellbar. Ein König des 21. Jahrhunderts würde die im Etat fehlende Summe einfach zu einem „Sondervermögen“ erklären, und damit das Problem auch ohne Generalstände lösen.
„Diese irreale wirtschaftliche Basis der postmodernen Gesellschaft wird von einem genauso irrealen Überbau in Form der aufklärungsfeindlichen Philosophien ergänzt.“
Wie der Autor ausführt, eröffnet die Verfügung über eine unbegrenzte Geldmasse auch unbegrenzte Möglichkeiten; wer Geld ohne Ende hat, kann alles und (fast) jeden kaufen. Praktisch kann heute der Staat den Markt außer Kraft setzen; wenn ein Unternehmen von staatlichen Subventionen besser lebt als vom Verkauf seiner Produkte und Leistungen, oder wenn der Staat als Kunde mehr zahlt als alle anderen Kunden zusammen, verlieren alle Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage ihre Bedeutung.
Besonders stark sollte diese Wirkung in schwierigen Marktbereichen sein, z.B. auf dem Markt der Kulturgüter. Es lohnt sich einfach nicht, spannende Bücher zum Lesen zu schreiben, schöne Lieder zum Singen zu verfassen, interessante Theateraufführungen für das Publikum zu veranstalten. Vielleicht können diese Bücher und Lieder Bestseller und Hits werden, vielleicht auch nicht, ein marktwirtschaftliches Risiko sind sie auf jeden Fall. Stattdessen kann man sich staatlichen Prämien und Stipendien sicher sein, wenn man nur in seinen Werken die Regierung besingt, politisch genehme Themen bearbeitet und streng den Richtlinien folgt. Die künstlerische Qualität ist dabei völlig unbedeutend, zumal sich die Kritiker, die diese Qualität beurteilen, aus demselben Topf ernähren.
Aber noch wichtiger als die politischen und sozialen findet der Autor die philosophischen – man kann sogar sagen, ontologischen – Folgen der Bretton-Woods-Aufkündigung. Mit dem Fiat-Geld entstand eine Art zweite Realität. Wir zahlen Geld für Produkte und Leistungen, aber das Geld ist kein Äquivalent dieser Produkte und Leistungen mehr. Es ist surreal, wie die Pfeife auf dem Gemälde von Rene Magritte, das den Titel „Das ist keine Pfeife“ trägt. Magritte erklärte das scheinbare Paradox übrigens sehr einfach: Sein Gemälde stellt tatsächlich eine Pfeife dar, aber die Darstellung einer Pfeife ist keine reale Pfeife. Unser Geld ist eine (nicht künstlerische, sondern künstliche) Darstellung von materiellen Werten, aber diese Darstellung sollte nicht mit den Werten in deren Wirklichkeit verwechselt werden.
Der real existierende Postmodernismus
Diese irreale wirtschaftliche Basis der postmodernen Gesellschaft wird von einem genauso irrealen Überbau in Form der aufklärungsfeindlichen Philosophien ergänzt. Diese gleichen einem Lebensmittelgeschäft im Ostblock: Man fragt nach Fleisch oder Fisch, nach frischem Gemüse oder Beeren, der Verkäufer hat nur eine Antwort: „Haben wir leider nicht.“ In der postmodernen Philosophie gibt es weder Subjekt noch Objekt, weder Mensch noch seinen freien Willen, und schon gar nicht gibt es eine Realität. Denn, so haben uns die gesamte moderne Wissenschaft und Philosophie gelehrt, die Realität erkennen wir mit unseren Sinnen und unserer Vernunft. Aber die Sinne können uns täuschen, und eine universale Vernunft gibt es ebenso wenig, sondern jede Kultur und schließlich jede Person hat ihre eigene Vernunft und baut dementsprechend eine eigene Realität.
Michael Esfeld zeigt die Konsequenz dieser Phantasmagorie mit Hilfe der Analogie zum „real existierenden Sozialismus“. Der theoretische Sozialismus ist bekanntermaßen eine Gesellschaft, in der jeder nach seinen Fähigkeiten der Allgemeinheit gibt, und jeder nach den Ergebnissen seiner Arbeit von der Allgemeinheit entlohnt wird. Im real existierenden Sozialismus führte aber die Abschaffung der ökonomischen Anreize dazu, dass Menschen unter Zwang arbeiten mussten und die öffentlichen Güter zwangsverteilt wurden. Der theoretische Postmodernismus stellt ebenfalls eine ideale Gesellschaft dar, in der es jedem frei steht, in seiner persönlichen Realität zu leben. Das kleine Problem ist jedoch, dass Menschen, deren Welten voneinander vollkommen getrennt sind, nicht zusammenleben können. Da aber die Vernunft als das universelle Kriterium der Wirklichkeit dieser Welten und als Werkzeug, mit dem allein wir letztendlich die Wirklichkeit erkennen, entfällt, dann bleibt das einzige Kriterium die rohe, uneingeschränkte Gewalt. Die Wirklichkeit ist einfach das, was die politische Macht als Wirklichkeit definiert.
„Die staatliche Macht geht aus jeder Krise, der sie in den Augen ihrer Kritiker angeblich ‚nicht gewachsen“ sei, als große Gewinnerin hervor.“
Der real existierende Postmodernismus ist deshalb, soweit ich Esfeld verstehe, nicht bloß „das Recht des Stärkeren“, sondern „das Sein des Stärkeren“. Ein gewisses X existiert, nur weil der Starke die Schwächeren mit Gewalt zur Anerkennung dessen Existenz zwingen kann, und nur solange er diese Gewalt ausübt. Behauptet der Starke dagegen, dass ein gewisses Y nicht existiert, dann existiert Y eben nicht. So ist die Aussage „Impfungen sind nebenwirkungsfrei“ weder eine Lüge noch ein Irrtum, weil Lügen und Irrtümer als Aussagen definiert werden, die mit Tatsachen nicht übereinstimmen. Innerhalb des Postmodernismus aber gibt es kein unabhängiges Kriterium dessen, was eine Tatsache ist, außer dieser selben Aussage der Gewalthaber. Ein „Fakt“ ist das, was die sogenannten Faktenchecker behaupten, egal wie unbegründet diese Behauptungen erscheinen mögen. Dies führt zu noch vor wenigen Jahren unvorstellbaren Situationen, in denen fachfremde Jungs und Mädels, oft Anfänger im Fach Journalistik, komplexe Studien in sehr speziellen Bereichen als „Pseudowissenschaft“ diffamieren, obwohl diese Studien nicht nur von ausgewiesenen Experten verfasst, sondern auch von weiteren unabhängigen Experten positiv begutachtet wurden (siehe z.B. hier und hier).1 Hinter diesen laienhaften „Faktencheckern“ steht die politische Macht, und sie allein bestimmt, was wahr und was falsch, was ein Fakt und was kein Fakt ist.
Der wichtigste Profiteur dieser Entwicklung ist deshalb diejenige Struktur, die nicht nur Gewalt ausüben kann, sondern die dafür extra vorgesehen wurde, die Gewalt zu monopolisieren: Die Machtstruktur schlechthin – der Staat. Wie Esfeld zeigt, bedeutet jede Krisensituation im real existierenden Postmodernismus einen Zuwachs der staatlichen Kontrolle, immer weitergehende Eingriffe des Staates in das Leben der Menschen.
Völlig illusorisch ist deshalb die Vorstellung, dass der Staat in einigen Krisensituationen (z.B. bei der Migrationskrise oder Klimakrise) „versagt“ oder „die Krise nicht bewältigt“ habe. Der Staat scheint in kritischen Lagen „überfordert“ zu sein, aber er „kapituliert“ nur vor jenen Kräften, die er hofft, für seine Ziele einzuspannen. Wenn ein Schachspieler „schlecht spielt“, aber jede Partie gewinnt, dann sind seine Züge nur scheinbar schlecht, denn sie führen ihn doch zum Ziel. Genauso scheinbar und vorgeblich ist die „Unfähigkeit“ der staatlichen Macht, die aus jeder Krise, der sie in den Augen ihrer Kritiker angeblich „nicht gewachsen“ sei, als große Gewinnerin hervorgeht.
Wissenschaft und Objektivität
Der wahre Versager dieser Krisen ist die moderne, freiheitliche Gesellschaft mit ihren zwei Säulen: Wissenschaft und Rechtsstaat. Sie sind die Verlierer, die die Folgen des Verlustes an einer von Aussagen unabhängigen Realität zu tragen haben. Ohne eine von uns unabhängige Wirklichkeit kann keine Suche nach objektiver Wahrheit (d.h. keine Wissenschaft) existieren, denn das Streben nach Objektivität des Wissens (nach einem, wie Esfeld sagt, „Standpunkt nirgendwo“) ist die Grundeigenschaft aller modernen Wissenschaft. Natürlich kann dieser Standpunkt niemals tatsächlich erreicht werden, da dafür alle subjektiven Aspekte aller Forscher (ihre Beweggründe, Emotionen, speziellen Interessen u.v.a.) komplett ausgeschaltet werden müssten. Aber die ganze Geschichte der Wissenschaft einschließlich der Philosophie ist der Versuch einer maximal möglichen Annäherung an dieses Ideal.2
Wenn sich die Wissenschaft vom Ideal der Objektivität entfernt, ist das Ergebnis nicht nur die Willkür, die Möglichkeit, beliebige Aussagen als „wissenschaftliche“ Aussagen darzustellen, was dazu führt, dass schließlich nur von der Macht abgesegnete Aussagen das Prädikat „wissenschaftlich“ erhalten. Diesen Mechanismus haben wir oben bereits besprochen. Noch verhängnisvoller ist laut Esfeld der Umstand, dass der Objektivitätsanspruch der Wissenschaft mit ihrem Verzicht auf die Erklärung des Subjektiven verknüpft ist: Da die Wissenschaft Tatsachen über die Welt liefert, kann sie nicht gleichzeitig den Menschen, der diese Tatsachen erforscht, mit denselben Mitteln erforschen, denn das würde bedeuten, dass sie ihr Subjekt gleichzeitig zu ihrem Objekt macht, den Beobachter beobachtet und mit dem Experimentator experimentiert, was logisch zum unendlichen Regress führen würde. Aus Gründen der Objektivität kann sie zudem keine Normen formulieren und keine Werte bestimmen; sie kann nur sagen, was ist, aber nicht, was sein soll.
„Ein Wissenschaftler folgt niemals der Wissenschaft; er schafft sie.“
Verliert die Wissenschaft ihren Objektivitätsbezug, so erhebt sie den Anspruch, alles zu erklären und zu modellieren, v.a. den Menschen. Sie hört auf, Wissenschaft zu sein und wird zum Wissenschaftskult (Szientismus). Sie beurteilt nicht nur, was ist, sondern schreibt uns vor, wie wir sein sollen. Schließlich will sie ein angeblich wissenschaftsfundiertes politisches Programm durchsetzen. Diesen politischen Szientismus3 haben wir im 20.Jahrhundert im Kommunismus und Nationalsozialismus gesehen, der erstere sollte auf den notwendigen historisch-soziologischen Gesetzen basieren, der letztere auf den genauso ewigwahren Gesetzen der Rassenbiologie. Heute floriert er in Form des absurden Aufrufs „follow the science“, der eine contradictio in adjecto ist, denn ein Wissenschaftler folgt niemals der Wissenschaft; er schafft sie.
Nun, wenn die Wissenschaft begründen könnte, wie Menschen sich in verschiedenen Lagen verhalten sollen, wenn das moralisch Gute und das moralisch Böse genauso streng bestimmbar wären, wie die Lage eines Planeten nach den Keplerschen Gesetzen, dann gebe es keine Wahl mehr und kein Recht. Denn eine „richtige“ Politik wäre in diesem Fall genauso notwendig, wie eben die Naturgesetze der Physik notwendig sind. Dann gäbe es nichts mehr zu diskutieren, und die Opponenten der auf diese Art wissenschaftsbasierten Politik wären keine politischen Gegner mehr, sondern Ignoranten, deren Meinung kein vernünftiger Mensch berücksichtigen kann und soll. Das war genau die Logik der berüchtigten sowjetischen Strafpsychiatrie: Die Überlegenheit des Sozialismus, die historische Notwendigkeit seines Sieges sind so streng bewiesen, dass nur ein Irrer daran zweifeln kann. Also war der Zweifel am Sozialismus allein schon ein ausreichender Grund für eine psychiatrische Behandlung.
Politischer Szientismus
Die philosophische Grundlage der Vorstellung, dass die Wissenschaft das allgemein verpflichtende moralische Gute genauso festlegt, wie sie Naturgesetze entdeckt, findet Esfeld im platonischen Idealismus. Wenn dies der Fall wäre, so müssten alle Menschen dieses Gute anerkennen, und keiner dürfte seinen Lebensweg nach eigenen Prioritäten wählen. Jede Abweichung von dem für alle verpflichtenden Guten wäre dann keine Freiheit, sondern eine Dummheit. Deshalb ist eine wissenschaftlich organisierte Gesellschaft notwendigerweise ein bedingungsloser totalitärer Kollektivismus. Statt negativer Schutzrechte, die eben solche Abweichungen der individuellen Wahl verteidigen, entstehen dann positive Rechte, d.h. Ansprüche auf bestimmte Leistungen.
Darauf beruht u.a. die Ideologie des Wokeismus: Verschiedene soziale Gruppen haben verschiedene Privilegien und verschiedene Ansprüche auf soziale Anerkennung. Was früher ein Grundrecht war, wird nun als Privileg für ein richtiges Verhalten oder für die Angehörigkeit zur richtigen Gruppe oder zur richtigen politischen Bewegung erteilt. Im Sommer 2021, als das Grundrecht auf Versammlungen und Demonstrationen aus angeblich hygienischen Gründen drastisch eingeschränkt wurde, durfte die Black-Lives-Matter-Bewegung ihre Massenveranstaltungen problemlos ausführen, selbstverständlich ohne Masken, Abstandhalten und Händedesinfizieren.
„Der politische Szientismus zerlegt den Rechtsstaat.“
Aber die vom politischen Szientismus ausgeschlossene Wahlfreiheit war die Voraussetzung der modernen Wissenschaft, v.a. der Naturwissenschaft im engeren Sinne, wie wir sie seit Galileo kennen. Ein experimentierender Forscher beobachtet nicht bloß die Natur (obwohl die Sinnesphysiologie und die Wahrnehmungspsychologie längst bewiesen haben, dass auch eine Beobachtung ein aktiver Vorgang ist), sondern er muss seine Experimente planen, im Voraus Hypothesen formulieren, experimentelle und Kontrollbedingungen organisieren. Dies führt zum scheinbaren Paradox, dass die Anbetung der Wissenschaft („follow the science“) notwendigerweise die Wissenschaft abschafft und zur Wiedereinführung einer Inquisition führt. Esfeld hält dem entgegen, dass die Freiheit des Forschers (und des Menschen im Allgemeinen) vor der Wissenschaft Vorrang hat. Die Freiheit begründet erst die Möglichkeit einer Wissenschaft, nicht andersherum. Mit der Priorität der Freiheit verschwindet das o.g. Paradox.
Ebenfalls zerlegt der politische Szientismus den Rechtsstaat. In Bezug auf Thomas Hobbes erläutert Esfeld die paradoxe Struktur des Rechtsstaates als eines sich selbst immer verstärkenden, selbstbestätigenden Systems. Die Idee, dass Bürger in einem „Gesellschaftsvertrag“ einen Teil ihrer Rechte an den Staat abgeben, ist ein Denkfehler. Es liegt in der Natur eines jeden Vertrages, dass jede Seite ihn unter bestimmten Bedingungen friedlich kündigen kann, aber kein Bürger kann den Staatsvertrag kündigen, es sei denn, er emigriert oder löst einen Bürgerkrieg aus. Ein einfaches Beispiel reicht, um die prinzipiell uneingeschränkte, über jede vorstellbaren Vertragsgrenzen hinausgehende Macht des Staates zu vergegenwärtigen: Ein moderner, demokratischer Staat darf nur unter bestimmten Bedingungen die Grundrechte der Bürger einschränken – welche Bedingungen dies aber sind, entscheidet kein anderer als derselbe Staat. Allgemeiner gesagt: Der Begriff „Vertrag“ setzt bestimmte Vertragsregeln voraus, denen zu folgen sich alle Vertragsparteien verpflichten. Aber der Staat befolgt keine Regeln, sondern er legt sie fest und kann sie immer ändern. Also ist kein Vertrag zwischen Bürgern und dem Staat möglich.
Verschwörung ja, Theorie nein
Als Popperianer lehnt Michael Esfeld eine Verschwörung als Grund für das gegenwärtige Geschehen entschieden ab. Nicht, weil er die Möglichkeit einer solchen Weltverschwörung abstritte, sondern weil sie keine Erklärung wäre. Strenggenommen wird eine Verschwörung als Geheimabsprache definiert, aber die Programme einflussreicher Personen, denen oft Verschwörungspläne zugeschrieben werden (u.a. Bill Gates, Klaus Schwab), werden gar nicht geheim gehalten, sondern in ihren Büchern explizit der Öffentlichkeit dargestellt. Zu jeder Zeit gab es Menschen, die verschwörungsähnliche Pläne geschmiedet haben, aber das erklärt nicht, warum diese Pläne verwirklicht werden konnten. Sowohl die literarischen als auch die historischen Verschwörungen, zeigen, dass ihr Erfolg schließlich nicht von teuflisch-genialen Kalkulationen einer kleinen Gruppe der Verschwörungsführer abhingen, sondern primär von der Bereitschaft breiterer Massen, die Konzepte dieser Gruppe zu akzeptieren und zu unterstützen.
Daraus folgt, dass eine direkte Bekämpfung der wirklichen oder mutmaßlichen Verschwörer wenig Sinn ergibt. Nicht die organisatorischen Talente der bolschewistischen Verschwörer (wie talentiert sie auch waren) bestimmten den Zusammenbruch Russlands 1917, sondern der Zustand der Gesellschaft nach drei Jahren Krieg, und deshalb hätte die Verhaftung von Lenin und Trotzki (die im Juli 1917 möglich gewesen wäre) zwar den genauen Ablauf der katastrophalen Ereignisse ändern, die Katastrophe im Ganzen aber nicht abwehren können. Dementsprechend wäre heute keine politische Opposition erfolgreich, die lediglich auf Unterbrechung bestimmter organisatorischer Aktivitäten abzielt, z.B. auf die Bekämpfung der Korruption in der EU und der WHO, darauf, den Pharmakonzernen Schranken zu setzen o.ä. Der Trend zur Vernachlässigung bürgerlicher Rechte würde sich dann auch ohne EU und WHO und ohne Big Pharma mit anderen politischen und ökonomischen Mitteln fortsetzen.
„Der Autor vergleicht den postmodernen Kollektivismus mit einer Hydra; hackt ihr der Held einen Kopf ab, so wächst an dieser Stelle sofort ein neuer.“
Stattdessen empfiehlt Esfeld den Wiederaufbau der Mechanismen, mit denen am Anfang der Moderne die Machtkonzentration beim Staat (und bei der Kirche) effektiv bekämpft und verhindert wurde, und das bedeutet die konsequente Abschaffung und Vorbeugung jeglicher Staatsmonopole in allen Bereichen, nicht nur in der Wirtschaft, sondern bei Recht und Sicherheit. Wie realistisch sind solche Vorschläge?
Postmodernismus hat keine produktiven Kräfte
Esfeld spielt auf den bekannten Gedanken von Ayn Rand an, der „Philosophin der Objektivität“: Man kann die Wirklichkeit ignorieren, aber man kann nicht die Folgen dessen ignorieren, dass man die Wirklichkeit ignoriert hat. Die Kraft dieser Aussage ist allerdings dadurch geschwächt, dass, wie Esfeld hervorhebt, der Kollektivismus des 21. Jahrhunderts im Gegensatz zu seinen Vorgängern über keinen „großen Mythos“ verfügt (wie die klassenlose Gesellschaft oder ein reinrassiges Volk). Stattdessen bietet er viele kleine Narrative, die nahtlos einander ablösen und abwechseln können. Sobald sich zeigt, dass das Corona-Narrativ die Freiheitseinschränkungen nicht mehr rechtfertigen kann, wird es durch das Klima-Narrativ ersetzt; wird dieses letztere nicht mehr ausreichen, kommt ein nächstes zur Hilfe (z.B. Wassermangel) usw. Deshalb vergleicht der Autor den postmodernen Kollektivismus mit einer Hydra; hackt ihr der Held einen Kopf ab, so wächst an dieser Stelle sofort ein neuer.
Lässt diese Fluidität Ayn Rands Regel entkommen? Einerseits kann man argumentieren, dass, wenn die Konsequenzen der Wirklichkeitsleugnung im Corona-Narrativ offensichtlich werden, dieses Narrativ also nicht mehr da ist, es von einer anderen Erzählung ersetzt wird, die sich genauso verflüchtigt, sobald ihre Konsequenzen spürbar werden. Andererseits bezieht sich die Irrealität aller (beliebig wechselnden) Narrative schließlich auf eine immer weitere Entfernung der Gesellschaft von der wirtschaftlichen Realität. Die illusorische Welt, die allen konkreten Narrativen zugrunde liegt, ist eine unproduktive Welt. Das ist eine Welt, in der nur zwei Grundrechenarten gelten: Abziehen und Teilen, aber Addieren und Multiplizieren finden nicht statt.
Man kann sich leisten, in einer postmodernen Blase erfundener Risiken zu leben und wirkliche Risiken zu ignorieren, nur weil die Gesellschaft in früheren Zeiten enorme materielle und geistige Reserven aufgebaut hat. Anders gesagt: Der ganze ontologisch-finanzielle Komplex des Postmodernismus ist ein gigantischer Schmarotzer, der die Säfte der freiheitlichen modernen Gesellschaft verzehrt, und deren eiternder, übelriechender Zerfall sofort einsetzt, wenn diese gesunden Säfte zu Neige gehen. Um Brecht zu paraphrasieren: Erst kommt das Fressen, dann das Narrativ.
Vielleicht sollte deshalb die Frage quantitativ gestellt werden: Wie schlimm sollen die Konsequenzen der Wirklichkeitsleugnung sein, damit man diese Konsequenzen nicht mehr leugnen kann? Wie hoch liegt die Schmerzgrenze? Wie viele Menschen sollen in einem flächendeckenden Blackout zu Schaden kommen oder gar sterben, damit der Wahnsinn der sogenannten Energiewende, der jenseits der deutschen Grenzen für jeden offensichtlich ist, auch hier zum Umdenken führen würde? Der brave Soldat Schwejk antwortete auf die Frage, wie lange der Erste Weltkrieg dauern wird, sofort: „15 Jahre“. Seine Begründung: Der letzte Krieg von diesem Ausmaß war der dreißigjährige, seitdem sind Menschen zweimal klüger geworden, also teilen durch zwei. Die Erfahrung von 1648 und 1945 zeigt, dass die Schwelle, oberhalb derer die Realität nicht mehr geleugnet werden kann, in Deutschland sehr hoch liegen kann. Die Frage ist also nach dem Koeffizienten der Vermehrung unserer Weisheit (bei Schwejk zwei), durch den die Höhe der Schwelle geteilt werden soll. Nicht auszuschließen, dass dieser Koeffizient viel niedriger ist, als wir noch vor 2020 gedacht haben.
Abschluss
Es gehört sich, dass ein Rezensent auch Kritik am besprochenen Werk ausübt, sonst heißt es noch, er habe das Buch unaufmerksam gelesen. Aber die Auflistung der kleinen Punkte, bei denen ich anderer Meinung bin als der Autor, wäre wenig informativ. In seiner Kritik am Nationalstaat unterschätzt Esfeld die m.E. besonders schwerwiegende Bedeutung der übernationalen Staatsgebilde, einst Imperien genannt. Während Esfeld behauptet, dass die Nationalstaaten „nach innen oppressiv, nach außen aggressiv“ auftreten, verkennt er die Erkenntnis von Hannah Arendt4, dass diese Eigenschaften die imperiale Politik in einem höheren Maße charakterisieren als eine nationale. Daher die unkritische Übernahme des verbreiteten Vorurteils, dass Nationalismus zum Ersten Weltkrieg geführt habe. Aber der Anlass war der Konflikt zwischen Russland, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich, wobei keines dieser drei ein Nationalstaat war: Eine österreichisch-ungarische Nation hat es nie gegeben, eine russische gibt es immer noch nicht, und eine türkische fing erst nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg an, sich herauszubilden.
„Während einige Menschen für sich Luftschlösser bauten, bauen wir für uns Luftgefängnisse.“
Dieser Punkt betrifft aber nicht nur vergangene Ereignisse. So stimme ich zwar Esfeld zu, dass das Netz der Rechtseinschränkungen, das kurzerhand als Corona-Regime bezeichnet wird, nur mit den Gewaltmitteln einzelner Staaten durchgesetzt werden konnte; aber die Synchronizität dieser Durchsetzung kann m.E. nicht erklärt werden, wenn wir die Aktivität übernationaler staatsähnlicher Strukturen außer Acht lassen. Richtig gefährlich könnte es m.E. werden, wenn Esfelds Kritik am Nationalstaat als Argument für weitere Internationalisierung (sprich: Imperialisierung) der Politik missbraucht wird. Wenngleich für mich offensichtlich ist, dass der Autor mit dieser Kritik keinerlei Ideen einer „Weltregierung“ o.ä. unterstützen wollte, bin ich mir angesichts der gegenwärtigen antinationalen Tendenzen (wie z.B. dem Kreuzzug der EU gegen Polen und Ungarn) ziemlich sicher, dass es viele Menschen gibt, die diese Kritik gerne in diesem Sinne missverstehen werden.
Aber Meinungsverschiedenheiten hin oder her, es bleibt kein Zweifel, dass „Land ohne Mut“ eine der umfangreichsten und tiefsten Analysen des gegenwärtigen Zustandes der Welt darstellt. Auch wer nicht alle Standpunkte und Schlussfolgerungen des Autors teilt, kann an diesen Standpunkten und Schlussfolgerungen nicht einfach vorbeigehen, sondern muss sich mit ihnen argumentativ auseinandersetzen. Kein Mensch, der sich heute die Frage stellt, warum unsere Geschichte in den letzten Jahren so läuft, wie sie eben läuft, kann das im Buch vorgeschlagene System von Antworten auf diese Frage ignorieren.
Im Übrigen haben die minderwertigen Münzen aus der Kipper- und Wipperzeit heutzutage einen hohen Wert: Für eine nominale 2-Pfennig-Münze jener Zeit zahlen jetzt die Sammler über 50 Euro, für einen Taler mehrere Hundert Euro. Vielleicht werden 400 Jahre später die Artefakte der Epoche, die wir heute als Postmoderne bezeichnen, genauso hoch geschätzt. Die Leute werden sich dereinst wundern: Während einige Menschen für sich Luftschlösser bauten, bauten wir für uns Luftgefängnisse.