06.09.2024
Simple Anleitung zur Welteroberung (Teil 1/2)
Von Boris Kotchoubey
Die Waffe der Subversion gegen eine eigentlich starke Gesellschaft zu richten, ist eine Kunst, die schon im alten China gelehrt und im Kalten Krieg vom KGB verfeinert wurde.
Alles, was der Feind tun soll, ist die Bereiche zu finden, in denen eure nationalen Ideen erodiert oder ausgetauscht werden können, und dann langsam, aber konsistent diese Bereiche zu infiltrieren, um neue Ideen in die Gesellschaft einzuspritzen und selbstzerstörerische Tendenzen zu fördern.
Sun Tzu: „Über die Kriegskunst“, um 500 v.Chr.
In den letzten 2500 Jahren, seit dem chinesischen Genie der Subversion Sun-Tzu, hat sich in der Menschheitsgeschichte nichts geändert.
Tomas Schuman: „ World Thought Police”, 1986
Auf dem alten schwarz-weißen Foto sieht man einen jungen Inder, fast ein Kind, offensichtlich aus oberen Schichten, in traditioneller Kleidung und in einer frommen Pose. Eine kleine Recherche deckt allerdings auf, dass es sich um keinen Inder handelt, sondern um einen waschechten russischen Knaben namens Juri Besmenow, der noch nicht wissen kann, dass er in seinem zweiten Leben ganz anders heißen wird. Das Bild wurde Anfang 1953 gemacht, als Juri 13 Jahre jung war.
Seit er sich erinnern konnte, war er in Indien verliebt, las alles über Indien und lernte schon als Heranwachsender die zwei wichtigsten indischen Sprachen (Hindi und Urdu). Viele Kinder und Teenager erleben solche Passionen für exotische Länder, aber in der Abgeschlossenheit der damaligen UdSSR hatten die meisten keinerlei Chancen, das Land ihrer Träume je live zu sehen. Doch Juri Besmenow war nicht irgendwer; sein Vater war ein hochrangiger Offizier mit besten Beziehungen im militärischen Geheimdienst. So konnte Juri die privilegierte Hochschule für Orientalistik abschließen und in seinem gelobten Land eine Anstellung als Korrespondent der Agentur Novosti bekommen.
Nach wenigen Jahren in New-Delhi hatte der junge „Journalist“ fast gleichzeitig drei Dinge begriffen: Erstens, dass seine Arbeit nichts mit Journalismus zu tun hat (daher die Einführungszeichen oben), zweitens, dass er das Gastland mehr liebt als sein Heimatland, und drittens, dass seine heiße Liebe zu Indien auch seinen Chefs in Moskau verdächtig vorkam. Den entscheidenden Fehler beging der junge Besmenow, als er darüber nachdachte, ein indisches Mädchen zu heiraten, und mit diesem Mädchen einige Male gesichtet wurde. Besmenow verstand, dass seine Tage in Neu-Delhi gezählt waren, und wenn er einmal als „Unzuverlässiger“ zurückgerufen würde, blieben ihm die sowjetischen Staatsgrenzen fortan für immer verschlossen. Auch konnte er nicht einfach seinen Posten verlassen: Ein freiwilliger Rücktritt würde zu Hause eine Verfolgung nach sich ziehen, und eine Flucht war in Indien nicht ohne weiteres möglich. Nachdem Stalins Tochter Svetlana 1967 Indien als Zwischenstation für ihr Entkommen aus der Sowjetunion benutzt hatte, schloss Indira Ghandi mit der UdSSR einen Vertrag über die Auslieferung von Flüchtlingen ab.
„Paradoxerweise lehren aber die fernöstlichen Kampfkünste, dass der Schwache nicht die Schwächen, sondern gerade die Stärken des Starken ausnutzen soll.“
Im Februar 1970 waren die Straßen der indischen Hauptstadt voll von westlichen Hippies, von langhaarigen, bärtigen, haschichrauchenden Barfüßern, die dort eine „Erleuchtung“ suchten. Weder KGB-Agenten noch indischen Polizisten konnte auffallen, dass noch ein Mensch dazu kam, der genauso wie die anderen aussah, wie die anderen gekleidet war und wie die anderen sprach. Erst vor dem Tor der griechischen Botschaft trennte sich dieser Mensch von den anderen und verschwand. Dieser Verschwundene war Juri Besmenow. Monate später erschien in Nordamerika ein anderer Mensch mit einem Ausweis, ausgegeben auf den Namen Tomas David Schuman: ohne „h“ nach dem „T“ und mit einem „n“ am Ende.
Der Triumph der Schwachen
Schon damals war das Kräfteverhältnis zwischen dem Westen und dem sozialistischen Lager eindeutig. Nicht mal elementare Lebensmittel konnten die kommunistischen Länder selbst herstellen und mussten sie megatonnenweise bei ihren potenziellen Feinden einführen. Die sowjetischen Soldaten waren zwar jederzeit zum Kampf gegen Kapitalisten bereit, aber das Brot, das sie essen mussten, um ihre Bereitschaft zu erhalten, wurde aus amerikanischem oder argentinischem Weizen gebacken.
Heute ist dieses Ungleichgewicht noch größer geworden: Das Verhältnis zwischen dem Bruttosozialprodukt von Russland und dem der Nato-Länder liegt bei etwa 1:20. Nach den klassischen Vorstellungen der Kriegskunst könnte ein Krieg zwischen den beiden Seiten bei diesem Kräfteverhältnis höchstens ein paar Wochen dauern. Vor 57 Jahren hat Israel, damals noch technisch unterentwickelt, die Armeen von fünf Ländern innerhalb von sechs Tagen geschlagen. Heute tötet es seinen größten Feind gezielt in seinem Schlafzimmer in einem höchstbewachten Hotel 1000 Kilometer von der israelischen Grenze, mitten im Feindesland. Zugleich aber kämpft das Land seit über 300 Tagen gegen eine Terrorbande, und der Sieg ist nicht in Sicht. Solche Beispiele führen uns zu einer Grundsatzfrage: „Wie kann eine um Größenordnungen schwächere Seite im Kampf gegen einen turmhoch überlegenen Gegner bestehen oder sogar siegen?“
Tomas Schuman trat in den 1980er Jahren mit zahlreichen Vorträgen in den USA auf, die er in der Regel genau mit dieser Frage anfing. Aus seiner Sicht geben die fernöstlichen Kampfsportarten eine einfache Antwort darauf: Indem die überlegene Kraft des Stärkeren gegen ihn selbst gewendet wird. Es wäre hoffnungslos, wenn der Schwächere versucht, die Schwächen des Stärkeren auszunutzen: Weil der Schwächere per Definition mehr Schwächen hat, kann er im Wettbewerb der Schwächen nur verlieren. Paradoxerweise lehren aber die fernöstlichen Kampfkünste, dass der Schwache nicht die Schwächen, sondern gerade die Stärken des Starken ausnutzen soll. Die Kraft, mit der der Starke geschlagen wird, besteht zu 80 bis 90 Prozent aus dessen eigenen Muskelkraft, zu der der Schwache geschickterweise nur 10 bis 20 Prozent seiner Muskelkraft hinzufügt.
„Die Subversionsarbeit bedarf keiner Verschwörungsmentalität, sondern eher einer bürokratischen.“
Der geniale Vertreter dieser Ideen war noch im 5. Jahrhundert v.Chr. Sun Tzu (auch Sunzi oder Meister Sun genannt), dessen von Tomas Schuman oft zitiertes Buch über die Kriegskunst neben dem von Clausewitz zum absoluten Muss für jeden gehört, der sich über die Politik und deren „Fortsetzung mit anderen Mitteln“ Gedanken macht. „Ein schlechter Feldherr“, sagt Sun Tzu, „zieht in den Krieg, um zu gewinnen. Der gute Feldherr gewinnt, und erst dann zieht er in den Krieg.“ Denselben Gedanken wiederholt er immer wieder in verschiedenen Worten: „Nicht derjenige ist der größte Feldherr, der in Hundert Schlachten Hundert Siege erreicht hat, sondern derjenige, der den Feind ohne eine einzige Schlacht geschlagen hat.“ Und weiter: „Kampf auf dem Schlachtfeld ist die primitivste Art von Krieg. Es gibt keine höhere Kunst als Zerstörung des Feindes ohne Kampf – durch Subversion aller Werte im Feindesland.“
Das konkrete Programm
Diese auf fernöstliche Art und Weise formulierten Paradoxien finden ihre Konkretisierung in einem präzisen Welteroberungsprogramm, das laut Schuman in jeder KGB-Schule unterrichtet wurde. Das Programm besteht aus vier Phasen: Demoralisierung (15 bis 20 Jahre), Destabilisierung (2 bis 5 Jahre), Krise (wenige Monate) und Normalisierung (je schneller, desto besser).
Die Dauer der ersten Phase ist merkwürdig und darf nicht unkommentiert bleiben. Sie bedeutet einerseits, dass in dieser Zeit in der subvertierten Gesellschaft ein Generationswechsel stattfindet und Menschen erwachsen werden, die an die alten sozialen Strukturen keine eigenen Erinnerungen mehr haben. Andererseits gilt die Bedingung eines Generationswechsels natürlich auch für die Menschen, die am Subversionsplan arbeiten. Sie sollen also keine typischen Verschwörer sein, die nach einem erfolgreichen Putsch an die Macht kommen hoffen. Auch wenn man die letzte (Normalisierungs-)Phase als Putsch bezeichnen könnte, werden einige, die die erste Phase entwickeln und ausarbeiten, den Erfolg nicht mehr erleben; andere vielleicht als Rentner. Das ist die Trivialität des Bösen: Die Subversionsarbeit bedarf keiner Verschwörungsmentalität, sondern eher einer bürokratischen. Sie braucht Menschen, die sorgfältig ihre Aufträge erfüllen und intelligent ihre Aufgaben lösen, ohne die Fragen nach dem großen umfassenden Sinn zu stellen.
„Die wichtigsten Bereiche sind Religion, Medien, Bildung und Kultur.“
Ein Grund, warum Tomas Schuman die Demoralisierungsphase am ausführlichsten beschreibt, ist, dass er selbst als Novosti-Agent daran gearbeitet hat. Unter der Leitung eines KGB-Offiziers organisierte er die ersten Kontakte zu Personen, die für den sowjetischen Geheimdienst vom Interesse waren, sammelte vollständige Information über diese (einschließlich aller Einzelheiten aus deren Privatleben, von Essgewohnheiten bis zu den flüchtigsten erotischen Passionen) und übergab die Personen weiter an das KGB. Denn der Umfang der Demoralisierungsarbeit ist so groß – wie wir unten sehen werden –, dass sie niemals von den sowjetischen Agenten bewältigt alleine werden könnte; vielmehr waren diese Agenten auf Tausende willige Helfer aus den zu subvertierenden Ländern angewiesen, und Menschen wie Besmenow sollten die entsprechenden Freundschaften in Gang bringen.
Auch in finanzieller Sicht ist die Demoralisierungsphase die wichtigste. Laut Schuman wurden für diese kaum sichtbare Arbeit deutlich mehr als 50 Prozent des Gesamtbudgets des KGB ausgegeben, im Vergleich mit maximal 15 Prozent für spektakuläre Angriffe, hollywoodverdächtige Verfolgungen und Attentate. Im scharfen Gegensatz zu den letztgenannten Aktionen besteht die Demoralisierungsarbeit hauptsächlich aus ganz legalen, nahezu unverdächtigen Tätigkeiten. Die Arbeit wird grob in drei Richtungen unterteilt: Ideologie, Politik und Gesellschaft, deren jede in mehrere Bereiche gegliedert wird.
Die Verbreitung von Ideen
Wer sich daran erinnert, dass zu den Schumans Zeiten der Ostblock von der „einzig wahren“ marxistischen Ideologie beherrscht wurde, könnte denken, dass die Arbeit in Richtung Ideologie v.a. aus der Propaganda der Ideen von Marx, Engels und Lenin bestand. Kein Irrtum könnte größer sein! Einer noch nicht aufnahmewilligen Gesellschaft die eigene Ideologie aufzudrängen, wäre ein unverzeihlicher Fehler. Was stattdessen erfolgen soll, ist eine langsame und planmäßige Zersetzung der in der zu unterwerfenden Gesellschaft bestehenden Ideen. Die wichtigsten Bereiche sind Religion, Medien, Bildung und Kultur.
Im Bereich Religion solle die Kirche von der Verkündigung von Lebenssinn und Lebenserfüllung zu sozialen Problemen und Unterhaltung gewendet werden. Nicht der Glaube, sondern die sozialen Probleme sollten der Inhalt der Predigt sein; nicht transzendent, sondern immanent, diesseitig sollten ihre Inhalte werden. Religionsgemeinschaften sollten politisiert oder kommerzialisiert werden, am besten beides, indem sie sowohl Parteipolitik be- als auch Geld eintreiben. Tomas Schuman übertrieb vielleicht – aber nur ein bisschen –, als er sagte: „Eine Rock- oder Pop-Gruppe, die im Gottesdienst eine Message über ‚soziale Gerechtigkeit‘, mit pseudospiritueller Zuckerglasur bestrichen, vermittelt, hilft der Sowjetunion besser als ein Redner, der einen ganzen Tag über die marxistisch-leninistische Doktrin gepredigt hätte.“
„Sobald die Bildungsschicht einmal korrumpiert wird, ist der weitere Dekadenzvorgang nicht mehr reversibel.“
In den Bereichen Bildung und Kultur sollen Konzepte wie Wahrheitssuche, Sitten und Normen kritisiert werden; stattdessen sollte totale Relativität aller Prinzipien gelehrt werden. Das Ziel ist, eine Beliebigkeit von Moral, Wissen und Werten zu verbreiten. Anything goes; es gibt keine Fakten, keine einigermaßen feste Grundlage, auf der bestimmte Aussagen anzunehmen, andere abzulehnen wären. Alles ist fließend, und es gibt keine Grenzen, u.a. auch keine Begriffsgrenzen. Da jegliche Kriterien für eine Bildungshierarchie nun fehlen, sondern alles gleichwertig ist, verbreitet sich Halb-, Viertel-, Sechzehntel- oder überhaupt Unbildung mit Magister-. Doktor- und Professorentiteln. Sobald die Bildungsschicht einmal korrumpiert wird, ist der weitere Dekadenzvorgang nicht mehr reversibel. Die junge Generation begreift schnell, dass von einem „Intellektuellen“ lediglich eine richtige Haltung gefordert wird, aber keinerlei Denkvermögen oder um Gottes Willen Faktenwissen.
Schon 1983, als die ganze Welt die amerikanische Ivy-League-Universitäten als Thron der wissenschaftlichen Halbgötter angesehen und angebetet hat, warnte Schuman vor „den Generation der Hochschulabsolventen, die die Revolution in Nicaragua begrüßen, ohne dieses Land auf der Karte zeigen zu können“ – ein Gruß über 40 Jahre hinweg an die heutigen Massen studierender Antisemiten, die zu einem „Palästina vom Fluss bis zum Meer“ aufrufen, aber was für ein Fluss ist es und wie dieses Meer heißt, davon haben sie keine Ahnung und wollen auch keine haben.
Subvertierte Politik
Die Richtung Politik wird in mehrere Bereiche unterteilt: Recht, Sicherheit, Innenpolitik, Außenpolitik, Nationalpolitik, Arbeitspolitik. Im ersten Bereich soll die Diskussion zwischen Recht und Moral angezettelt werden. Das Ziel ist, den Widerspruch zwischen den beiden als eine Kluft zu politisieren und somit das Vertrauen auf das positive Recht zu unterminieren: Was intuitiv als „gut“ empfunden wird („gesundes Volksempfinden“ in alter totalitärer Sprache), soll die Priorität vor dem Gesetz haben.
Im Bereich Sicherheit soll mit allen Mitteln Misstrauen gegenüber allen Sicherheitsstrukturen (Armee, Polizei, Geheimdienste) gesät werden. Diese Strukturen sollen verpönt und verhöhnt werden. Tatsächlich gibt es darin immer Einiges zu beanstanden („Ein General war so dumm, dass sogar andere Generale das merkten“, lautet ein alter Witz), und jeder Makel, jeder Vorfall, jedes Missverständnis muss maximal aufgeblasen werden. Das Gefühl der Überlegenheit der zivilen Gesellschaft gegenüber Sicherheitseinrichtungen soll gesteigert werden, bis es in einem Augenblick plötzlich zu einem Unsicherheitsgefühl umkehrt: Plötzlich begreift der Bürger – und vor allem die Bürgerin – dass sie Angst hat, abends auf die Straße zu gehen, wo sie von Kriminellen angegriffen werden kann, ohne mit der Hilfe von den ach-so-dummen und verachteten Cops rechnen zu können.
Die Außenpolitik soll v.a. destabilisiert werden: Die geltenden völkerrechtlichen Verträge sollen in Frage gestellt werden, besonders diejenigen, die eine spezielle Verantwortung beinhalten, wie z.B. die Verträge über die gegenseitige Militärhilfe oder Waffenlieferungen. Dabei soll gerade die Offenheit der Gesellschaft, die den Bürgern erlaubt, über die Ziele und die Agenda der internationalen Politik offen zu diskutieren, zu destruktiven Zwecken genutzt werden. Das Ziel besteht darin, bei den internationalen Partnern des subvertierten Landes das Gefühl zu erwecken, dieses Land sei kein zuverlässiger Partner mehr. Das Misstrauen der internationalen Umgebung schlägt dann auf das Zielland zurück und ruft ein Gefühl der Isolierung hervor, das weiterhin zur wachsenden Unsicherheit und Angst beiträgt.
„Der Schwache schlägt den Starken, indem er die überlegene Kraft des Starken gegen diesen selbst anwendet.“
Die drei Bereiche Innen-, National- und Arbeitspolitik sollen Felder zunehmender Interessenkonflikte werden. Hier ist nochmal zu betonen, dass die subvertierenden Kräfte keine sozialen Widersprüche erfinden oder erschaffen sollten (eine unmögliche Aufgabe), sondern diejenigen ausnutzen, die sowieso ganz normal in jeder Gesellschaft existieren und in jeder offenen Gesellschaft frei debattiert werden. Wiederum folgt man den Prinzipien der fernöstlichen Kampfkünste: Der Schwache schlägt den Starken, indem er die überlegene Kraft des Starken gegen diesen selbst anwendet.
So gibt es in jeder Gesellschaft Minderheiten (z.B. sexuelle, ethnische oder Sprachminderheiten), die sich in der Mehrheitsgesellschaft unwohl fühlen und um mehr Rechte kämpfen. Unter Diktaturen werden ihre Bestrebungen unterdrückt, auch die Existenz dieser Minderheiten geleugnet. In Demokratien dürfen sie dagegen offen auftreten und ihre Forderungen stellen, die aber nicht immer und sofort erfüllt werden. So können Menschen, die einen Dialekt sprechen, damit unzufrieden sein, dass zu wenige Schulen ihre Sprache lehren und sie zu selten bei Theateraufführungen zur Geltung kommt. Jede auch so winzige Minderheit soll deshalb unterstützt, ihre speziellen Rechte betont, ihre Ressentiments gegen die Mehrheit und gegeneinander aufgeheizt werden. Jede Gruppe soll auf ihrer einzigartigen Identität bestehen („Identitätspolitik“) und keine Kompromisse eingehen. Jeder potentielle und natürliche Interessenkonflikt (etwa: Die Städter wollen möglichst billige Lebensmittel, die Bauern möglich teure) soll zu einer Grundsatzfrage erhoben werden. Im Ergebnis soll eine Gesellschaft entstehen, die nicht bloß durch eine Bruchlinie (etwa: arm gegen reich) gespalten wird, sondern durch zahlreiche gegenseitige Ansprüche und durch einen Privilegienkampf wie eine Glasscheibe zerbrochen und zersplittert wird.
Sehr wichtig ist die wachsende Kompromisslosigkeit und Verhandlungsunfähigkeit der Gewerkschaften (Bereich Arbeitspolitik), insbesondere in den Domänen der Wirtschaft, in denen die großen Massen der Bevölkerung betroffen werden (der öffentliche Dienst, der Verkehr). Das Ziel ist, dass der Klassenkampf auch diejenigen erreicht, die eigentlich mit keiner der kämpfenden Klassen zu tun haben. Es sollen Gewerkschaftsführer vorbereitet werden, die den prinzipiellen Sieg über das Wohl der gewöhnlichen Gewerkschaftsmitglieder stellen. Somit wird eine Lage vorbereitet, in der die Gewerkschaften sich nicht mehr den Kapitalisten, sondern dem Gros der Bevölkerung gegenüberstellen.