04.11.2020
Alles nur Verschwörung? Alles nur Theorie?
Von Boris Kotchoubey
Ein Gespenst geht um in der deutschen Politik und regierungstreuen Hofmedien: Das Gespenst der Verschwörungstheorien.
Noch vor wenigen Jahren hat man über Verschwörungstheorien bloß gelächelt. Die Idee, dass die Mondlandung amerikanischer Astronauten 1969 in der Tat in einem Studio aufgenommen worden war, hat man meistens erst nach einem dritten Glas diskutiert. Als im Dezember 2014 in der selbsternannten intellektuellen Hauptstadt Deutschlands, dem schwäbischen Tübingen, ein überfülltes Auditorium mit stehenden Ovationen den Vortrag darüber begleitete, wie der Vize-Präsident der USA Dick Cheney die Attentate am 11.09.2001 organisiert hatte, war die Reaktion der großen Politik auf dieses Ereignis bescheiden. Es galt als Selbstverständlichkeit, dass jeder jeden Unsinn reden darf, sogar in Tübingen. Und wen kümmerte 2014 eigentlich ein Dick Cheney?
Das hat sich 2020 radikal geändert. Der Bundespräsident betrachtet in seinen Reden die Verschwörungstheorien als eine der Hauptbedrohungen für die deutsche Demokratie (ein Politiker, der in seinem Leben keine freien Wahlen gewonnen hat, versteht sich natürlich in Sachen Demokratie bestens). Der einst gute Welt-Journalist Jacques Schuster bezeichnete „Verschwörungstheoretiker“ als "brüllende Verirrte", und während sogar bekennende Neonazis in einer demokratischen Gesellschaft aufmarschieren dürfen (unter hygienischen Auflagen, versteht sich), wollen manche Politiker „keine Demonstrationen von Verschwörungstheoretikern“ mehr erlauben.
Eine Spitze wurde wahrscheinlich in einer Talkshow vom 7.09.2020 erreicht, in der zwei Politiker zwei entgegengesetzte Meinungen über die Vergiftung des russischen Oppositionellen Nawalny äußerten. Dabei behaupteten die beiden, die Meinung des Gegners sei eine Verschwörungstheorie. Somit kann man die allgemeine These formulieren: Als Verschwörungstheorie kann heute jede politische Meinung bezeichnet werden, die von der offiziellen Meinung, oder von der Mehrheitsmeinung, oder einfach von der eigenen Meinung des Sprechers abweicht. Früher hat man Abweichler oft beschuldigt, „Verschwörer“ zu sein, heute brandmarkt man sie als „Verschwörungstheoretiker“.
Was ist sie aber, eine Verschwörungstheorie?
Was ist eine Verschwörungstheorie und was ist sie nicht
Prof. Michael Butter1 beginnt sein empfehlenswertes Buch über Verschwörungstheorien mit dem Verweis auf den amerikanischen Politikwissenschaftler M. Barkun, der behauptete, solche Theorien beruhten auf drei Annahmen: (1) nichts geschieht durch Zufall, (2) alles ist miteinander verbunden, und (3) nichts ist, wie es scheint. Doch diese drei Kriterien reichen offensichtlich nicht aus. Jeder Philosoph würde im Allgemeinen der These (3) zustimmen (sonst wäre Philosophie Unsinn); die meisten von Ihnen würden auch die These (1) akzeptieren, und einige (etwa Thomas von Aquin oder Nikolaus von Cusa) auch die These (2). Das macht sie aber nicht zu Verschwörungstheoretikern.
„Als Verschwörungstheorie kann heute jede politische Meinung bezeichnet werden, die von der offiziellen Meinung, oder von der Mehrheitsmeinung, oder einfach von der eigenen Meinung des Sprechers abweicht.“
Vor allem besteht das Wort aus zwei Teilen, "Verschwörung" und "Theorie". Fangen wir beim ersten Teil an, denn man kann nicht verstehen, was eine Theorie von X ist, wenn man keine Ahnung davon hat, was X ist.
Zu Beginn des Mittelalters haben einige wenige Bandenführer v.a. germanischer und skandinavischer Herkunft zusammen mit ihren Gangs Westeuropa unter sich aufgeteilt und eine neue Klasse des feudalen Adels gebildet. Ihre Zahl war sehr gering: Die Franken z.B., die im 5.Jh. Gallien eroberten, machten nur ca. 3 Prozent der gallischen Bevölkerung aus. Die Skandinavier, die im 9.Jh. den russischen Staat gründeten und seine Elite bildeten, lagen zahlenmäßig unter einem Prozent gegenüber ihren slawischen und ugro-finnischen Untertanen. Waren diese erfolgreichen Coups Ergebnisse von Verschwörungen? Offensichtlich nicht. Hochpräzise Wissenschaften wie die Physik können sich leisten, den Begriffen wie "Masse" eine neue, genaue wissenschaftliche Bedeutung zu geben, aber die Politikwissenschaft hat dieses Niveau bei weitem nicht erreicht. Wir müssen daher die Wörter in ihrer normalen, alltäglichen Bedeutung nehmen. Quark soll für uns ein Milchprodukt sein, kein Elementarteilchen. Als "Verschwörung" dürfen wir nur das nennen, was in der allgemeinen Sprache "Verschwörung" heißt.
Wikipedia definiert eine Verschwörung als „das zielgerichtete, konspirative Wirken einer meist kleinen Gruppe von Akteuren zu einem meist illegalen oder illegitimen Zweck.“2 Erstens handelt es sich um ein meistens illegitimes Vorhaben. Zweitens gehört dieses Vorhaben einer engen Gruppe; es hat keinen Sinn über eine Verschwörung von Hunderttausend Menschen zu reden; Ausdrücke wie etwa "eine Verschwörung der Kapitalisten gegen das arbeitende Volk" sind reine Metaphern. Drittens wird das Vorhaben rational, durchdacht, planmäßig, in steter Absprache unter den Verschwörern und (last but not least) im Geheimen realisiert. Also sind die Merkmale einer Verschwörung (i) das Vorhandensein einer engen Gruppe von Verschwörern, (ii) Planmäßigkeit, Rationalität ihres Vorgehens und (iii) gegenseitige geheime Absprache. Fehlt eine dieser Komponenten, handelt es sich nicht um Verschwörung. Selbstverständlich gilt das gleiche auch für „Theorien“: Vermute ich z.B. einen Klassenkampf statt Gruppenkampf (Verstoß gegen (i)), oder sehe ich das Vorgehen der „Feinde“ nicht als rational, sondern als spontan an (Verstoß gegen (ii)), oder behaupte ich, dass sich das Zusammenwirken bestimmter Gruppen ohne notwendige Geheimabsprache erfolgt (Verstoß gegen (iii)), so darf meine Sichtweise nicht als Verschwörungstheorie klassifiziert werden.
Der Adel übte im Mittelalter seine Macht über 99 Prozent der Bevölkerung Tausend Jahre lang aus, ohne sich abzusprechen und ohne einen gemeinsamen, rationalen Plan der Machtausübung zu haben. Noch mehr: Teile der feudalen Aristokratie waren miteinander verfeindet und führten immer wieder blutige Kriege gegeneinander. Diese Feindschaften und Kriege änderten aber nicht die Tatsache, dass sie doch Teile einer Elite waren, die gemeinsame Interessen hatten und diese Interessen gegen den Rest der Gesellschaft erfolgreich durchsetzten, Jahrhundert für Jahrhundert.
„Wenn Daimler und BMW einstimmig behaupten, dass Automobilität der höchste Wert eines modernen Menschen sei, so wird man nicht an eine Verschwörung der beiden denken.“
In unserer Zeit ist es völlig logisch und gar nicht paradox, dass z.B. Unternehmen der gleichen Branche einerseits einander bekämpfen, wetteifern (weil sie die gleichen Produkte auf dem begrenzten Markt verkaufen wollen), andererseits aber die gleiche Ideologie und Politik betreiben (auch weil sie die gleichen Produkte verkaufen wollen!). Sie sind Gegner und Alliierte zugleich, und zwar aus demselben Grund. Sie haben gemeinsame Interessen, zur deren Durchsetzung sie auch eine gegenseitige Absprache haben können, aber nicht unbedingt müssen. Wenn Daimler und BMW einstimmig behaupten, dass Automobilität der höchste Wert eines modernen Menschen sei, so wird man nicht an eine Verschwörung der beiden denken.
In einem seiner Auftritte ironisierte Dieter Nuhr über die Idee, dass alle ÖR Medien in Deutschland Teile einer Maschinerie seien, deren Ziel Ideologisierung und Indoktrinierung der Bevölkerung sei: eine Art Propagandaministerium. Nuhr sagte, dass zwischen verschiedenen Teilen der ÖR Medien, zwischen verschiedenen Abteilungen nicht nur keine Zusammenarbeit besteht, sondern im Gegenteil oft eine offene Feindschaft herrscht, und dass (an dieser Stelle wurde seine Stimme sehr leise, doch deutlich vernehmbar) die leitenden Figuren des ÖRF gar keine intellektuelle Fähigkeit besitzen, irgendeinen vernünftigen, konsequenten Plan zur Betörung und Indoktrinierung der Zuhörer und Zuschauer zu entwickeln.
Aufgrund der vorangegangenen Überlegungen sehen wir aber jetzt, dass Nuhrs Argument nu(h)r dann gültig ist, wenn es gegen eine "kanonische Verschwörungstheorie" arbeitet, d.h. gegen die Vorstellung, dass die Leiter der ÖR Medien in einer gemeinsamen und geheimen Absprache (vielleicht mit führenden Politikern?) beschlossen haben, ein Programm zum Belügen des deutschen Volkes zu erarbeiten und auszuführen. Eine solche Vorstellung ist in der Tat unhaltbar – da hat Nuhr vollkommen Recht – aber auch nicht nötig. Um eine gemeinsame politische Agenda zu verfolgen, brauchen Menschen weder eine gemeinsame Organisation noch eine gegenseitige Sympathie, sondern nur ähnliche Interessen; selbst wenn sie voneinander nichts wissen, oder einander wie die Pest hassen, können sie faktisch zusammenarbeiten.
„Um eine gemeinsame politische Agenda zu verfolgen, brauchen Menschen weder eine gemeinsame Organisation noch eine gegenseitige Sympathie, sondern nur ähnliche Interessen.“
Also haben wir zwei verschiedene Situationen: Eine "kanonische Verschwörung" (eine kleine Gruppe von Verschwörern, die alles miteinander abgesprochen haben, arbeitet nach einem teuflisch rationalen, bis ins kleinste Detail durchdachten Plan). Oder einfach Verfolgung eigener objektiver Interessen3, was Menschen (möglicherweise unbewusst oder sogar gegen ihren bewussten Willen) zur faktischen Zusammenarbeit mit anderen Menschen zwingt, die ähnliche Interessen haben. Diesen ganz verschiedenen Situationen entsprechen auch verschiedene Ideen über diese Situationen: Die Idee über die Erstere ist eine "kanonische Verschwörungstheorie", die Idee über die Letztere ist es nicht; sie kann eine tiefe Analyse der gesellschaftlichen Lage darstellen (kann dabei aber auch eine fehlerhafte Analyse sein). Wenn man die letztere Situation (eine Synergie sozialer Kräfte) als die erstere (Verschwörung einer kleinen Gruppe) auffasst, hat man eine Verschwörungstheorie im pejorativen Sinne, d.h. eine extreme, manchmal alberne Vereinfachung der politischen Realität.
Nun zum Begriff „Theorie“, der den zweiten Teil der „Verschwörungstheorie“ bildet. Um zu verstehen, inwieweit die Verschwörungstheorien Theorien sind, muss man streng zwischen drei Dingen unterscheiden: Dem Inhalt einer Verschwörungstheorie, ihrer Form qua Verschwörungstheorie und ihren Argumenten. Der Inhalt behauptet eine bestimmte politische Tendenz, z.B. „im Land XYZ wächst Armut“ oder „als Flüchtlinge kommen nach Deutschland v.a. junge aggressive Männer“. Die Form sagt, dass hinter dieser Tendenz eine Verschwörung steht, die es aufzudecken ist. Kritiker von Verschwörungstheorien vermengen stets das eine mit dem anderen und behaupten: Wenn die Form falsch ist (d.h. es gibt keine Verschwörung), dann ist auch der Inhalt falsch (die Armut nimmt im Land XYZ nicht zu). Diese Logik ist irreführend, wie wir unten an einigen Beispielen zeigen.
Die dritte Komponente – die Argumentation – ist die, die die Kritiker am meisten angreifen. Dennoch hat sie mit der typischen Argumentation wissenschaftlicher Theorien einiges gemeinsam. Auch wissenschaftliche Theorien suchen nach verborgenen Zusammenhängen zwischen anscheinend nicht-zusammenhängenden Erscheinungen, nach der Möglichkeit, sehr viele verschiedene Prozesse aus wenigen wirkenden Mechanismen zu erklären.4 Auch wissenschaftliche Theorien schrecken nicht von Vereinfachung zurück, und die moderne Naturwissenschaft fing sogar mit der Supervereinfachung Galileos an, der in seinem Fallgesetz den Luftwiderstand ignoriert hat.
„Verschwörungstheorien operieren sehr stark mit dem ‚Cui bono?‘-Argument, das auch von Juristen aktiv angewendet wird. Während aber Kriminalbeamte dieses Argument nie als den endgültigen Schuldbeweis verwenden, machen viele Verschwörungshypothesen diesen absurden Fehler.“
Verschwörungstheorien operieren sehr stark mit dem „Cui bono?“-Argument, das auch von Juristen aktiv angewendet wird. Während aber Kriminalbeamte dieses Argument nie als den endgültigen Schuldbeweis verwenden, machen viele Verschwörungshypothesen diesen absurden Fehler. Wenn im Krieg zwischen Ländern X und Y das Land X gewinnt, dann beweist die Tatsache, dass der Gewinner letztendlich vom Krieg profitierte, keineswegs die Hypothese, dass das Land X auch der Aggressor war. „Cui bono?“ ist ein wesentlicher Aspekt der historischen Untersuchung, aber wäre er der einzig wichtige Aspekt, müsste man die sämtliche Weltgeschichte umschreiben.
Der entscheidende Unterschied zwischen der verschwörungstheoretischen und der wissenschaftlichen Beweisführung besteht darin, dass die wissenschaftlichen Theorien prinzipiell widerlegbar sind, d.h. sie sehen Fakten vor, die, falls sie tatsächlich beobachtet würden, die Theorie widerlegen würden. Typische Verschwörungstheorien werden dagegen so formuliert, dass sie jeden wirklichen oder nur möglichen Fakt an sich anpassen können, und sind damit prinzipiell unwiderlegbar. Kürzer gesagt: Eine typische wissenschaftliche Theorie ist offen, eine typische Verschwörungstheorie ist geschlossen.
Wie wichtig dieser Unterschied auch ist, muss auch er relativiert werden. Zum einen muss nicht jede Hypothese über eine mögliche Verschwörung unbedingt diesen fatalen logischen Mangel aufweisen; sie kann auch faktenbasiert sein. Zum anderen gilt der Widerlegbarkeitsgrundsatz nur für wirklich wissenschaftliche aber nicht für pseudowissenschaftliche Theorien. Typische Beispiele sind die biologische Rassenlehre, die Psychoanalyse oder die sogenannte Gender-Forschung. Diese und andere Pseudowisssenschaften sind im obigen Sinne geschlossen; ihre wichtigsten Ideen stehen fest, noch bevor die Forschung anfängt. Wenn also viele (nicht alle) Verschwörungstheorien an der tödlichen Krankheit einer kreisförmigen Selbstbestätigung leiden, so gilt diese Diagnose auch für andere Theorien, die viele Menschen für wissenschaftlich halten bzw. hielten, und deren Erforschung großzügig mit öffentlichen Geldern gefördert wird bzw. wurde.
„Grau ist die Theorie…“
Oben haben wir festgestellt, dass der Glaube an eine Verschwörung entweder korrekt ist (wenn es in der Tat eine Verschwörung gibt); dann kann das Fehlen dieser Vorstellung sogar fatal sein, wie es z.B. mit der provisorischen Regierung Russlands im Herbst 1917 der Fall war. Oder sie ist falsch und irreführend, wenn sie ein Resultat eines komplexen Zusammenwirkens verschiedener sozialer Interessen in einer primitiven Art und Weise als „Verschwörung“ deutet. Leider ist das Leben wie immer etwas komplizierter. Denn zwischen diesen zwei entgegengesetzten Situationen gibt es zahlreiche Übergänge.
„Der entscheidende Unterschied zwischen der verschwörungstheoretischen und der wissenschaftlichen Beweisführung besteht darin, dass die wissenschaftlichen Theorien prinzipiell widerlegbar sind.“
Beispiel 1: Zeitgeist. Die erste Hälfte des 20.Jh. charakterisierte sich durch autoritäre politische Bewegungen überall in der Welt von Südamerika über Portugal bis nach Osteuropa. Demokratie galt in den meisten europäischen Ländern als überholt. Organisatorisch waren diese Bewegungen voneinander unabhängig. Der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus paktierten erst 1939, sechs Jahre nach der Machtergreifung Hitlers und ganze 17 Jahre nach der Machtübernahme Mussolinis. Es gab (mit wenigen Ausnahmen, z.B. der spanische Bürgerkrieg) keine Absprachen zwischen verschiedenen Bewegungen dieser Art und erst recht keine Geheimhaltung. Im Gegenteil haben einige Politiker ihre radikalen Konzepte laut und offen verkündet, etwa wie Mussolini und Hitler.5
Doch haben diese Bewegungen einander beobachtet und sich am anderen ein Beispiel genommen. Mussolini war vom Erfolg der Verschwörung Lenins in Russland (möglicherweise die erfolgreichste Verschwörung in der Menschengeschichte, worauf wir noch kommen werden) stark beeindruckt, und seine eigene Machtergreifungstaktik und Machtpolitik wurde zum Paradigma für andere Führer wie Salazar, Hitler und Franco. Insgesamt kann man sagen: Alle autoritären Bewegungen jener Epoche waren "des gleichen Geistes Kinder", doch es gibt nicht den geringsten Hinweis auf eine europaweite "rechtsautoritäre Verschwörung".
Beispiel 2. Zusammenarbeit. Wie oben gesagt, war die Lage in Spanien etwas anders: Franco hat sich nicht bloß "im Geiste" von den politischen Erfolgen der Rechten anderer Länder beflügeln lassen, sondern erhielt im Bürgerkrieg eine direkte organisatorische und militärische Unterstützung von Hitler und Mussolini. Eine solche Unterstützung bedeutet viel mehr als bloßes Verfolgen gemeinsamer Interessen oder als spirituelles Gefühl "wir kämpfen für die gleiche Sache". Aber eine geheime Verschwörung hat es auch hier nicht gegeben.
Noch näher an den allgemeinen Verschwörungsbegriff war z.B. die Zusammenarbeit zwischen europäischen und palästinensischen Terrorbanden in den 1970er Jahren. Sie waren nicht nur "des gleichen Geistes Kinder", sondern koordinierten systematisch (und im Geheimen) ihre Aktivitäten.6 Dennoch sollte man m.E. auch in diesem Fall nicht von einer Verschwörung sprechen. Die Hauptinteressen der zwei Bewegungen waren unterschiedlich, ihre Organisationsstrukturen und Leitungen unabhängig.
„Verschwörungstheorien können eine Sachlage extrem vereinfachen und dennoch in einigen wesentlichen Komponenten korrekt sein.“
Also ist das binäre Schema "richtig/falsch" selbst ein falsches. Eine Verschwörungstheorie kann auch teilweise richtig sein. Von einer RAF-palästinensischen Verschwörung der 1970er Jahre zu sprechen wäre zwar im Allgemeinen eine starke Vereinfachung, doch würde diese Vorstellung auch bestimmte Aspekte des damaligen Geschehens korrekt erfassen. Das ist keine Überraschung, denn – wie oben gesagt – Verschwörungstheorien teilen einige wichtige Eigenschaften wissenschaftlicher Theorien. Auch diese können eine Sachlage extrem vereinfachen und dennoch in einigen wesentlichen Komponenten korrekt sein.
Die Kontinuität beginnt schon mit den Begriffen. Was bedeutet z.B. „geheim“? Es gibt verschiedene Arten und Grade der Geheimhaltung, und es gibt viele offene Geheimnisse, etwa verschwörungsverdächtige Kontakte (z.B. zwischen angeblich „internationalen“ Organisationen wie WHO, FIFA oder dem Olympischen Komitee und den autoritären Diktaturen wie Russland und China), von denen man zwar wenig hört, aber die jedem bekannt sind.7 Das gleiche Problem besteht bei der Anzahl der Verschwörer. Die wirklich erfolgreichen Verschwörungen, von der literarischen des Fiesco in Genua bis zur historischen der russischen Bolschewiken wurden zwar „kanonisch“ von engen Gruppen nach allen Verschwörungsregeln ausgeführt, doch Erfolg hatten sie nur deshalb, weil sehr breite soziale Schichten mehr oder weniger, aktiv oder passiv auf der Seite der Verschwörer standen oder zumindest (teilweise) mit ihnen sympathisierten.
Obwohl zahlreiche Verschwörungstheorien in der Geschichte blanker Unsinn waren, enthielten viele anderen, zwar auch wesentlich falsche, doch einen rationalen Kern. Es gab entgegen dem Irrglauben des Abraham Lincoln keine Verschwörung der Sklavenbesitzer aus den Südstaaten der USA, die angeblich die Sklaverei in allen anderen Staaten einführen wollten; doch hatte Lincoln insoweit Recht, als die Koexistenz innerhalb einer Föderation zweier entgegengesetzten sozialen Prinzipien, das der Freiheit und das der Sklaverei, diesen föderativen Staat zur fatalen Instabilität verurteilte. Die bolschewistische Verschwörung hatte entgegen den antisemitischen Mythen zwar nichts Gemeinsames mit Judentum und jüdischen Traditionen; weil aber die Bolschewiken ihre Macht befestigten, indem sie die gesamte ethnisch-russische Bildungsschicht planmäßig ausrotteten, mussten sie, um die technische Regierbarkeit des Landes zu gewährleisten und nicht ins totale Chaos zu verfallen, auf gebildete Schichten anderer Ethnien zugreifen, und Juden waren (neben einigen anderen Völkern) die größte nicht-russische Gruppe, die genug gebildete Personen zur Verfügung stellen konnte. Die Verschwörungstheorie des McCarthismus in den USA der 1950er Jahre zeigte zwar deutliche paranoide Züge, u.a. die unsinnige Hypothese über die Verbindung zwischen Homosexualität und Kommunismus, aber wir wissen seit der Öffnung der KGB-Archive in den 1990ern, dass McCarthy und seine Anhänger die Anzahl der damaligen KGB-Agenten in den USA und den Ausmaß der kommunistischen Infiltration der politischen Eliten keineswegs über-, sondern vielmehr unterschätzt haben.8
„Eine Verschwörungshypothese kann inhaltlich richtig sein, indem sie die politischen Trends der Zeit korrekt erfasst; wenn sie aber diese Trends fälschlicherweise als Produkte einer Verschwörung deutet, irrt sie als Verschwörungstheorie.“
Eine Verschwörungshypothese kann inhaltlich richtig sein, indem sie die politischen Trends der Zeit korrekt erfasst; wenn sie aber diese Trends fälschlicherweise als Produkte einer Verschwörung deutet, irrt sie als Verschwörungstheorie. In einem Artikel von 1945 hat Hannah Arendt über eine weltumspannende antisemitisch-faschistische Verschwörung spekuliert9, in der der deutsche Nationalsozialismus eine zwar zentrale, aber nicht die einzige Rolle gespielt habe. Eine solche „faschistische Internationale“ hat es nicht gegeben. Arendts Fehler war die Annahme einer engen Koordination dort, wo es nur eine gemeinsame Arbeitsrichtung gab. Aber inhaltlich trafen Arendts Ideen zu: Sie hat sowohl den autoritären Geist der Epoche begriffen, als auch vollkommen korrekt auf den internationalen, dem klassischen Nationalismus entgegengesetzten Charakter des Nationalsozialismus hingewiesen. Heute wissen wir z.B., dass die „Herrenrasse der Übermenschen“, die vor Natur aus vorgesehen sei, über die Massen zu herrschen, nicht unbedingt Arier sein muss; sie kann auch „globale Elite“ heißen.
Je tiefer die Lücke zwischen Eliten und Volk in einer Gesellschaft klafft, je weniger transparent die Politik gemacht wird, je stärker politische Entscheidungen von den Personen und Strukturen abhängen, die von den Bürgern nicht gewählt werden und die keinerlei Kontrolle unterliegen (Medienkönige, Expertengremien, Wirtschaftsbosse etc.), umso reicher ist der Nährboden für Verschwörungstheorien, umso wahrscheinlicher ist (oder erscheint) es, dass diese Theorien, obgleich im Allgemeinen falsch, doch einen wahren Kern beinhalten. Wenn es stimmt, dass heute (so eine Meldung vom 06.09.2020) fast 30 Prozent der Deutschen an Verschwörungstheorien glauben, so liegt es wahrscheinlich nicht an einer plötzlich aufgetretenen Epidemie eines Wahnsinnvirus, sondern möglicherweise daran, dass auch diese Theorien in einer extrem vereinfachten und dadurch die Realität verzerrenden Form doch etwas Korrektes beinhalten. Um auf die Idee zu kommen, dass Bill Gates keinerlei Vertrauen verdient, braucht man z.B. gar keine Corona-Pandemie. Es reicht, wenn man Windows benutzt; und das Wissen über die Geschichte von Microsoft tut das letzte. „Ist der Ruf mal ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.“ Wer einen solchen Ruf erworben hat wie Bill Gates, soll sich nicht wundern, wenn ihm der Volksmund nicht nur „flüssige Chips“, sondern auch Herodes‘ Kindermord zutraut.
Liest man einige Texte von Eva Herman zum Thema Verschwörung des Finanzkapitals, erscheinen sie einem wie ein Irrsinn. Aber der Eindruck relativiert sich, wenn man diese Texte neben der offiziellen Webseite des World Economic Forum10 betrachtet, und man stellt überraschend mit Polonius fest: Though this be madness, yet there is method in’t.11
„Je tiefer die Lücke zwischen Eliten und Volk in einer Gesellschaft klafft, je weniger transparent die Politik gemacht wird, je stärker politische Entscheidungen von den Personen und Strukturen abhängen, die von den Bürgern nicht gewählt werden und die keinerlei Kontrolle unterliegen, umso reicher ist der Nährboden für Verschwörungstheorien.“
Poppers Komplexitätsargument
In einem Vortrag Ende der 1940er Jahre schlug Karl Popper ein Argument gegen Verschwörungstheorien vor, das er später in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ weiterentwickelte.12 Eine Weltverschwörung ist deshalb unmöglich, sagt Popper, weil die Wirklichkeit ein großes Netzwerk von negativen Rückmeldeschleifen darstellt, so dass jedes konsequente Verschwörungsvorhaben notwendigerweise zahlreiche Mechanismen in Gang setzt, die dem Vorhaben entgegenwirken. In seinem eigenen Beispiel: Wer ein Haus verkauft, ist natürlich an einem höheren Preis interessiert. Aber indem er das Haus zum Verkauf stellt, erhöht er das Angebot gegenüber der konstanten Nachfrage, was tendenziell zur Preissenkung führt. Der Markt kümmert sich also darum, dass genau der Wunsch, möglichst viel Geld für das Haus zu bekommen, dazu führt, dass der Verkäufer eher weniger Geld bekommt.
Was dieses konkrete Beispiel (und ähnliche andere) betrifft, so kann die Schwierigkeit überwunden werden, wenn z.B. der Hausverkäufer erfolgreich Gerüchte verbreitet, dass er gerne auch mehrere Häuser kaufen wollte. So wenig ich mich auf dem Häusermarkt auskenne, bin ich davon überzeugt, dass die Methode verbreitet ist und gut funktioniert. Um auf diese Idee zu kommen, braucht man kein Denker vom Weltrang sein, allein die Bauernschläue reicht.
Dies ändert nicht das Wesentliche an Poppers Argument. Die Welt ist zu komplex, man kann an eine oder einige der möglichen negativen Rückmeldeschleifen denken, aber nicht an alle. Die Idee einer Verschwörerclique, die alles voraussehen kann, ist der Überrest des Glaubens an den Teufel; sie setzt die Existenz übernatürlicher Wesen voraus, welche (wie Gott) allwissend und (nahezu) allmächtig sind.
Wichtiger ist aber, dass das Komplexitätsargument nicht die Existenz der realen Verschwörungen verneint, auch nicht der globalen Weltverschwörungen, sondern nur die Möglichkeit deren langfristigen Erfolgs.13 Es sei höchst unwahrscheinlich, sagt Popper, dass die Verschwörer die Früchte ihrer Verschwörung genießen. Das stimmt – aber müssen sie das überhaupt?
Korporative Verschwörungen
Als der amerikanische Richter Robert Jackson seine Eröffnungsrede vor dem Nürnberger Tribunal "Nazi Conspiracy" betitelte, meinte er nur am Rande jene Methoden, mit denen die NSDAP die absolute Macht in Deutschland erreichte.14 Seine Analyse unterscheidet sich deutlich von der oben beschriebenen kanonischen Verschwörung. Viele Ziele der Nazis waren öffentlich bekannt und standen sogar in den Parteiprogrammen, wenn auch Mittel zu ihrem Erreichen oft geheim waren. Auch waren zwar nicht alle, aber einige wichtige Schritte der Machtergreifung (u.a. die Ernennung Hitlers zum Kanzler) legitim. Als kanonische Verschwörung könnte höchstens der misslungene Putsch vom 1923 gelten. Eine Verschwörung war aus der Sicht Jacksons (und des Tribunals) die gesamte Politik der NSDAP-Spitze und insbesondere ihrer Gewaltstrukturen SA, SS, SD und Gestapo. Diese Politik, betonte der Richter, war keine Reihe „einzelner Barbareien und Perversionen“, sondern die Entfaltung eines konsequenten Plans.
„Wichtiger ist, dass das Komplexitätsargument nicht die Existenz der realen Verschwörungen verneint, auch nicht der globalen Weltverschwörungen, sondern nur die Möglichkeit deren langfristigen Erfolgs.“
Vieles deutet darauf hin, dass diese konspirative Arbeit nicht bloß über ein konkretes Ziel der Machtergreifung, sondern über die sämtliche Tagespolitik der NSDAP und sogar über die ganzen Generationen hinaus geplant wurde. Nicht zufällig sprach die Nazi-Propaganda von einem "tausendjährigen Reich". Vor allem die Vernichtungspolitik war in der Situation der extremen Kriegsanstrengung und eines akuten Arbeitskräftemangels nicht nur nutzlos, sondern direkt schädlich. Statt Juden und Zigeuner zu töten, wäre es aus praktischer Sicht viel vernünftiger, sie zu Tode arbeiten zu lassen, und die extra aufgebaute Vernichtungsinfrastruktur forderte Zeit und Kraft von Menschen, die im Kriegsdienst fehlten. Diese Argumente waren sowohl dem Militär als auch vielen Parteifunktionären vollkommen klar, und doch bestanden Hitler und Himmler darauf, die praktisch kontraproduktive Menschentötung unbeirrt fortzusetzen. Der Führer wollte den Krieg gar nicht gewinnen, wenn der Preis dafür ein endgültiger Verzicht auf wichtige Bestandteile der national-sozialistischen Ideologie wäre. Nicht der konkrete Sieg etwa über England oder Russland war das oberste Ziel, sondern nichts Geringeres als der Endsieg des Nationalsozialismus über die ganze Welt.15
Die Geheimstrukturen der NSDAP und insbesondere der SS funktionierten nicht als Gruppe individueller Verschwörer, sondern als Korporation. Dabei war vollkommen belanglos, ob ein einzelnes Mitglied (auch der Führer selbst) den Erfolg der gesamten Arbeit erlebt. Hauptsache, jeder arbeitet auf einen Endsieg; Generationen werden sich wechseln, bis in der fernen Zukunft eine neue menschliche Rasse, die Rasse der Sieger entsteht.
Zum Glück wurden der NS-Diktatur nur zwölf Jahre beschert, und wenn schon in dieser kurzen Zeit so viel Unheil passierte, so wurde der Menschheit zumindest das tausendjährige Verschwörungsalptraum erspart geblieben. Eine andere totalitäre Diktatur, die 70 Jahre bestand, hatte bessere Möglichkeiten, die gleiche Idee der korporativen Verschwörung zu verwirklichen.
Lenin & Co. waren in einem noch höheren Maße als Nazi-Bosse professionelle Verschwörer, die keinem anderen Beruf als der Konspiration ernst nachgingen. Noch 1903 spaltete sich die russische sozialdemokratische Partei an ihrer 2.Tagung entsprechend genau dieser Frage: Ob die Partei sich, wie typische politische Parteien, der breiten politischen Arbeit widmet (Menschewiken mit Plechanow), oder als geschlossene Gruppe im Untergrund geheim agiert und die politische Arbeit lediglich als Schirm benutzt (Bolschewiken mit Lenin). Nachdem das Vorhaben, den Kommunismus mit Waffengewalt nach Europa zu bringen, vor ziemlich genau 100 Jahren (am 25.08.1920) durch das „Wunder an der Weichsel“ gescheitert war, wurde der bolschewistischen Regierung klar, dass die Weltrevolution nicht durch einen direkten Angriff zu realisieren ist. Als berufliche Untergrundaktivisten änderten sie ihre Strategie und bauten sämtliche Außenpolitik der Sowjetunion (wie auch später die NASDAP) als gigantische Verschwörungsmaschine auf.
„Die Geheimstrukturen der NSDAP und insbesondere der SS funktionierten nicht als Gruppe individueller Verschwörer, sondern als Korporation.“
Laut Tomas Schuman16 (alias Yuri Bezmenov), einem KGB-Überläufer, gehörte zum absoluten ABC-Stoff für alle sowjetischen Geheimdienstler die sog. Subversionstheorie, d.h. die Lehre über die Mechanismen der feindlichen Übernahme eines Landes ohne Krieg. Die Subversion eines Landes geschieht entsprechend dieser Lehre in vier strategischen Phasen: Demoralisierung, Destabilisierung, Krisis und Normalisierung. Für unser Thema ist die erste Phase besonders interessant. Da wurden keinerlei konkreten Schritte zur Vorbereitung eines Putsches oder Aufstands o.ä. unternommen, sondern es wurden gewaltige Mittel (nach Schumans Angaben 3-4 mal mehr als für Spionage) für scheinbar harmlose Dinge verwendet wie die Unterstützung verschiedenartiger politischer und sozialer Bewegungen, die die gesellschaftliche Moral unterminieren und zum gegenseitigen Misstrauen, zur Entsolidarisierung und zum Aufkochen politischer Konfliktstoffe beitragen. Schuman unterstreicht, dass dabei den Versuchen, neue soziale Konflikte zu entfachen, viel weniger subversive Arbeit gewidmet wird als der Ausarbeitung des vorhandenen Konfliktmaterials, das es in jeder offenen Gesellschaft schon gibt.
Die Dauer dieser ersten Phase wurde auf 15 bis 20 Jahre angelegt, worauf noch drei weitere, kürzere Phasen folgten. Die Lebenserwartung russischer Männer lag in jenen Zeiten zwischen 60 und 63 Jahren. D.h. die gesamte Psychologie der „Verschwörer“ ist bei der korporativen Verschwörung eine andere als bei der kanonischen. Ein 50- oder 60-jähriger Geheimdienstoffizier, der einen Subversionsplan mitentwickelte, dachte möglicherweise gar nicht daran, den Erfolg des Gesamtunternehmens zu erleben. Er war bloß ein Mitarbeiter, der für seine Leistungen ein gutes Gehalt, bestimmte Privilegien sowie Respekt von Kollegen und Vorgesetzten erwartete, also nichts anderes, als jeder hochqualifizierte Mitarbeiter in jedem Betrieb erwartet. Das Böse wird banalisiert, und aus einem Verschwörer wird ein Funktionär.
Tomas Schuman beklagte, dass die breite US-amerikanische Öffentlichkeit zu wenig über die Verschwörungsarbeit des KGB wusste, und dies führt uns zurück zu einem der drei charakteristischen Merkmale der kanonischen Verschwörung: Geheimhaltung. Was für die breiten Massen möglicherweise ein Geheimnis war, war den Politikern und anderen Verantwortungsträgern längst bekannt. Fast ein Vierteljahrhundert bevor Tomas Schuman seine Aufklärungsarbeit begann, hatte einer der berühmtesten amerikanischen Politiker in einer seiner berühmtesten Reden gesagt:
„Überall in der ganzen Welt stehen wir einer monolithischen und skrupellosen Verschwörung gegenüber, die in erster Linie versteckte Mittel verwendet, um stets ihre Einflusssphäre zu erweitern. Diese Mittel sind Infiltration statt Invasion, Subversion statt politischer Wahlen und Guerillakämpfe im Dunkeln statt militärischer Schlachten bei Tageslicht. Das ist ein System, das enorme menschliche und materielle Ressourcen zu einer perfekt abgestimmten und hocheffizienten Maschinerie zusammenbindet, die militärische, diplomatische, geheimdienstliche, wirtschaftliche, wissenschaftliche und politische Operationen kombiniert und koordiniert. Ihre Vorbereitungsarbeit wird verborgen und nicht veröffentlicht. Ihre Fehler werden versteckt und nicht hervorgehoben. Ihre Kritiker werden mundtot gemacht und nicht gelobt. Keine Kosten werden als zu hoch angesehen, kein Gerücht kommt an die Oberfläche, kein Geheimnis wird aufgedeckt. Die Maschinerie führt den Kalten Krieg mit einer Kriegsdisziplin, welche zu erreichen eine Demokratie weder hoffen noch wünschen kann.“ (meine Fettschrift)
„Von den heutigen Demokraten würde John F. Kennedy als unverbesserlicher Verschwörungstheoretiker ausgelacht.“
Von den heutigen Demokraten würde John F. Kennedy, der diese Worte im Vortrag „The President and the Press“ am 27.04.1961 vor der Versammlung der Assoziation der Amerikanischer Zeitungsverleger hervorbrachte,17 als unverbesserlicher Verschwörungstheoretiker ausgelacht. Womöglich war auch Lee Harvey Oswald derselben Meinung.
Diese längeren Passagen aus der Epoche der totalitären Diktaturen des 20.Jh. bedeuten natürlich nicht, dass der Kampf gegen den Nationalsozialismus und der Kalte Krieg eine Parallele bilden mit der politischen Situation der Gegenwart. Die Geschichte ist kein Rezeptbuch und wiederholt sich nicht buchstäblich. Wenn die gegenwärtige Lage aber auch eine andere ist als im 20.Jh., so ist sie keineswegs einfacher. Der Totalitarismus des 20.Jh. hat die korporativen Verschwörungen perfektioniert, aber nicht erfunden. In der Renaissance haben spanische und französische Geheimdienste systematische Subversionsarbeit gegen England ausgeführt18, Vatikan gegen Frankreich, Jesuiten gegen protestantische Staaten, Russland hat im 19.Jh. regelmäßig Verschwörungen unter den slawischen Völkern im Osmanischen Reich und in Österreich-Ungarn organisiert, usw. Es gibt zwar entgegen der Weisheit Salomons etwas Neues unter der Sonne19, aber nicht so viel, wie manche glauben.
Fazit
Verschwörungstheorie ist kein inhaltloses Schimpfwort, keine neue Sprachkeule neben dem berüchtigten argumentum ad hitlerum, mit dem jeder unliebsame Disputant erschlagen werden kann.20 Die beiden Teile dieses Begriffs, sowohl „Verschwörung“ als auch „Theorie“, haben eine definierbare wissenschaftliche Bedeutung. Die Geschichte ist voll sowohl von Verschwörungen als auch von Theorien darüber. Eine besondere Stellung haben korporative Verschwörungen, die langzeitig angelegt werden können und die im Kommunismus und Nationalsozialismus an die Spitze getrieben wurden. Viele gängigen Verschwörungstheorien sind purer Unsinn, wobei ausgerechnet die Menschen, die die unsinnigsten Verschwörungstheorien verbreiten, paradoxerweise oft die realen Verschwörer sind. Andere solche Theorien können bestimmte Aspekte des Geschehens richtig erfassen; sie können auch inhaltlich vollkommen richtig sein, obwohl sie als Verschwörungshypothesen falsch sind (es gibt keine Verschwörung). Wieder andere können richtige Fragen stellen aber falsche Antworten darauf geben.
Wir leben in einer Welt, in der eine der größten Atommächte vollständig vom Geheimdienst beherrscht und regiert wird, und zwar von einem Geheimdienst, der genug Mittel besitzt, einen deutschen Bundeskanzler als einfachen Angestellten anzuheuern. Wir leben in einer Welt, in der ein anderer Staat eine totale digitale Kontrolle hat über eine Milliarde fleißiger, hoch kreativer Sklaven, die keinen Finger heben und keinen Laut aussprechen können, ohne dass die Regierung darüber sofort informiert wird. Wir leben in einer Welt, in der sogar in demokratischen Ländern immer mehr politische Entscheidungen hinter verschlossenen Türen von nicht legitimierten Strukturen gefällt werden, während die Legislative immer öfter zum Verein regierungstreuer Ja-Sager mutiert. Wer in einer solchen Welt alle Ideen über mögliche Verschwörungen für Unsinn hält, hat aus der Geschichte der vorigen Jahrhunderte, und insbesondere des vorigen Jahrhunderts, nichts gelernt. Wer alle Menschen, die an Verschwörungen denken, pauschal auslacht, lacht wahrscheinlich nicht als letzter.
Wer tatsächlich Wert darauf legt, unsinnige Verschwörungstheorien zu bekämpfen, kämpft für die konsequente Demokratisierung und Transparenz in der Politik. Wer dagegen darauf setzt, diese Theorien zu verteufeln und ihre Träger zu kriminalisieren, erregt nur den Verdacht: Es ist doch etwas dran.