17.03.2017

Noch kein Nexit

Kommentar von Christoph Lövenich

Titelbild

Foto: Jos van Zetten via WikiCommons / CC BY 2.0

Die niederländische Parlamentswahl diese Woche hat dem politischen Mainstream zwar keinen Wilders-Schock beschert, Unzufriedenheit mit der EU aber bleibt.

Merkel, Gabriel, Schulz, außerdem der Euroliberalen-Chef Verhofstadt und der französische Außenminister Ayrault – alle sind sie begeistert über den Ausgang der niederländischen Parlamentswahl am Mittwoch. „Das ist eine gute Nachricht für Europa und für die Niederlande", sagte SPD-Kanzlerkandidat Schulz und meinte damit nicht seine niederländischen sozialdemokratischen Kollegen vom kleineren Koalitionspartner PvdA, die den größten Mandatsverlust in der Geschichte des niederländischen Parlamentarismus zu erleiden hatten und unter 6 Prozent gelandet sind. Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) twitterte sogar einen gängigen Lobgesang auf die niederländische Fußballnationalmannschaft, als hätte diese gerade ein Turnier gewonnen. Der Jubel galt nicht seinen Freunden von der einst stolzen christlich-demokratischen Regierungspartei CDA, der aber immerhin eine Rückkehr in den zweistelligen Prozentbereich gelungen ist.

Nein, so klingt ein Aufatmen, als sei man dem Schreckgespenst Geert Wilders und seiner rechtspopulistischen PVV gerade so entronnen. Tatsächlich hat die PVV ein paar Prozent zugelegt, während die rechtsliberale VVD, Partei des als Wahlsieger gefeierten Premiers Mark Rutte, ein knappes Fünftel ihrer Mandate eingebüßt hat. Die Regierungskoalition ist massiv abgestraft worden, aber derlei Innenpolitik kümmert nicht weiter. Nein, Wilders, der den EU-Austritt seines Landes befürwortet, lag wieder einmal eine Zeitlang in Umfragen vorne und hätte Anführer der stärksten Fraktion werden können. Daran gemessen blieb die PVV hinter den Erwartungen zurück. Zu Wilders‘ zeitweiligem demoskopischen Höhenflug beigetragen hatte übrigens seine gerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung und Diskriminierung im letzten Dezember. So macht man Märtyrer, wenngleich das Urteil salamonisch genug ausfiel, ihn zwar für schuldig zu befinden, nicht aber zu bestrafen. Das führt zu Solidarisierungseffekten – gerade seit den politischen Morden an dem Populisten Pim Fortuyn 2002 und dem Regisseur Theo van Gogh steht der Wert der freien Meinungsäußerung bei vielen Niederländern hoch im Kurs.

Ironischerweise spielte beim jetzigen Wahlausgang gerade eine Beschränkung von öffentlicher Debatte eine wichtige Rolle. Ministerpräsident Rutte ließ eine türkische Ministerin ausweisen, um sie daran zu hindern, in einer Rede für ein Verfassungsreferendum zu werben, das die Befugnisse des zunehmend autokratisch regierenden türkischen Präsidenten Erdoğan erweitern soll. Zuvor war bereits ein Auftrittsverbot für Politiker der türkischen Regierungspartei AKP ausgesprochen worden. Ruttes VVD demonstrierte damit Härte zulasten freiheitlicher und demokratischer Werte. Rutte war vorgeworfen worden, durch diese Eskalation letztlich Erdoğan in seinem Abstimmungskampf begünstigt zu haben. Jetzt kann man es auch umgekehrt interpretieren: Der türkische Autokrat agierte als nützlicher Wahlhelfer für die größte Regierungspartei der Niederlande.

„Gesellschaftliche Konflikte lassen sich nicht ausräumen, indem man ihnen eine parlamentarische Bühne verweigert.“

In diesem Zusammenhang konnte vorgestern auch eine aus der Türkei unterstützte Partei einen Erfolg verzeichnen: DENK - bisher eine zweiköpfige, aus türkischstämmigen Politikern bestehende, Abspaltung der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion. Personen mit solchem und marokkanischen Migrationshintergrund gehören zur Hauptzielgruppe der Partei, die nun mit drei Mandaten in die neugewählte Zweite Kammer einzieht. Dafür genügen zwei Prozent der Wählerstimmen, da das niederländische Wahlsystem keine Prozenthürde kennt. „Ein fataler Fehler“, findet Bernd Rheinberg bei den Salonkolumnisten, da so weiterer Zersplitterung der Parteienlandschaft und im Falle von DENK der Einmischung fremder Staaten Vorschub geleistet werde.

Nun gehört die ausländische Einflussnahme sicher zu den kritisch zu diskutierenden Themen, das Wahlsystem der Niederlande aber besteht in dieser Form seit 100 Jahren – und zwar mit großem Erfolg. Kein verfälschendes Mehrheitswahlrecht, keine Sperrklausel, sondern ein besonders repräsentatives Parlament, das die gesamten Wählerstimmen abbildet, mit Ausnahme lediglich von Parteien mit unter 0,67 Prozent Zuspruch an der Urne. Ein sehr demokratisches, proportionales Wahlsystem, das auch kleinen Gruppen eine Vertretung ermöglicht. Gesellschaftliche Konflikte lassen sich ohnehin nicht ausräumen, indem man ihnen eine parlamentarische Bühne verweigert, ganz im Gegenteil.

Im Falle von DENK lässt sich freilich bedauern, dass ihre Wähleransprache großteils auf ethnischer Abstammung basiert statt auf universalen politischen Überzeugungen. Früher – in Zeiten der ‚Versäulung‘ bis vor wenigen Generationen – war das niederländische Wählerverhalten zwar ebenfalls stark von der Herkunft (sozial und religiös) bestimmt. Dass eine weitere migrantische (oder moslemische) Art Säule entstehen konnte, die nicht an historisch entstandenen Interessen andockt, gilt heute als Fehler staatlicher Politik. Insbesondere in den 1980er Jahren galt es als schick, eine solche identitätspolitische Gruppenbildung innerhalb der „Gastarbeiter“-Milieus – auch finanziell – zu fördern. Dieses Erbe des Multikulti-Denkens erleichtert ausländische Einmischung.

„Europa mit der EU gleichzusetzen, verbietet sich“

Immerhin sind in den Niederlanden wohnhafte Türken demnächst bei einem Referendum abstimmungsberechtigt, von dessen Ergebnis einiges abhängen kann. In den Niederlanden hingegen fand vor knapp einem Jahr eine Volksabstimmung statt, deren Ergebnis aber nur symbolisch zur Kenntnis genommen wurde. Am 6. April 2016 votierten über 60 Prozent gegen das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine. Wie schon beim Urnengang 2005 über das Schicksal der EU-Verfassung erwiesen sich die Niederländer nicht mehr wie einst als brave Musterschüler Brüssels, sondern brachten ihren Unmut über den demokratiedefizitären EU-Moloch klar zum Ausdruck. Das politische Establishment aber gewann – damals durch den Lissabon-Vertrag, der die in mehreren Ländern mehrheitlich abgelehnte Verfassung etwas angepasst doch noch zum Tragen kommen ließ, 2016 durch den Umstand, dass das Referendum nicht rechtlich bindet und sein Resultat daher von der Rutte-Regierung nur rhetorisch zum Ausdruck gebracht werden brauchte.

Das Gesicht der damaligen Kampagne zur Ablehnung des Vertrags, der Rechtshistoriker Thierry Baudet, gehört übrigens auch zu den Gewinnern der Wahl vom Mittwoch. Mit seiner Partei „Forum für Demokratie“ konnte er aus dem Stand zwei Parlamentsmandate gewinnen. So wird er auch in der Zweiten Kammer in Den Haag die EU kritisch beleuchten und sich für eine Renaissance der demokratischen Souveränität von Nationalstaaten stark machen. Die diesbezügliche Unzufriedenheit in großen Teilen der niederländischen Bevölkerung, deren in Volksabstimmungen erklärter Wille mehrfach missachtet worden ist, bleibt. Wenn also der EU-Belgier Verhofstad aus dem aktuellen Wahlergebnis herausliest, die Niederlande blieben ein „pro-europäisches Bollwerk“, kann er mit Europa nicht die EU gemeint haben. Diesen schönen Kontinent mit dem bevormundenden und technokratischen Brüsseler Apparat gleichzusetzen, verbietet sich sowieso. Wer sich um Freiheit und Demokratie sorgt, muss seinen Blick nicht nur nach Ankara richten, sondern auch nach Brüssel.

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