23.05.2014
Populisten vs. Europhile
Kommentar von Christoph Lövenich
Die Wahlergebnisse rechtspopulistischer Parteien bei den Europawahlen in Großbritannien und den Niederlanden erregen Aufsehen. Dabei, findet Novo-Redakteur Christoph Lövenich, taugen die Populisten weder zum Sündenbock noch zur Problemlösung.
Als Gespenst, das in Europa umgeht, ist der Populismus schon wiederholt beschrieben worden. Insbesondere der Rechtspopulismus gilt hierzulande im medialen und politischen Mainstream als Schreckgespenst, der das Dumpfe, das Ressentimentgeladene aus der gesellschaftlichen Tabuzone in die Öffentlichkeit befördert. Dass die niederländische PVV den Umfragen am gestrigen Wahltag zufolge (die offizielle Auszählung erfolgt erst am Sonntag) einen geringeren Wahlerfolg als bei den letzten Europawahlen 2009 erzielen konnte, lässt viele Kommentatoren hörbar aufatmen. Umgekehrt erzittert durch das offenbar gute Abschneiden der UKIP in einem so großen EU-Mitgliedsstaat wie Großbritannien in den Augen mancher gar das ganze europäische Integrationsprojekt.
Populismus äußert sich in unterschiedlichen Schattierungen, in Europa begegnen uns rechte wie linke, je nach Definition auch liberale Spielarten, an den Rändern teils kombiniert mit Extremismus. In den Niederlanden und in Großbritannien, wo gestern bereits die Wähler zur Urne gingen, spielen mit der UKIP und der PVV nicht-extremistische Rechtspopulisten eine Rolle. Geert Wilders setzte sich allerdings durch seine kürzlich begonnene Zusammenarbeit mit Parteien wie dem französischen Front National der Kritik an seinem bisherigen Image als radikaler Israelfreund und Kämpfer gegen Homosexuellen-Diskriminierung aus.
Populismus als Fieber
Rolle und Wirkung des Rechtspopulismus sind in der Wissenschaft umstritten. Gerade im deutschsprachigen Raum gilt er gerne als Totengräber des freiheitlichen Rechtsstaats, andere sehen in ihm ein notwendiges Korrektiv gegen elitäre Fehlentwicklungen der repräsentativen Demokratie. Beide Sichtweisen haben gemein, dass sie den Populismus als Perspektive begreifen, zum Schlechteren hin oder eben zum Besseren. Tatsächlich nutzt es wenig, ihn als politische Krankheitserscheinung zu pathologisieren oder zum Heilmittel zu stilisieren. Er ähnelt mehr einer Fieberkurve, die problematische Zustände anzeigt, einem Indikator und Symptom, nicht den zugrundeliegenden Ursachen.
Dieses Fieber als Abwehrreaktion zeigt sich – nicht zufällig – besonders deutlich auf der EU-Ebene und richtet sich dort nicht etwa gegen Freiheit und Demokratie, sondern gegen den eklatanten Mangel daran. Die Europäische Union geriert sich als Regulierungsmaschinerie, die von der Glühbirne bis zur Kaffeemaschine tiefer in die selbstverständlichsten Alltagsfragen der Bürger eingreift, als die beteiligten Politiker es über die nationale Gesetzgebung in den meisten Mitgliedsstaaten durchsetzen könnten, als Hort der Hinterzimmer und Lobbyherrschaft, die nach anderen Spielregeln funktioniert, als man es von einem demokratischen System erwarten darf.
„Es ist rechtspopulistischen Parteien ein Leichtes, die Irrwege der EU ins Visier zu nehmen und auszuschlachten.“
Es ist rechtspopulistischen Parteien ein Leichtes, die Irrwege der EU (von der Entscheidungsfindung über Verbote bis zur Ukrainepolitik) ins Visier zu nehmen und auszuschlachten. Obwohl der Populismus mit seinem Bezug auf direkte Demokratie und seiner Abneigung gegenüber intermediären Instanzen vielfach als Gegenentwurf zur gängigen repräsentativen Demokratie aufgefasst wird, trägt er gerade zur besseren Repräsentation des Wahlvolkes bei, indem er dem wachsenden Unmut über derlei Entwicklungen eine Stimme (und Parlamentssitze) verleiht. Die etablierte Politik hat ihre Orientierung verloren, und auch den Kontakt zu den früheren Wählerbasen. Immer mehr Bürger finden sich in Art und Inhalt der etablierten Politik, insbesondere auf europäischer Ebene, kaum noch wieder. Nicht nur einige politische Inhalte, denen sie zuneigen, werden aus der Debatte ausgegrenzt, auch sie selbst werden von den dominanten politischen Kräften ignoriert oder müssen sich gar verächtlich gemacht fühlen, wenn man sie pauschal als ewiggestrige Modernisierungsverlierer aus „bildungsfernen Schichten“ abwertet.
Das politische Establishment geht einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den durchaus diskussionswürdigen Punkten in den Programmen populistischer Parteien meist aus dem Weg, indem es – von den echten Herausforderungen ablenkend – sich zum Kämpfer gegen den Populismus erhebt. Der Europaparlamentspräsident und sozialdemokratische Spitzenkandidat Martin Schulz spricht bei den Differenzen zwischen seinesgleichen und den dem gegenwärtigen EU-Integrationsprozess negativ gesonnenen politischen Kräften von den „Guten“ und den „Bösen“ 1, und macht sich damit genau das manichäische Weltbild zu Eigen, das zumeist dem Populismus vorgeworfen wird. Sowohl UKIP als auch PVV gerieten im Europawahlkampf unter Dauerbeschuss der Mainstream-Medien und der politischen Konkurrenz – ein nicht erst jetzt als nutzlos zu erkennendes Unterfangen, das auf die Schwäche der Angreifer zurückfällt. 2 Diese sollten die Schuld an der Stagnation in der EU – geistig wie wirtschaftlich – nicht auf andere abzuwälzen versuchen, sondern ihr eigenes Unvermögen, attraktive Perspektiven zu schaffen, endlich als Mitursache der Misere erkennen.
Wenn sich Marine Le Pen (Front National) als Vertreterin des Rechtspopulismus und Daniel Cohn-Bendit (Grüne) als Anhänger des EU-Einheitsstaats gegenseitig vorwerfen, ihre politische Vision sei eine „Fata Morgana“ 3, so haben beide nicht unrecht. Weder das abgehobene postdemokratische Brüsseler Projekt noch der nationalprotektionistische Rückzug in eine geschlossene Festung können die anstehenden Fragestellungen adäquat beantworten. Beim Thema Einwanderung helfen weder ein Tabuisieren der Debatte (seitens regierender Kräfte) noch das opportunistische Schüren fremdenfeindlicher Ressentiments (seitens rechtspopulistischer Politiker) weiter. Der Populismus ist weder das Problem noch die Lösung.
Stimmung in den Niederlanden
Im Gegensatz zu Deutschland zeigt sich in vielen anderen Mitgliedsländern offen eine breitere Anti-EU-Stimmung. Das gilt für Mittelmeerländer, die in besonderer Weise von der Eurokrise betroffen sind, aber ebenso z.B. für Frankreich. Ein Blick in die Niederlande dürfte auch erhellend sein: Anders als in der Bundesrepublik, wo jeder grundsätzliche Kritiker des Euro oder des EU-Prozesses gleich als halber Nazi gebrandmarkt wird, haben die Menschen zwischen Den Haag und Maastricht seit über einem Jahrzehnt eine ausgeprägte Skepsis gegenüber dem Prinzip EU entwickelt. Im einstigen Musterländle der Integration darf man seit der Fortuyn-Revolte 2001/02 in aller Öffentlichkeit Schalten und Walten der Union kritisch und vor allem unterschiedlich beurteilen. Als 2005 die Bevölkerung über die EU-Verfassung abstimmen konnte, entblödeten sich die politischen Eliten nicht, für den Fall einer Ablehnung lapidar den wirtschaftlichen Niedergang des Landes oder gar einen Krieg zu prophezeien. Sie erlitten eine donnernde Niederlade.
„Seither gehört EU-Kritik zum rhetorischen Repertoire vieler etablierter niederländischer Parteien.“
Seither gehört EU-Kritik zum rhetorischen Repertoire vieler relevanter niederländischer Parteien. Von ganz links über kalvinistische Kleinparteien bis zur Wilders-PVV tönt es nach nationaler Souveränität statt Brüsseler Einerlei. Sogar in der größten Regierungspartei, der ‚rechtsliberalen‘ VVD um Ministerpräsident Rutte zeigt sich dies im Reden – wenn auch viel weniger im Handeln. Ein VVD-Abgeordneter warnte kürzlich gar, die „Europhilen“ wie Martin Schulz und der Spitzenkandidat seiner eigenen Parteifamilie, Guy Verhofstadt (Belgien), bildeten die viel größere Gefahr für Europa als die Rechtspopulisten (musste sich dafür allerdings entschuldigen). 4 Der ehemalige Chef des Zentralen Planungsamtes, einer namhaften Behörde des Landes, räumte übrigens vor einigen Tagen ein, dass die eigenen offiziellen Zahlen, mit denen der Nutzen der Euro-Einheitswährung für die Bürger angepriesen worden waren, ins Reich der Übertreibung gehören. 5
Nigel Farage, dem UKIP-Chef, ist in seinem Land die Belebung des Europawahlkampfes, ja der demokratischen Auseinandersetzung überhaupt, gelungen.6 In den Niederlanden und im Vereinigten Königreich stellen in Form der rechtspopulistischen Akteure bedeutende Parteien einen EU-Austritt ihres Landes in den Raum. In Deutschland hingegen herrscht eine tabugeladenere Debatte vor, in der grundsätzlich kritische Stimmen wenig Spielraum haben. Noch.