14.05.2014

Was steht zur Wahl, EU?

Kommentar von Kai Rogusch

Das EU-Führungspersonal hat den Kompass verloren. Eine aus europäischen Parlamentswahlen hervorgehende „Regierung“ darf nicht auf „mehr Europa“ setzen. Demokratische EU-Politik kann heute nur ein Abbruchunternehmen sein.

Der europäische Einigungsprozess steckt in der Sackgasse.Die politischen Eliten müssen die Interessen ihrer Wähler endlich ernst nehmen. Europa braucht demokratische Rechenschaft auf EU-Ebene -gleichzeitig jedoch bürgernähere Entscheidungskompetenzen. Der Bürger muss als Souverän anerkannt und durch anspruchsvolle Perspektiven intellektuell gefordert werden.

Angesichts der anhaltenden Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa und der Unpopularität der EU-Politik, die sich in den Wahlen zum Europaparlament sowohl in Stimmengewinnen für EU-kritische Parteien als auch in massivem Fernbleiben von den Wahlurnen niederschlagen dürften, will die EU-Führung ihren Apparat demokratisieren. In der Tat brauchen wir auf europäischer Politikebene institutionelle Veränderungen, die eine demokratische Rechenschaftspflicht klar benennbarer Entscheidungsträger etablieren. Doch statt als Antwort auf die Probleme des Kontinents immer nur großspurig und reflexhaft nach „Mehr Europa“ zu rufen, sollte sich eine künftige europäische Führungsspitze zunächst einmal radikal den Interessen aller Bürger zuwenden -und den bisherigen politischen Kleingeist abstreifen.

Eine Politik, die es mit der Demokratie wirklich ernst meint, muss die im künftigen Parlament zu erwartende disparate Stimmenvielfalt als solche anerkennen. Sie muss sich auf Flexibilität und Polyzentrik zurückbesinnen und uns Bürger als mündige Adressaten intellektuell anspruchsvoller Fragestellungen in unser Recht setzen, indem sie uns mit den systemischen Herausforderungen unserer Zeit konfrontiert. Nur eine bürgernähere Politik kann den zahllosen spezifischen Entwicklungspotenzialen unseres Kontinentes gerecht werden, die von einer europäischen Zentralinstanz in ihrer Vielfalt intellektuell schlicht nicht erfasst werden können. Und erst eine Politik, die uns die komplizierten Verwerfungen der ökonomischen und politischen Krise nicht vorenthält, kann ehrliche Perspektiven eines prosperierenden Gemeinwesens entwickeln.

Demokratisierung des Kontinentes

Wer den Kontinent zu einem demokratischen Gemeinwesen vereinen möchte, muss dafür sorgen, dass sich die Wahlentscheidungen aller Bürger in der politischen und gesetzgeberischen Praxis der europäischen Institutionen wiederfinden. Europäische Herrschaftsausübung entzieht sich den klassischen Mechanismen politischer Zurechenbarkeit, die wir auf der Ebene der Nationalstaaten kennen. Das vielbeklagte Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit ist auch Folge des Umstandes, dass die EU schon organisatorisch die Bildung eines europäischen Demos unterbindet. Eine bedenkliche Rolle spielen dabei die nationalstaatlichen Regierungen. Im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs und im Ministerrat vereinbaren sie im Zusammenspiel mit der EU-Kommission (die das Initiativmonopol in der Rechtsetzung innehat) und dem EU-Parlament das mittlerweile berühmte „Spiel über Bande“: Wenn sie im Rahmen des Nationalstaates keine politischen Mehrheiten finden (oder unpopuläre Entscheidungen fürchten), erwirken sie auf EU-Ebene für alle EU-Bürger bindende Maßnahmen.

Auf EU-Ebene wird die übliche demokratische Legitimationskette mehrfach unterbrochen. Deshalb kommt es zu keiner lebendigen Wechselbeziehung zwischen Wahlentscheidungen des „Volkes“ und einer parlamentarisch vermittelten Regierungspolitik. Die nationalen Wählerschaften wählen in Rahmen der EU zwar ihre jeweiligen Regierungen, können jedoch das Zusammenwirken dieser Regierungen auf europäischer Politikebene - im Europäischen Rat und Ministerrat –schon deswegen nicht hinreichend kontrollieren und beeinflussen, weil bei nationalen Wahlen gesamteuropäische Themen kaum eine Rolle spielen. Und die „europäischen“ Wählerschaften wählen zwar das Europäische Parlament. Doch dieses ist – obwohl es mittlerweile auf einem breiten Feld beachtliche Mitentscheidungskompetenzen hat –nicht alleiniger Souverän in Fragen der Regierungsbildung und anschließenden Politik auf europäischer Ebene. Denn der Europäische Rat und der Ministerrat, in dem die Regierungen der Nationalstaaten zusammenwirken, haben bislang auf allen Politikfeldern der EU eine unumgängliche Gestaltungs- und Blockademacht. Das jedoch ist deshalb bedenklich, weil sich diese politische Macht des Rates ihrerseits nicht bei europaweiten Wahlen verantworten muss.

„Wenn schon auf europäischer Ebene Politik gemacht wird und sich daran in Zukunft erwartungsgemäß nichts ändern wird, empfiehlt es sich, den europäischen Apparat und das politische Prozedere umzubauen.“

Die EU ist also ein Herrschaftsgebilde, dem es an einer lebendigen Wechselbeziehung zwischen europäischen Institutionen, parteipolitisch vermittelten Politikentwürfen und dem Leben der normalen Bürger fehlt. Deshalb ist das Vorhaben, das EU-Parlament weiter in Richtung eines vollwertigen Repräsentationsorgans eines europaweiten Gemeinwesens fortzuentwickeln, zumindest ein erster Ansatz für eine Politik, die sich in der Öffentlichkeit zu erklären und zu rechtfertigen hat. Wenn schon auf europäischer Ebene Politik gemacht wird und sich daran in Zukunft erwartungsgemäß nichts ändern wird, empfiehlt es sich, den europäischen Apparat und das politische Prozedere umzubauen, um den Interessen der Bürger auf EU-Ebene repräsentativ Ausdruck zu verleihen. Es geht um die Entwicklung politischer Prozeduren, die mit voller Absicht die Bildung einer demokratischen Legitimationskette ermöglichen -und so überhaupt ein wechselseitiges Verhältnis zwischen europäischer Politik und einem europäischen Demos rein organisatorisch erlauben.

Aus diesem Grund ist das Vorhaben, mit europäischen Spitzenkandidaten Europawahlen zu bestreiten, ein erster Anfang: Eine „regierende” europäische Exekutivspitze soll mittels errungener Parlamentsmehrheiten zu einer europäischen Politik ermächtigt werden, die sich auf die im Parlament repräsentierten Interessen stützen kann. Diesen Gedanken scheint beispielsweise der SPD-Politiker Martin Schulz zu hegen, der als ein gesamteuropäischer Spitzenkandidat antreten wird, um nach gewonnener Wahl als EU-Kommissionspräsident den Kontinent zu „regieren“.Als Chef der europäischen Exekutive will er mit seiner einem deutschen Bundeskanzler (nicht ganz) vergleichbaren Richtlinienkompetenz eine europäische Politik verfolgen. Es soll also zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union eine Art von „gewählter“ EuropäischerRegierung entstehen, die, so der weitere Gedanke, von einer europaweiten Opposition kritisiert und bei der nächsten Wahl entsprechend ersetzt werden kann.

Damit würde ein neues politorganisatorisches Prozedere die bislang undemokratische Organisationsphilosophie der EU zumindest ansatzweise durchbrechen. Denn die EU unterbindet schon allein organisatorisch die Volkssouveränität. Zwar ist das EU-Parlament in den letzten Jahrzehnten immer mächtiger geworden. So hat das EP in weiten Teilen der Gesetzgebung, die sich von wirtschaftstechnischen Belangen über den Umwelt- und Verbraucherschutz bis hin zu Polizei- und Strafsachen erstrecken, eine Art Vetorecht. Das Gleiche gilt auch längst für Belange des EU-Haushaltes – und für die personelle Besetzung der EU-Kommission als der europäischen Exekutive. Doch das Europäische Parlament wirkt als Teil eines europapolitischen Apparates, der vom Bürger schon organisatorisch entkoppelt ist. Das EP muss seine Politik auf die Erfordernisse eines von Verwaltungs- und Regierungsexekutiven dominierten EU-Komplexes ausrichten.

Nach wie vor hat der Rat der Europäischen Staats- und Regierungschefs bei der Ernennung der EU-Kommission ein gewichtiges Wort mitzureden. Und nach wie vor hat der Rat auf allen Gebieten europäischer Gesetzgebung eine große Blockade-, aber auch Gestaltungsmacht.Die Regierungen der Nationalstaaten entfliehen ihrer demokratischen Rechenschaft gegenüber ihren Wählerschaften, indem sie entscheidende Gebiete der Politikgestaltung und Gesetzgebung unter Ausschluss der Öffentlichkeit betreiben. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs, der den großen Rahmen der europäischen Politik absteckt, veranstaltet seine Sitzung im Geheimen. Der Ministerrat, das wichtigste Organ der EU-Gesetzgebung, entwickelt seine Rechtsakte in zahlreichen, geheim tagenden Untergliederungen. Die gesamteuropäische Öffentlichkeit ist auch deshalb schwach ausgeprägt, weil die gesamte Organisationsstruktur der EU darauf angelegt ist, mittels der Aufsplitterung der rechtsetzenden Gewalt auf Kommission, Ministerrat und Parlament eine klar zurechenbare Verantwortlichkeit zu unterbinden.

Klaren Souverän etablieren

An dieser Stelle sei ein Dilemma angesprochen, das bisher verlässlich dafür sorgt, dass sich die europapolitischen Diskussionen zuweilen im Kreis drehen. Um die europäische Politik zu demokratisieren, muss auf europäischer Ebene ein klarer Souverän etabliert werden, der seine politische Verantwortung nicht auf andere Instanzen abwälzen kann - also eine höchste politische Entscheidungsinstanz. Erst so unterliegen das Europäische Parlament und die sich auf die parlamentarische Mehrheit stützende „Regierung” einer direkten Rechenschaftspflicht gegenüber der europäischen Wählerschaft. Doch immer wieder wird in den Diskussionen die Etablierung eines unmissverständlichen europäischen Souveräns mit dem Argument abgelehnt, dass auf europäischer Ebene ein demokratisches Gemeinwesen fehle. Dabei besteht eine der Hauptursachen für das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit gerade in jener organisierten Verantwortungslosigkeit, die durch die Schaffung einer höchsten europäischen Entscheidungsgewalt endlich aufgehoben werden soll.

„Bislang fächert die EU staatliche Souveränität möglichst weit auf – und unterbindet so auch die Artikulation eines wie auch immer gearteten Demos.“

Politischer Meinungsstreit in gesamteuropäischen Dimensionen kann erst konkret und lebendig werden, wenn es eine direkte Wechselbeziehung von parlamentarisch vermittelter Regierungsverantwortung und Parlamentswahlen gibt, in denen eine Regierung für ihr Tun und Lassen vom „Volk” zur Rechenschaft gezogen werden kann. Wer also das Europäische Parlament in die Lage versetzen will, einen supranationalen Bezug zu einem europäischen Volk herzustellen, muss die polit-institutionalisierte Zwischenschaltung des Ministerrates und des Europäischen Rates zurückdrängen. Bislang nämlich fächert die EU staatliche Souveränität möglichst weit auf – und unterbindet so auch die Artikulation eines wie auch immer gearteten Demos. So kommt es immer wieder dazu, dass gesamteuropäische Themen bei Europawahlen bis dato nicht in den Vordergrund rücken, sondern vielmehr europäische Anlässe zum Ausgangspunkt zu einer Interpretation durch die nationale Brille fungieren.

Das bisherige Paradox einer steigenden Bedeutung des EP und einer gleichzeitig sinkenden Wahlbeteiligung erklärt sich daraus, dass der gesamte politische Prozess der EU gerade das Wechselspiel zwischen menschlichen Interessen und politischer Repräsentation systematisch unterbindet. Damit könnte es aber in Zukunft ein Ende haben. Man denkt heute zumindest ansatzweise über die Bildung einer etwas reibungsloseren Legitimationskette nach: Europawahlen sollensiegreiche Parteien hervorbringen. Aus Parlamentsmehrheiten soll sich möglicherweise eine Kommissionsspitze ableiten, die ihrerseitsauf parlamentarischer Basis eine europaweite Politik für alle „Europäer“ vorantreibt

Europapolitik als Interessenspolitik

Hier jedoch stoßen wir auf ein weiteres Problem: Die europäische Wählerschaft empfindet sich nicht als ein zusammengehöriges europäisches Gemeinwesen. Denn bisher diente der europäische „Einigungsprozess“ nicht dazu, ein europäisches und solidarisch verbundenes Staatsvolk zu schaffen. Vielmehr diente Europapolitik der Verfolgung von nach wie vor nationalen Interessen: Sie zielte darauf ab, die Aushandlung nationaler Interessen in einem intergouvernementalen und supranationalen Machtraum zu ermöglichen, in dem die Bürger Europas eben kein übernationales Gemeinwesen bilden. Den Bürgern fehlt innerhalb der EU deshalb die gemeinschaftsstiftende Erfahrung kollektiver Interessens- und Lebenslagen, die in gemeinsame Ziele münden. Das wird gerade heute, in Zeiten der Eurokrise, wo sich Geber- und Nehmerstaaten („wettbewerbsfähige“ Länder und „Sorgenkinder“) gegenüberstehen, schlagartig deutlich. Deshalb werden die anstehenden EU-Wahlen möglicherweise nicht als Katalysator der inneren Einheit des Kontinentes wirken, sondern eher als Spaltpilz.

Die Europawahlen könnten zu einer Zusammensetzung des Europaparlamentes führen, durch die die real existierende und sich vor allem an nationalstaatlichen Interessensgegensätzen orientierende Konfliktträchtigkeit des Kontinentes in Zukunft stärker artikuliert werden wird. Aufgabe der Europapolitik wird es sein, diese Interessensgegensätze als solche anzuerkennen, um auf der Grundlage einer ehrlichen Debatte Perspektiven zu entwickeln, die die Verwicklungen nicht zuletzt der Eurokrise im Interesse Aller nach und nach aufzulösen helfen. Erst dadurch kann sich die durch den Lissabonner Vertrag nochmals gewachsene rechtliche Stellung des EP auch in einem lebendigeren Verhältnis zwischen Bürgern, Parteien und Institutionen ausdrücken, in dem sich alle EU-Bürger wiederfinden.

Um die europäische Demokratiekrise zu überwinden, bedarf es also weit mehr als einer institutionellen Demokratisierung der europäischen Entscheidungsebene. Ein europäischer Parlamentarismus mündet erst dann ansatzweise in eine europäische Öffentlichkeit, wenn sich die Politik radikal der Repräsentation der bei den Europawahlen hervorgegangenen Interessenskonstellationen widmet. Die politischen Führungen sollten deshalb die Ergebnisse der Parlamentswahlen in Zukunft wirklich ernst nehmen. Statt sich über den zu erwartenden Stimmenzuwachs der „Populisten” zu echauffieren, sollten die Verantwortlichen die Vielgestaltigkeit der menschlichen Interessen unseres Kontinentes als Richtschnur ihres Handelns anerkennen. Erst auf dieser Grundlage werden sie tragfähige Ansätze für gesamteuropäische Lösungen finden, die wiederum einen Widerhall in der europäischen Wählerschaft finden, die zum ersten Mal die gesamteuropäischen Dimensionen europäischer Interessenskonflikte erlebt.

Eine EU-Kommission, die ihre „Regierungsmacht“ mit einer gewonnenen Europawahl legitimieren möchte, sollte als ersten Schritt anerkennen, dass die gegenwärtige europäische Interessensdisparität keine Politik eines „Mehr Europa“ erlaubt. Demokratische Europapolitik kann heute ganz überwiegend nur ein Abbruchunternehmen sein. Erst eine solche Politik des Abbruchs und Dezentralisierens ist in der Lage, die disparate und im Parlament repräsentativ zerklüftete Interessenslandschaft in ein Europa zu übersetzen, das den vielgestaltigen Belangen der europäischen Bürger besser entspricht. Dabei wird es vor allem darum gehen, mit dem bisherigen technokratischen Politikansatz, der die Rolle des Bürgers als an sich mündigem und zur demokratischen Intervention fähigem Wesen verkennt, entschlossen zu brechen.

„Erst eine Politik des Abbaus lähmender und bevormundender Regulierung ermöglicht neue Freiräume und jene wirtschaftliche Entwicklungsdynamik, die der Kontinent zur Überwindung der Eurokrise dringend braucht.“

Eine Europapolitik ist gefragt, die unzählige EU-Regulierungen mit entmündigendem, bürgerfernem und banalem Charakter beseitigt. Heute ist die Abwendung von der Geisteshaltung gefragt, die das Volk und den einzelnen Bürger als einzuhegende Gefahrenquellen denunziert. Erst eine Politik des Abbaus lähmender und bevormundender Regulierung ermöglicht neue Freiräumeund jene wirtschaftliche Entwicklungsdynamik, die der Kontinent zur Überwindung der Eurokrise dringend braucht. Erst ein konsequent menschzentrierter Ansatz sorgt dafür, dass Politik, verstanden als Prozess des interessegeleiteten Gestaltens großer Fragen, das öffentliche Leben wieder bereichert und die Bürger des Kontinentes zu politischem Engagement anregt.

Nur eine optimistische und inspirierende Politik, die von überzeugten Persönlichkeiten mit ausgereiften Vorstellungen einer besseren Zukunft verkörpert wird, kann Menschen verschiedenster sozialer Schichten, ethnischer Gruppen und kultureller Prägungen europaweit zu der gehörigen Kraftanstrengung animieren, die nötig ist, um das für sich betrachtet verwegene Vorhaben, einen ganzen Kontinent zu einem politischen Gemeinwesen zu vereinen, zu verwirklichen. Das Unterfangen, einen sprachlich, ökonomisch und kulturell disparaten Kontinent zu einen, kann nur scheitern, wenn sich die Parteien als Oberlehrer gerieren und sich obendrein der inspirierenden politischen Suche nach schlüssigen Großentwürfen verschließen.

Den kleingeistigen Politikmodus sprengen

Demokratische Europapolitik sollte sich deshalb der Aufgabe widmen, den kleingeistigen Politikmodus abzustreifen, der die Bürger des Kontinentes vom politischen Engagement abhält. Die Politik widmet sich heute dem Mikromanagement banalster Belange des persönlichen Lebens – und erschöpft sich oft in reiner Volkspädagogik. Sie verkennt dabei, dass erst die Gesamtheit der Bürger einschließlich ihrer Interessen, Talente und Lebenslagen ein europäisches Gemeinwesen ausmacht. Deshalb ist Europa heute auf dem Holzweg. Auch das Europäische Parlament verkehrt auf weiten Teilen der EU-Gesetzgebung den Grundgedanken der Demokratie in sein Gegenteil. Statt das Politische als einen wechselseitigen Prozess der Gemeinschaftsbildung zu verstehen, der durch ehrlichen Interessensausgleich und inspirierenden Meinungsaustausch belebt wird, hat sich seit Langem ein Politikmodus eingespielt, nach dem nicht die Politik dem Bürger gegenüber rechenschaftspflichtig ist, sondern der Bürger gegenüber der Politik.

In einem demokratischen Gemeinwesen prägen die in der Gesellschaft vorgefundenen Interessen in einem öffentlichen Prozess die Politik. Stattdessen läuft es heute andersherum: eine entkoppelte und kleingeistige Elite schickt sich an, die Bürger in ihren individuellen Lebensstilfragen zu erziehen. Martin Schulz deutet dies mittlerweile selbst an, wenn er sich über den Trend der EU mokiert, das gesellschaftliche Leben der Bürger „bis ins Kleinste zu regulieren”. Ein derartiger Trend kommt jedoch beispielsweise auch in Initiativen wie der Tabakproduktrichtlinie zum Tragen, denen sich Schulz als Parlamentspräsident jedenfalls, um es zurückhaltend zu formulieren, nicht entschlossen entgegengestellt hat. Dabei offenbart sich gerade hier ein trauriger Tiefststand der politischen Kultur: Eine anmaßende und zugleich banale Regulierungspolitik zielt darauf ab, die Bürger Europas durch bildhafte Schock-Impressionen vom Rauchen abzuhalten. Statt als demokratischen Souverän behandelt sie uns wie Kindergartenkinder, die vor Dummheiten zu bewahren sind.

Diesen Trend zur Regulierung banalster Lebensbereiche gilt es heute umzukehren. Er erscheint gerade vor dem Hintergrund, dass wir heute mit wirklich großen politischen Systemfragen konfrontiert sind, vollends absurd. Die Verwerfungen der Eurokrise stellen uns heute vor hochabstrakte und anspruchsvolle Aufgaben. Doch der politische Kleingeist verweigert sich beharrlich der Beantwortung dieser Fragen – und lässt so die Herausforderungen der Eurokrise letztlich unlösbar erscheinen.

Die großen Fragen ansprechen

Heute entzieht sich die Politik der öffentlichen Erörterung der großen Fragen unserer Zeit. Die Parteien geben überwiegend kläglich ambitionslose und banale Verlautbarungen zum Besten. Doch Politik kann sich nicht in der Artikulation unverbindlicher Phrasen erschöpfen. Sie kann auch nicht darin bestehen, das persönliche Leben der Bürger bis ins Kleinste zu regulieren. Sie ist vielmehr ein Prozess, in dem die Bürger ihr alltägliches Leben transzendieren. Indem sie am demokratischen Leben teilnehmen, fördern sie ihre Interessen – und so auch das Gemeinwohl. Durch ihre politische Partizipation wächst ihr geistiger Horizont, denn die Auseinandersetzung mit den Belangen anderer Menschen erweitert den eigenen Blickwinkel.

„Angesichts der systemrelevanten Fragen, die nicht zuletzt durch die Eurokrise aufgeworfen werden, ergeben sich heute eigentlich große Chancen für eine Neubelebung der Demokratie.“

Eine der Demokratie verpflichtete Politik sollte endlich damit anfangen, die großen Zukunftsfragen Europas offen zu thematisieren. Eine der zentralen Fragen ist dabei die, wie wir in Europa gemeinsam mit den angehäuften Schuldenaltlasten umgehen. Hier geht es vor allem darum, die sich zuspitzende Konfliktsituation eines Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses zu lösen, die hinter der Etablierung immer größerer Rettungspakete steckt. Dabei wird auch offen zu debattieren sein, wie sich der Trend eines sich verschlechternden Verhältnisses zwischen (privatem und öffentlichem) Schuldenberg und jährlich erzeugter Wirtschaftsleistung denn wenden ließe. Als entscheidend wird dabei die Frage sein, wie wir die Krise des auf Geldschöpfung basierenden Finanzsystems überwinden können, indem wir der gegenwärtigen Lähmung der europäischen Innovationskraft und der damit einhergehenden Stagnation der Wertschöpfung ein Ende bereiten.

Angesichts der systemrelevanten Fragen, die nicht zuletzt durch die Eurokrise aufgeworfen werden, ergeben sich heute eigentlich große Chancen für eine Neubelebung der Demokratie. Das Europäische Parlament sollte sich ruhig einem intellektuell anregenden Diskurs über die vorwiegend in Elitezirkeln diskutierten und exekutierten Belange zuwenden. Das gilt schon deshalb, weil gerade die öffentliche Auseinandersetzung mit Fragen, die über das Banale und rein Persönliche hinausgehen, das eigentlich Politische erst ausmacht -und dem Leben des Einzelnen einen befreienden Lebenssinn verleiht.

Dabei sollten sich das Europäische Parlament und die Europäische Kommission jedoch nicht anmaßen, gleich wieder mit gesetzgeberischen Initiativen die Macht der EU-Institutionen stärken zu wollen. Denn für eine Usurpation von Politikbereichen, die dem Kernbereich der Nationalstaaten, die nach wie vor die demokratische Öffentlichkeit beherbergen, angehören, fehlt angesichts der zerklüfteten Interessenslandschaft derzeit der parteipolitisch auf breiter Basis vermittelte gesamteuropäische Konsens.

Plattform des Ideenaustausches

Die kontroverse Erörterung intellektuell anregender Alternativen könnte das Europäische Parlament zu einer Plattform eines belebenden Ideenaustausches erheben. Ein zukunftsfähiges Gemeinwesen setzt nämlich voraus, dass die Eliten die gegebenen Potenziale und Herausforderungen unserer Zeit aufgreifen, um verheißungsvolle Perspektiven zu formulieren. Da die Eliten diesen Anspruch aufgegeben haben, erweisen sie sich derzeit als unfähig, die Probleme unserer Zeit überhaupt adäquat zu benennen. Die europäischen Parteien verschließen sich den ökonomischen Wachstumsanforderungen zur Lösung der Schulden- und Wirtschaftskrise. Sie verweigern sich der Aufgabe, den Bürgern ambitionierte und schlüssige Ideen für eine politische und ökonomische Regeneration des Kontinentes zu unterbreiten.

Die europäischen Parteien sollten also, wenn sie den Bürgern Europas einen Grund geben wollen, sie zu wählen, diese zentralen Fragen offensiv angehen mit der Grundhaltung, dass den normalen Bürgern die öffentliche Erörterung großer und komplexer Fragen durchaus zuzumuten ist und dass es uns auch kollektiv – gerade in Anbetracht der im Vergleich phänomenalen Kommunikationsmöglichkeiten und damit der Fähigkeit des auch wissenschaftlichen Austausches – möglich ist, unsere unzähligen Interessen, Talente und Erfahrungshorizonte zur Entwicklung einer besseren Zukunft zu vereinen.


Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#117 - I/2014) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.

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