13.02.2012

Die Demokratiekrise spitzt sich zu

Essay von Kai Rogusch

Europa in einer schweren politischen Krise. Der antidemokratische Charakter der aktuellen EU-Politik tritt immer krasser hervor. Bereitwillig opfern unsere Eliten zentrale Errungenschaften der Demokratie. Es droht die gesichtslose Herrschaft der Bürokraten

Angesichts der Verwerfungen in der Eurozone kommt der antidemokratische Charakter der EU-Politik voll zum Durchbruch. In Italien und Griechenland werden ungewählte „Technokratenregierungen“ implementiert. Im Gespräch sind Vorschläge, EU-„Sparkommissare“ in Schuldenstaaten zu entsenden. Parallel dazu entsteht ein „Europäischer Stabilitätsmechanismus“ (ESM), der über riesige Geldsummen verfügt, für die Nationalstaaten zwar bürgen, deren Verwendung nationale Parlamente jedoch nicht hinreichend kontrollieren können. Obendrein werden die Konturen einer „europäischen Wirtschaftsregierung“ sichtbar, die tief in nationale Politikfelder hineinregieren wird.

Die bisherigen Antworten auf diese „postdemokratischen“ Entwicklungen erweisen sich als untauglich, diesem Trend etwas entgegenzusetzen. Sie sind alle aus der Not geboren, und sie vergrößern die Kluft zwischen Regierten und Machthabern. So will zwar die SPD mittels einer weiteren Aufwertung des Europäischen Parlamentes dem viel beklagten „Demokratiedefizit“ abhelfen, und das Bundesverfassungsgericht interveniert immer wieder zugunsten der Befugnisse der nationalen Parlamente. Doch Demokratie als „Herrschaft des Volkes“ setzt ein europäisches Gemeinwesen voraus. Ein solches ist jedoch im Zuge des europäischen Einigungsprozesses systematisch ausgehöhlt worden.

Wenn ein Demokratietheoretiker wie Jürgen Habermas die Eurokrise als Anlass zur Schaffung einer „kosmopolitischen“ Demokratie betrachtet, so unterschlägt er, dass sich eine lebendige europäische Öffentlichkeit nicht nachträglich – und gar unter Notstandsszenarien – konstruieren lässt. Wenn Politiker wie Wolfgang Schäuble oder Joschka Fischer meinen, mittels Zweikammersystemen oder Direktwahl des EU-Präsidenten die Repräsentativität politischer Kräfteverhältnisse auf europäischer Ebene zu verbessern, so vergessen sie den eigentlichen Adressaten europäischer Politik. Denn eine lebendige politische Öffentlichkeit bildet sich erst im autonomen Diskurs der Bürgerschaft über alle wichtigen Fragen einer politischen Gemeinschaft heraus.

Kurz: Die gängigen Europadebatten blenden allzu gerne aus, dass sich über „Europa“ in den letzten Jahrzehnten ein Politikmodus entwickelt hat, der die Rechenschaftspflicht politischer Entscheidungsträger aufgelöst und die Erörterung wichtiger politischer Fragen aus dem öffentlichen Raum verdrängt hat. Das rächt sich gerade heute, wo unter dem Eindruck eines drängenden Ausnahmezustandes ein unbefangener Willensbildungsprozess unmöglicher denn je erscheint. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie schon in den Anfängen des europäischen Einigungsprozesses die Volkssouveränität ausgehöhlt wurde und dieser Prozess im Zuge der Euro- und Politikkrise weiter forciert wird.

Europäische Union: Staatswesen ohne Souverän

Der Europäische Einigungsprozess vollzog sich vor dem Hintergrund der schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. Europa war der Kontinent, wo die auf seinem Boden entstandenen Errungenschaften der Aufklärung, der Demokratie und der persönlichen Freiheit einer beispiellosen Negation ausgesetzt waren. Diese Erfahrung sorgte von nun an vor allem in Deutschland – angesichts der faschistischen Katastrophe verständlich – für eine ambivalente Einstellung der Eliten gegenüber dem Konzept der „Volkssouveränität“. Als Folge stand Deutschland im Mittelpunkt der schrittweisen Übertragung ursprünglich nationaler Herrschaft auf supranationale Institutionen. Dieser hochpolitische Vorgang ging auf deutschem Boden besonders unkontrovers vonstatten, und seine wahren Ausmaße wurden deshalb nie öffentlich thematisiert. Denn die Abneigung gegenüber den Vorstellungen von „Volk“ und „Souveränität“ legte eine Distanz zum öffentlichen Engagement mit einer nationalen politischen Öffentlichkeit nahe.

Die Ambivalenz des europäischen Einigungsprozesses lag darin, dass dieser zwar durchaus von humanistischen Visionen der Völkerverständigung angetrieben wurde, aber zugleich immer ein Elitenprojekt blieb. So schuf man durch die Hintertür ein Institutionengefüge, das sich über mehrere Dekaden, Schritt für Schritt, ohne echte demokratische Beteiligung der Bürger, zu einem staatsähnlichen Apparat verselbstständigte. Als Folge auch dieser Entwicklung haben wir es heute nun mit einer krisenhaften Zuspitzung der Lage zu tun. Unter dem Druck vollendeter Tatsachen verlangt man heute auch auf den verbliebenen Politikfeldern die Übertragung von Kernbereichen nationaler Souveränität auf die EU. Die Europäische Union kann sich heute schon deshalb auf keinen populären Rückhalt verlassen, weil sich ihre Entwicklung zu einem immer staatsähnlicheren Gebilde samt einer wachsenden Zahl von Befugnissen, Gesetze zu erlassen, die in die Freiheiten der Bürger eingreifen, stillschweigend vollzogen hat.

Das fing in den 1950er Jahren an, als die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet wurde, um die deutsche Kriegsindustrie einzubinden. Sie trat 1952 in Kraft und gab allen Mitgliedstaaten Zugang zu Kohle und Stahl, ohne Zoll zahlen zu müssen. Eine besondere Neuheit war die Gründung einer Hohen Behörde, die im Bereich der Montanindustrie, also der Kohle- und Stahlproduktion, gemeinsame Regelungen für alle Mitgliedstaaten treffen konnte. Auf diese Weise entstand ein Vorläufer zur Europäischen Kommission, die bis heute eine zentrale Rolle im europäischen Einigungswerk spielt.

Die EGKS war eine der ersten supranationalen Organisationen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf westeuropäischem Boden etablierten. Mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG), die beide 1957 gegründet wurden, schuf man weitere, scheinbar wirtschaftstechnisch gedachte Institutionen, die nationale Souveränität einhegen sollten. Schon hier wirkte die supranationale Kommission mit dem intergouvernementalen Rat zusammen.  Auch eine parlamentarische Versammlung (jetzt Europäisches Parlament) und der Gerichtshof waren von Anfang an gemeinsame Einrichtungen.

Diese Institutionen entstanden auf völkerrechtlichem Wege. Doch war in ihnen bereits angelegt, dass sie sich nach und nach zu Organisationen mit zunehmenden Eingriffsrechten in das Leben der Bürger entwickelten. Denn der Gedanke, dass das von ihnen gesetzte Recht gegenüber den einzelnen Bürgern der Mitgliedstaaten dieser Institutionen eine unmittelbare Wirkung entfalten konnte, gewann schleichend Oberhand. So wurde in den vertraulichen Bahnen des diplomatischen Interessensausgleichs die Schaffung supranationalen Rechts möglich, ohne dass dies jemals in der Öffentlichkeit zu einem politisch kontrovers diskutierten Thema gemacht wurde. 

Obwohl dies in den damaligen Verträgen nicht ausdrücklich vermerkt war, bestätigte der damals so genannte Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) mit einem Urteil in der Rechtssache Van Gend en Loos vom 5. Februar 1963, dass es sich beim Gemeinschaftsrecht um eine eigenständige, in den Mitgliedstaaten einheitlich, unmittelbar und vorrangig geltende Rechtsordnung handele. Das bedeutet, dass immer dann, wenn eine nationale Vorschrift mit europäischem Recht kollidiert, das nationale Recht zu weichen hat. Auf diese Weise erstritt sich das niederländische Transportunternehmen Van Gend & Loos gegenüber der niederländischen Finanzverwaltung ein Urteil, das die schon im damaligen EWG-Vertrag verankerte Untersagung der Einführung neuer und der Erhöhung existierender Zölle im bestehenden Markt auch unmittelbar zugunsten des Klägers interpretierte.

Mit einer Serie anderweitiger Entscheidungen bestätigte der Europäische Gerichtshof immer wieder, dass sich auch einfaches Europarecht, also das Sekundärrecht, das im Rahmen der europäischen Verträge erlassen wird, sogar gegenüber mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht durchsetzt. Als herrschende Realität bildete sich von nun an heraus, dass es sich beim Europarecht um eine Rechtsordnung eigener Art handelt, welche weder völkerrechtlicher noch staatlicher Natur ist. Als Begründung zogen die Europarichter die Notwendigkeit heran, innerhalb der Gemeinschaft rechtlichen Zusammenhalt zu schaffen und zu erhalten.

Danach brachte das Recht, das die damaligen europäischen Gemeinschaftsinstitutionen schufen, nicht nur Pflichten für die Mitgliedstaaten mit sich. Von nun an konnten und können Einzelne europarechtliche Normen für sich geltend machen und sich unmittelbar vor nationalen oder europäischen Gerichten auf dieses europäische Recht berufen. Durch diese Gewährung von Rechtsansprüchen der Einzelbürger auf Grundlage supranationaler Rechtsetzung wurde ein Prozess in Gang gesetzt, in dem nach und nach die Integrität des demokratischen Nationalstaates ausgehöhlt wurde.

Es handelt sich also beim europäischen Einigungsprozess um eine revolutionäre Entwicklung, die einerseits durch aufeinanderfolgende Vertragsänderungen, aber nicht zuletzt auch auf dem Wege der europäischen Rechtsprechung, schrittweise ein hoheitliches Verhältnis zwischen einem supranationalen Staatsgebilde und den einzelnen Bürgern etablierte. Zunächst handelte es sich um eher technische Regelungen, die etwa die Größe von Traktorensitzen oder Steckdosen normierten. Die Etablierung von Marktfreiheiten ermöglichte zusätzlich zu jeder neuen Erweiterungsrunde einen immer größeren Wirtschaftsraum. Was jedoch niemals ernsthaft politisch thematisiert wurde, war die Erzeugung eines logischen Sachzwangs, der nach und nach eine weitergehende politische Integration nahe legt. Denn wenn die ökonomische Verflechtung Europas immer weiter zunimmt, so entstehen immer mehr Sachverhalte, die sich auf nationaler Ebene allein so nicht zufriedenstellend regeln lassen.

Im Zuge der gegenwärtigen Eurokrise wird diese Dynamik besonders deutlich. Hier wird mittlerweile argumentiert, dass angesichts der ökonomischen Verflechtung der Euroländer eine weitere politische Integration von Bereichen der Fiskal-, Wirtschafts- bis hin zur Lohnfindungspolitik vonnöten sei, um die aus der Einführung des Euro erzeugten „Ungleichgewichte“ rückgängig zu machen. Hier greift also eine Argumentation, die uns vor vollendete Tatsachen stellt, über deren Entstehung und Folgen niemals öffentlich debattiert worden ist. Das Zusammenwachsen Europas wird als etwas wahrgenommen, das nicht spontan von den Bürgern Europas gewollt wird, sondern zähneknirschend als vollendete Tatsache hingenommen werden muss.

Herrschaftsausübung ohne Rechenschaft

Damit aber bekommt die ohnehin schon mächtige Bürokratie der EU Zugriff auf weitere Kernbereiche souveräner Politik. Hier ist zum einen die gesetzgebende Gewalt auf drei Organe verteilt: die EU-Kommission, die das alleinige Initiativrecht innehat, der EU-Ministerrat, der das wichtigste Gesetzgebungsorgan ist, und das EU-Parlament, das mittlerweile auf vielen Gebieten eine Art Vetorecht innehat. Auf diese Weise entsteht ein ungreifbarer Rechtsetzungsprozess, der sich einerseits auf verschiedene Organe verteilt. Diesem schon organisatorisch schwer zu fassenden Arrangement ist zudem eine Vielzahl von mittlerweile 500 Millionen „EU-Bürgern“ bzw. „Angehörigen“ der 27 Mitgliedstaaten ausgesetzt, die zusammen eben kein kohärentes, solidarisch verbundenes „Staatsvolk“ darstellen.

Es fehlt auf der europäischen Ebene an einem rechenschaftspflichtigen Hauptverantwortlichen einer zusammenhängenden Politik. Denn das für die europäische Gesetzgebung wichtigste Organ, der „Rat der Europäischen Union“ (Ministerrat), geht in seiner Gesamtheit nicht aus direkten, europaweiten Volkswahlen hervor.  Auf nationaler Ebene muss sich etwa der Deutsche Bundestag nach Ablauf einer Legislaturperiode einer Volkswahl stellen. Auf diese Weise ist es möglich (schon hier mit Abstrichen), die von ihm verantwortete Politik zur Diskussion zu stellen oder beispielsweise durch konkurrierende, auch neu gegründete, Parteien herauszufordern. Das ist so in Europa nicht möglich, weil hier mehrere Voraussetzungen fehlen.

Das EU-Parlament hat mittlerweile sehr viele Befugnisse bekommen. Doch es hat mangels der Befugnis, an den aus Mitgliedern nationaler und supranationaler Exekutiven zusammengesetzten Organen „Kommission“ und „Ministerrat“ vorbei europäische Rechtsnormen zu erlassen, nur eine geteilte Macht. Die Mitglieder des EU-Ministerrates sind zwar indirekt durch die nationalen Wahlakte legitimiert, doch in diesen nationalen Wahlen spielt die europäische Politik kaum eine Rolle. Obendrein läuft dieser reguläre Gesetzgebungsprozess in einem vorgegebenen Rahmen ab, den der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs in vertraulichen, der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Sitzungen abgesteckt hat.

Der eigentliche politische Willensbildungsprozess der EU ist der Rechenschaft eines zusammenhängenden Kollektivs auch und vor allem deshalb entzogen, weil er sich obendrein in den Verhandlungen zwischen den Organen Kommission, EU-Ministerrat und EU-Parlament abspielt. Auch hier werden große Teile der EU-Gesetzgebung durch Expertenuntergliederungen in nicht öffentlichen Sitzungen vorbereitet. Schon organisatorisch ist das gesetzgeberische Wirken der europäischen Institutionen kaum zu fassen.

Hinzu kommt jedoch, dass in der Europäischen Union diesem institutionellen Machtarrangement kein politisches Gemeinwesen gegenübersteht, das es auf nationaler Ebene gibt. Demokratie beruht auf der Prämisse, dass Menschen kollektiv zur positiven Gestaltung der sie umgebenden Zustände in der Lage sind. Nötig ist ein Zusammengehörigkeitsgefühl samt eingespielter Traditionen und unausgesprochener Übereinkünfte, die erst einen dauerhaften Verständigungszusammenhang schaffen. Nur so nämlich entsteht ein lebendiges und solidarisches Gemeinwesen, das den für eine Demokratie nötigen Streit erträgt – ein tragfähiges Gemeinwesen, das sich eben nicht im Sinne eines Teile und Herrsche aufspalten lässt.

Natürlich gibt es schon seit etlichen Jahren eine verstärkte öffentliche Diskussion darüber, wie sich das so genannte „Demokratiedefizit“ beheben ließe. Im Zuge der Eurokrise werden die Stimmen lauter, die eine weitere Stärkung der Kompetenzen des Europäischen Parlamentes befürworten. So setzt sich auch die SPD für eine stärkere europäische Volksvertretung ein. Sozialdemokratische Politiker befürworten eine entschlossene „europäische Wirtschaftsregierung“. Diese sei nötig, um die Kluft zwischen transnationaler europäischer Geldpolitik und einer zersplitterten nationalen Wirtschaftspolitik zu überwinden. Auch Jürgen Habermas meint, dass man die gegenwärtige Eurokrise dazu nutzen solle, die „Demokratisierung“ Europas voranzutreiben.

Habermas wirft europäischen Politikern und Medien vor, sie hätten bislang den nationalen Wählerschaften nicht genügend die europäischen Dimensionen inter- und transnationaler Sachverhalte samt deren Zusammenhängen argumentativ ausgebreitet. Damit spricht er gewiss einen richtigen Punkt an, weil es gerade in der Natur des bisherigen europäischen Einigungsprozesses lag, europäische Politik aus den Wahlkämpfen zu halten und auf enge Expertenzirkel zu beschränken. Entsprechend fordert er, dass sich die gegenwärtig voneinander abgekapselten nationalen Öffentlichkeiten füreinander öffnen sollen. Außerdem soll jetzt, wo sich die Eurokrise zuspitzt, die vertrauliche Hinterzimmerpolitik auf den „hemdsärmeligen Modus eines lärmenden Meinungskampfes“ umgepolt werden. So richtig seine Forderungen auch sein mögen: Die wahre Dimension des Problems hat Habermas damit noch nicht ganz erfasst. 

Denn die Misere der Europäischen Union liegt heute darin, dass sie angesichts der Krise einerseits einem ungeheuren Belastungstest ausgesetzt ist. Andererseits fehlt jedoch die populäre und demokratische Basis für eine transnationale Solidarität unter den europäischen Bürgern. Gegenwärtig sind wir mit der vollendeten Tatsache eines brandgefährlichen Auseinanderdriftens der Eurozone konfrontiert. Die jetzige Eurokrise ist durch eine verfehlte und zugleich nie wirklich offen diskutierte Integrationspolitik entstanden. Gerade in dieser Situation eines Ausnahmezustandes diskutiert man nun auf einmal darüber, die Europapolitik zu „demokratisieren“. Auf diese Weise, so meint man wohl, lasse sich ein weiterer Integrationsschub besser „legitimieren“.

Doch wenn die europäischen Bürger mit einer derartig ausgebreiteten Alternativlosigkeit konfrontiert sind, so reagieren sie erst recht verstimmt. Denn die demokratische Freiheit des europäischen Bürgers erweist sich als trügerisch; sie besteht hier, um ein Diktum des christdemokratischen Europapolitikers Karl Lamers aufzugreifen, in der durch „führungsstarke“ Politiker vermittelten „Einsicht in die Notwendigkeit“ einer weiteren Zentralisierung europäischer Politik. Allein aus diesem Grund wirkt das gegenwärtige Vorgehen Angela Merkels, im französischen Wahlkampf zusammen mit ihrem konservativen Gesinnungsgenossen Nicolas Sarkozy aufzutreten, um damit eine transnationale Parteiensolidarität zu demonstrieren, eher komisch und aus der Not geboren.

Die gegenwärtigen Versuche, Europa zu einer notgedrungenen „Schicksalsgemeinschaft“ zusammen zu schweißen, gehen aber auch aus einem anderen Grunde fehl. Das Zusammenwachsen der „Völker“ Europas hat vor allem deshalb nicht mit der ökonomischen und politischen Integration innerhalb der EU Schritt gehalten, weil hier ein Ansatz zugrunde liegt, der die Perspektive einer europäischen Nation und eines europäischen „Staatsvolkes“ von vorneherein unterbindet. Denn Habermas schwebt, wie anderen „Pro-Europäern“ auch, ein „kosmopolitisches“ Gemeinwesen auf europäischer Ebene vor. Eine solche kosmopolitische Europäische Union kann aber nur eine abgeschwächte Solidarität unter den europäischen Bürgern erzeugen. Die „kosmopolitische Zivilgesellschaft“ erscheint hier als eine „Demokratie“ ohne „Volk“ oder als entkernte Demokratie - ähnlich den Zigaretten ohne Nikotin.

Die geballte Macht der gesetzgebenden Körperschaften muss zum einen greifbarer werden. Insoweit sind alle Vorschläge, die das Europäische Parlament noch weiter stärken, die das Initiativmonopol der expertokratischen EU-Kommission brechen und die politische Willensbildung des Europäischen Rates und des Ministerrates aus den Hinterzimmern in die Öffentlichkeit verlagern und somit „transparenter“ gestalten, vorbehaltlos zu begrüßen. Auch das Ansinnen, die nationalen Parlamente stärker an europäischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen, geht in die richtige Richtung. Diese Vorschläge, den europäischen Apparat durch derartige institutionelle Reformen an die demokratische Leine zu legen, reichen jedoch bei weitem nicht aus.

Denn zum anderen muss der europäischen Politik in ihrer Gesamtheit im Sinne einer funktionierenden Demokratie die dauerhaft tragfähige Bündelung eines ernst zu nehmenden Kollektivs, altmodisch „Volk“ genannt, entgegentreten. Nur ein dauerhaftes Gemeinwesen mit eingespielten, unausgesprochenen Übereinkünften ist in der Lage, ohne Zwangskorsette für Gemeinsinn und Integrität unter den Bürgern zu sorgen. Nur ein „Staatsvolk“ kann Politik in ihren umfassenden Zusammenhängen beurteilen, antreiben und gegebenenfalls verwerfen. Nur so entsteht seitens der Untergebenen eine anerkennenswerte und gar zu fürchtende Autorität, die ihre politischen Repräsentanten folgenreich bewerten und damit zur Rechenschaft ziehen kann.

Stattdessen hat sich heute jedoch ein Politikmodus verfestigt, der grundsätzlich die kollektive autonome Willensbildung der individuellen Bürger als Mitglieder eines gebündelten Staatsvolkes anzweifelt. Man strebt zwar an, dass die Europäische Union immer mehr Befugnisse erhält. Doch man weigert sich, nationalstaatliche Demokratiemodelle, vor allem die herkömmlichen Vorstellungen eines „europäischen Staatsvolkes“, auf die EU anzuwenden. Rhetorisch beziehen sich Verfechter der EU zwar immer noch auf die „Demokratie“. Doch sie verweigern sich eben einem europäischen „Demos“ der sich entwickelnden „Vereinigten Staaten von Europa“.

Das ist ein wichtiger Hintergrund dafür, weshalb sich trotz immer wieder geäußerter Klagen über diverse „Demokratiedefizite“ am autoritär-bürokratischen Charakter der Europäischen Union wenig ändern wird. Wenn es an einem populären Zusammenhalt des politischen Gebildes der EU mangelt, sind dauerhafte und autoritäre Institutionen vonnöten, die eine feste Klammer des europäischen Staatswesens bilden. Eine solche Institution ist der elitäre Beamtenapparat der Europäischen Kommission. Ohne sein Monopol in der Initiative der europäischen Gesetzgebung, so die zugrunde liegende Furcht, würde die Europäische Union in kürzester Zeit auseinander fliegen. Ohne die disziplinierende Rolle der EU-Kommissare, die seit jeher als „Motor“ der europäischen Integration wirken, wäre der „europäische Gedanke“ kaum aufrecht zu erhalten. 

Auch die Tatsache, dass in Europa viele politische Entscheidungen in den nicht-öffentlichen Expertenuntergliederungen getroffen werden, ist bloß ein Reflex darauf, dass ein mit einem Nationalstaat vergleichbares Gemeinwesen von vornherein nicht angestrebt wird. Denn ein „europäischer Demos“ ist als Adressat nicht vorgesehen. Also läuft auch jegliche institutionelle Vorrichtung, die eigentlich an eine europäische Öffentlichkeit adressiert sein will, mangels Adressaten leer. Genau dieses Problem antizipierte die Demokratietheoretikerin Hannah Arendt schon in ihren Vorstellungen einer despotischen „Weltregierung“.

In ihrem Buch Was ist Politik? schrieb Arendt, dass wir möglicherweise „statt einer Anschaffung des Politischen eine ins Ungeheure vergrößerte despotische Herrschaftsform“ erhielten. In dieser hätte „die Kluft zwischen Herrschern und Beherrschten so gigantische Ausmaße angenommen“, dass „nicht einmal mehr Rebellionen, geschweige denn Kontrolle der Herrscher durch die Beherrschten in irgendeiner Form möglich wäre“. Denn „die bürokratische Herrschaft, die Herrschaft durch die Anonymität der Büros, ist nicht weniger despotisch, weil ‚niemand’ sie ausübt; im Gegenteil, sie ist eher noch furchtbarer, weil mit diesem Niemand niemand reden und vor ihm vorstellig werden kann.“

Technokratie und Stimmungspolitik als Demokratieersatz

Die EU-Kommission ist schon seit Jahrzehnten ein wichtiger Vorläufer für den gegenwärtigen Schub hin zu Expertenregierungen.  Im Zuge der Bekämpfung der Eurokrise werden die Konturen einer europaweiten „Wirtschaftsregierung“ sichtbar. Deren federführender Koordinator wird die EU-Kommission sein. Sie wird in die Wirtschaftspolitik aller Nationalstaaten hineinregieren können. Diese Entwicklung höhlt in revolutionärer Weise die einzelstaatliche Souveränität weiter aus. Trotzdem wird sie bislang kaum wahrgenommen, geschweige denn debattiert.

Wie der emeritierte Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Fritz Scharpf, herausstellt, eignet sich die gegenwärtige Handhabung der Krise keineswegs als Vehikel zur Demokratisierung Europas. Vielmehr drohe uns nun ein nach seinen Worten „expertokratisches“ Super-Europa, denn die Vision eines demokratischen Europas liege nicht der Entwicklungslogik des europäischen Einigungsprozesses. Nichtsdestotrotz wird gegenwärtig aber versucht, die fundamentalen strukturellen Unterschiede innerhalb Europas – vom Arbeitsmarkt bis zum Bildungs- und Gesundheitssystem – mittels „autoritärer Kommissare“, durch Verhandlungen von 27 Regierungen oder durch Mehrheitsentscheid in einem aus Vertretern einer kosmopolitischen Elite zusammengesetzten Europäischen Parlament zu überbrücken.

Mit den so genannten „Sixpack“-Verordnungen, die Ende letzten Jahres erlassen wurden, kann die Kommission nun in jedes nationale Politikfeld hineinregieren – ganz gleich ob Bildungs-, Lohn- oder Sozialpolitik. Um „makroökonomische Unterschiede“ auszugleichen, können die EU-Beamten auch Deutschland Maßnahmen „empfehlen“ und, wenn es nicht gehorcht, Sanktionen verhängen, die Mitgliedstaaten im Rat nur mit qualifizierter Mehrheit außer Kraft setzen könnten. Hier haben wir es mit der Weiterbildung eines Expertenwesens zu tun, das auf europäischer Ebene eindrucksvoll als Ersatz einer fehlenden, demokratisch ermittelten Orientierungsfindung wirkt.

Demokratie braucht ernst zu nehmende politische Bewegungen, die ein programmatisch solides und überzeugend entwickeltes Bild dessen anbieten, was für eine Gesellschaft angestrebt wird. Stattdessen greift heute ein profundes Misstrauen gegenüber der Integrität eines unbeaufsichtigten Gemeinwesens um sich. Als Ergebnis dessen erleben wir den Trend, sogar politische Entscheidungsabläufe durch juristische Vorgaben extern einzuhegen. Schuldenbremsen, die im Zuge der europäischen Anti-Krisen-Politik implementiert werden, engen die Optionen der nationalen Haushaltspolitik ein, und zukünftig soll sie außerdem einem weiter ausgreifenden Überwachungsmechanismus der EU unterworfen werden.

Es handelt sich hier um eine Resonanz auf eine Entwicklung, die für den „gesunden Menschenverstand“ als Ausfluss einvernehmlich erzeugten Gemeinsinns immer weniger übrig hat. Experten nehmen im politischen Willensbildungsprozess einen zunehmend wichtigeren Platz ein, weil auch das generelle Ansehen der Parteipolitik einen Tiefststand erreicht hat. Die gewachsene Bedeutung der „Technokraten“ ist aber auch Ausdruck einer generellen Geringschätzung menschlicher Freiheit und der geminderten Bedeutung politischer Subjektivität.

Dass das Vertrauen in die aufklärerische Kraft der unbefangenen Debatte möglichst vieler Bürger gesunken ist, erkennt man jedoch auch an einer scheinbar gegenläufigen Entwicklung. Paradoxerweise gesellt sich nämlich ein „populistischer“ Politikmodus hinzu. Etliche Kritiker werfen der gegenwärtigen Politik nämlich vor, dass sie sich ihrerseits nur an „Stimmungen“ orientiere. Das führt zu einem prinzipienlosen Regierungsstil, der je nach Situation, ohne ernsthafte parlamentarische Diskussion, beispielsweise einen folgenreichen Paradigmenwechsel etwa der deutschen Atompolitik bewirkt.

Wie die Publizistin Gertrud Höhler ausführt, handelt es sich hier um einen Politikstil, der von gebrochenen Versprechen lebt. Wer die Macht habe, der bestimme auch, welche Werte gerade außer Kraft zu setzen seien. Hier bricht sich eine Politik Bahn, die einerseits das Bild einer gegen demokratische Aufklärung resistenten Öffentlichkeit hegt und zugleich eine Unberechenbarkeit erzeugt, die jegliche Parteiprogrammatik verwässert. Gegnerischen Parteien nimmt man die Themen weg, und am Wahltag weiß der Wähler nicht, wen und welche Politik er denn überhaupt wählt.

Obendrein ist es typisch, dass keine kohärente Strategie ersichtlich ist, sondern am Ende wiederum nur das eben durch die Abwesenheit von Strategie entstandene Reagieren auf ausweglose und vollendete Tatsachen. Das schwächt so auch die verbliebenen demokratischen Institutionen weiter, weil unter dem dringlichen Eindruck einer Ausnahmelage demokratische Deliberation und Diskussion keinen Platz mehr finden. Die Politik gibt hier ihre Verantwortung und ihren Gestaltungswillen nicht nur mit Verweis auf unabwendbare „Sachzwänge“ auf. Sie beruft sich angesichts plötzlich aufgetretener Katastrophen obendrein auf spontane Stimmungslagen, um kurzerhand abrupte Kehrtwenden zu vollziehen.

Es sind Entwicklungen, die die Demokratie im eigentlichen Sinne auflösen. Denn statt „Herrschaft“ von Menschen über ihre Verhältnisse haben wir Ohnmacht und Verantwortungslosigkeit. Demokratie besteht darin, dass wir komplexe wirtschaftliche und politische Belange frei und ohne Aufsicht gestalten können. Demokratie ist Ausfluss kollektiv koordinierter Freiheiten der Bürger. Stattdessen macht sich heute auf allen gesellschaftlichen Ebenen ein Fatalismus breit, der eine Vielzahl von Menschen erfasst, die sich als einzelne immer weniger einem politischen Gemeinwesen zugehörig fühlen. Was heute fehlt, ist eine Bewegung, die eine verheißungsvolle Vorstellung einer besseren Zukunft anbietet und den Menschen als Gestalter seiner Gegebenheiten, als autonomen Schöpfer neuen Wohlstandes auffasst.

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