07.07.2017
NetzDG – eine deutsche Tragödie
Analyse von Kolja Zydatiss
Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz bekommt die Bundesrepublik eines der autoritärsten Gesetze ihrer Geschichte. Dass das nicht verhindert wurde, liegt auch an unserem Verhältnis zur Meinungsfreiheit.
Der Beauftragte für Meinungsfreiheit der Vereinten Nationen hatte davor gewarnt, ebenso der Generalsekretär des Europarats. Die EU-Kommission meldete starke Bedenken an. Bei einer Expertenanhörung im Deutschen Bundestag sprachen sich viele der Sachverständigen, darunter führende Medienrechtler, dagegen aus. Die Abgeordneten von Union und SPD haben es trotzdem – im Schatten der viel beachteten „Ehe für Alle“-Abstimmung – verabschiedet.
Es geht um das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz, kurz NetzDG. Das Lieblingsprojekt von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) soll sogenannte „Hasspostings“ im Internet eindämmen. Ein Anliegen, das den politischen Eliten am Herzen liegt. Schließlich glauben Sie, dass die oft ruppige und polarisierende Diskussionskultur im Netz maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass sich immer mehr Bürger von der etablierten Politik abwenden.
Das am letzten Tag vor der parlamentarischen Sommerpause beschlossene Gesetz schreibt vor, dass die Betreiber „sozialer“ Internetplattformen mit mehr als zwei Millionen inländischen Nutzern „offensichtlich strafbare“ Inhalte innerhalb von 24 Stunden löschen müssen. Andernfalls drohen Geldstrafen von bis zu 50 Millionen Euro. Bei weniger eindeutigen Fällen soll eine Frist von sieben Tagen gelten.
„Der Beauftragte für Meinungsfreiheit der Vereinten Nationen hatte davor gewarnt.“
Die Große Koalition hatte vor der Bundestagsabstimmung noch einige Änderungen am ursprünglichen Gesetzesentwurf vorgenommen. So müssen Internet-Unternehmen erst mit Geldbußen rechnen, wenn sie die Regeln zur Löschung verbotener Inhalte „systematisch“ missachten, und nicht schon, wie zunächst vorgesehen, bei einmaligen Verstößen. Des Weiteren können sie in schwierigen Fällen die Löschentscheidung an ein neues Selbstregulierungsgremium abgeben, das nach dem Vorbild des (mehr als problematischen) Jugendmedienschutzes eingerichtet werden soll. Dieses Gremium wird dem Bundesamt für Justiz unterstehen. Wie genau es ausgestaltet und besetzt wird, ist noch unklar. Man kann aber in jedem Fall davon ausgehen, dass so neue Verwaltungsstellen geschaffen werden und ein weiteres staatliches Organ mit Eigeninteresse entsteht.
Bestimmte Plattformen wie berufliche Netzwerke, Fachportale und Online-Spiele wurden vom NetzDG ausgenommen. Ebenfalls aus der endgültigen Fassung verschwunden ist die Pflicht der Betreiber, die eigenen Plattformen mittels sogenannter Content-Filter proaktiv nach Kopien beanstandeter Inhalte zu durchsuchen. Dies wäre wohl ohnehin nicht mit der europäischen E-Commerce-Richtlinie vereinbar gewesen. Der umstrittene Auskunftsanspruch für sogenannte Bestandsdaten wie Name, E-Mail und Postanschrift ist abgeschwächt worden. Ursprünglich sollte er für Persönlichkeitsrechtsverletzungen und andere Verletzungen „absolut geschützter Rechte“ gelten. Kritiker hatten darauf hingewiesen, dass dies auf ein Ende der Anonymität im Netz hinauslaufe und dass Menschen, die andere im realen Leben bedrohen wollen, sich so recht einfach deren Adressen beschaffen könnten. In der nun vom Bundestag verabschiedeten Fassung wird der Auskunftsanspruch unter Richtervorbehalt gestellt und soll nur bei „schwerwiegenden“ Persönlichkeitsrechtsverletzungen gelten.
Die Befürworter des Gesetzes behaupten, dass man mit diesen Überarbeitungen auf die wesentlichen gegen das NetzDG vorgebrachten Bedenken eingegangen sei. Die SPD-Fraktion im Bundestag verkündet etwa in einer Pressemitteilung, dass die von Kritikern befürchtete Privatisierung der Rechtsdurchsetzung ausgeschlossen sei. Die beschlossene Fassung schütze auch vor „Overblocking“, also der Löschung kontroverser, aber unter deutschem Recht legaler Statements.
„Overblocking gibt es bereits.“
Das ist offensichtlicher Unsinn. Egal, wie man es dreht und wendet, die Tatsache bleibt, dass das NetzDG Unternehmen dazu zwingt, unter hohem Zeitdruck Entscheidungen über die Rechtswidrigkeit von Äußerungen zu treffen. Entscheidungen, die in einem demokratischen Rechtsstaat Gerichten obliegen sollten. Overblocking gibt es bereits. Hier nur einige Beispiele: 2016 wurde der Publizist David Berger zeitweise von Facebook verbannt, weil er einen Artikel postete, in dem er „Linksgrünen“ einen „Schmusekurs“ gegenüber dem Islam vorwarf. Der Religionskritiker Ali Utlu wurde für 30 Tage gesperrt, weil er ein Foto teilte, dass den IS mit dem Ku-Klux-Klan gleichsetzte. Ebenso erging es im April dieses Jahres dem islamkritischen Netzaktivisten Cahit Kaja. Er hatte in einem Facebook Post der SPD vorgeworfen, den Islamismus in Deutschland zu befördern. Diese Woche sperrte Facebook für drei Tage den Chefredakteur der rechtskonservativen Zeitung Junge Freiheit, Dieter Stein, wegen einer von ihm geposteten Karikatur, die sich über die Ehe für Alle lustig macht. In jüngster Zeit wird auch bei Twitter zunehmend zensiert.
Durch das NetzDG, das noch vor der Bundestagswahl im Herbst dieses Jahres in Kraft treten soll, dürfte die Löschwut der Plattformbetreiber erheblich zunehmen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Overblocking für die Regierung kein Kollateralschaden, sondern ein Zweck – oder zumindest ein nützlicher Nebeneffekt – des Gesetzes ist. Spätestens seit dem „Flüchtlingsherbst“ 2015 will das gesellschaftliche Establishment die Verbreitung „rechten“ Gedankenguts um jeden Preis verhindern. Man fürchtet eine Radikalisierung der Bevölkerung, die sich in Wahlerfolgen der rechtspopulistischen AfD niederschlägt. Das führt zu abenteuerlichen Verrenkungen. Etablierte Politiker weigern sich etwa, an Fernsehdebatten mit AfD-Vertretern teilzunehmen, oder regeln die Besetzung des Alterspräsidenten des Bundestages neu, damit das Recht, in der ersten Sitzung die Eröffnungsrede zu halten, keinem Abgeordneten jener Partei zufällt. Das NetzDG, dem wohl vor allem islam- und einwanderungskritische Äußerungen zum Opfer fallen werden, kann (zusammen mit Wohnungsdurchsuchungen) als vorläufiger Höhepunkt dieser zensorischen Strategie gewertet werden. Daneben befreit das Gesetz den Staat von der Notwendigkeit, selbst eine gewaltige Bürokratie zur Kontrolle unliebsamer Netzinhalte einzurichten.
Die enorme Gefahr für die Meinungsfreiheit, die vom NetzDG ausgeht, wurde hierzulande durchaus registriert. Neben den außerparlamentarischen Oppositionsparteien Piraten, FDP und AfD leistete vor allem ein Bündnis aus IT-Branchenverbänden, NGOs und einzelnen Bürgerrechtlern, Wissenschaftlern und Juristen Widerstand, das im April dieses Jahres gegründet wurde. Die Kritik der Allianz konzentrierte sich jedoch vor allem auf die Gefahr des Overblockings durch private Unternehmen. Die vielen in Deutschland geltenden rechtlichen Einschränkungen der Meinungsfreiheit, die das NetzDG „durchsetzen“ soll, wurden nicht in Frage gestellt, sondern als Teil einer vermeintlich notwendigen politischen „Gesamtstrategie“ gegen Hassrede ausdrücklich befürwortet.
„Es ist nicht nur mit Löschorgien zu rechnen, sondern auch mit Selbstzensur.“
Hier wird deutlich, warum das für die Meinungsfreiheit so offenkundig katastrophale NetzDG nicht gestoppt werden konnte. Anders als in den USA ist in Deutschland kaum jemand bereit, die Meinungsfreiheit als allgemeines Prinzip zu verteidigen. Für viele Deutsche umfasst „Meinungsfreiheit“ das Spektrum rechtlich zulässiger Meinungen. Eine weitere Minderung dieser „kleinen Freiheit“ wird nicht widerstandslos hingenommen. Auf die vermeintlich besonders zivilisierte deutsche Rechtslage mit ihren Verboten von Volksverhetzung, Holocaustleugnung usw. ist man jedoch stolz. Wie Horst Meier bei Novo schreibt, werden diese Einschränkungen oft nicht einmal als Verkürzung der Meinungsfreiheit erkannt.
Sofern EU, Bundesrat, Verfassungsgericht oder der Bundespräsident es nicht kippen, bekommt Deutschland also eines der autoritärsten Gesetze zur Einschränkung von Internet-Meinungsfreiheit in Demokratien (laut dem Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen Deutschland beruft sich das oft als „letzte Diktatur Europas“ bezeichnete Weißrussland bereits auf das NetzDG, um eigene Zensurbemühungen zu rechtfertigen). Es ist nicht nur mit Löschorgien zu rechnen, sondern auch mit Selbstzensur, der sprichwörtlichen „Schere im Kopf“. Das ist tragisch, auch und gerade im Hinblick auf die durchaus besorgniserregende Verhärtung gesellschaftlicher Debatten. Denn diese resultiert vor allem aus der zunehmenden Verengung des öffentlichen Diskursraums. Ob EU, Multikulti oder Energiewende, bei vielen Themen werden vom politischen Mainstream abweichende Ansichten ausgegrenzt oder stigmatisiert. Immer mehr Bürger fühlen sich nicht mehr repräsentiert. Ihren Frust leben sie im Netz aus. Die dort geäußerten Ansichten können beleidigend oder rückständig sein. Dagegen hilft jedoch kein Zensurgesetz, sondern offene Debatten.