14.09.2011

Mehr Diskussion, nicht erzwungenes Schweigen

Essay von Horst Meier

Das Recht auf freie Rede ist unteilbar. Es schließt auch die Freiheit, das politische Klima zu vergiften, mit ein. Nicht mit Zensur und „Hate Speech“-Paragrafen begegnet man dem Schüren von Vorurteilen, sondern mit Argumenten im Meinungskampf.

Wer für fünf Jahre ins Gefängnis geschickt wird, hat in der Regel üble Gewalttaten begangen: Raubüberfall, schwere Körperverletzung, Vergewaltigung und dergleichen. Und wer einen Fußgänger auf dem Zebrastreifen totfährt oder seine Firma um ein paar Millionen Euro erleichtert, muss schon ziemlich Pech haben, sollte er mit einer empfindlichen Haftstrafe belegt werden. Dass aber jemand für reine Meinungsdelikte so lange aus dem Verkehr gezogen wird, kommt in einem Rechtsstaat eigentlich nicht vor.

Bei uns jedoch gibt es so etwas: fünf Jahre Haft für Verbalexzesse, für ein gleichsam unkörperliches Delikt. Denn der deutsche Staatsangehörige Ernst Zündel aus Kanada, ein Judenhasser und notorischer Auschwitzleugner, wurde im Februar 2007 vom Landgericht Mannheim zu ebendieser Strafe verurteilt. Dass die Richter, die auf fortgesetzte Volksverhetzung erkannten, bis an die Grenze dessen gingen, was ihnen auszuteilen erlaubt ist, fand allgemeinen Beifall: »Höchststrafe ? was sonst?«, brachte ein Pressekommentar das deutsche Rechtsgefühl auf den Punkt.

Weil der Bundesgerichtshof Zündels Revision verwarf, ist das Urteil gegen ihn rechtskräftig. Seine Verfassungsbeschwerde wurde erst gar nicht zur Entscheidung angenommen. Denn das Problem der Volksverhetzung ist in Karlsruhe längst durchgepaukt. Zum Beispiel im Fall des Deutschamerikaners Gary Lauck, der 1996 vor dem Landgericht Hamburg vier Jahre kassierte und diese Strafe bis zum letzten Tag absaß. Genau dies blüht nun auch dem achtundsechzigjährigen Ernst Zündel. Zu der Homepage, die er 1994 einrichtete, führt von der deutschen Ausgabe der Internet-Enzyklopädie Wikipedia kein Link, »aus Rechtsgründen«, heißt es. Indes wird Zündels Website ? ein übles, monomanisches Sammelsurium, das von einem traurigen Lebenswerk kündet ?, legal von den USA aus ins Netz gestellt. Was viele als öffentliches Ärgernis beklagen, sollte besser zu denken geben: Schließlich sind die Vereinigten Staaten eine altehrwürdige Demokratie.

Umso schlimmer!, sollte man meinen. Diese rechtsradikalen Sektierer können alles denken und fast alles sagen. Soll man da Krokodilstränen vergießen, nur weil sie einmal zur Verantwortung gezogen werden? Und überhaupt: Haben die Amerikaner nicht, da sie Leute wie Zündel gewähren lassen, ein gestörtes Verhältnis zum Minderheitenschutz? Es könnte aber auch sein, dass die Deutschen ein gestörtes Verhältnis zur Meinungsfreiheit haben. Jedenfalls steht, wenn zwei Rechtsordnungen kollidieren, die Vernunft beider in Frage. Gerade das macht ja den Reiz und den Erkenntnisgewinn des Rechtsvergleichs aus.

Die Meinungsfreiheit ist für die Demokratie »schlechthin konstituierend«, urteilte das Bundes­verfas­sungsgericht in einer Leitentscheidung aus dem Jahr 1958: »Denn (sie) ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist.« 1 Die Meinungsfreiheit ist gewissermaßen, so die deutschen Verfassungsrichter in Anlehnung an ihre amerikanischen Kollegen, »the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom«.

Das Verfassungsgericht hat sich um die Meinungsfreiheit verdient gemacht ? und dafür zuweilen heftig Prügel bezogen. Erinnert sei nur an seine Korrektur der Strafurteile gegen die Verwendung des Tucholsky-Zitats »Soldaten sind Mörder«. Doch das Strafrecht gegen die »Auschwitzlüge« hat man in Karlsruhe bislang abgesegnet: In der Leugnung des Verfolgungsschicksals der ermordeten Juden verbinde sich die Behauptung »erwiesen falscher Tatsachen« zwar untrennbar mit einer politischen Meinungsäußerung. Diese müsse aber regelmäßig hinter dem Persönlichkeitsrecht der Geschmähten zurücktreten, sozusagen als Meinungsäußerung zweiter Klasse. Diese Abwägung trifft sich mit dem verständlichen Bedürfnis, den Antisemitismus schon im Keim zu ersticken und Kränkungen der Naziopfer zu bestrafen. Doch spätestens mit dem Verbot, den Völkermord zu »verharmlosen«, ist man über den herkömmlichen Schutz der persönlichen Ehre hinausgegangen. Und die vorerst letzte Verschärfung des Volksverhetzungsparagraphen spricht nicht einmal mehr von Völkermord, sondern nur noch von der NS-Herrschaft als solcher, die niemand »billigen, verherrlichen oder rechtfertigen« darf.

In den USA hätten vergleichbare Strafgesetze keine Chance. Wer wissen will, warum das so ist, muss einmal die Aufregung um diesen oder jenen Fall vergessen und sich auf das amerikanische Verfassungs­denken einlassen: Zwischen Meinungsfreiheit und »freedom of speech« liegen Welten, die zu entdecken sich lohnt. 2 »Congress shall make no law abridging the freedom of speech«, heißt es im ersten Zusatzartikel zur US-Verfassung von 1787: Der Kongress soll kein Gesetz verabschieden, das die Freiheit der Rede verkürzt. Diese Ergänzung, Bestandteil der Bill of Rights von 1791, speiste sich ursprünglich aus dem Misstrauen gegen eine allzu mächtige Zentralgewalt. Neben der Redefreiheit sorgte man sich etwa um die ungestörte Religionsausübung, die Presse- und Versammlungsfreiheit und das Petitionsrecht. Der Supreme Court, 1790 als oberstes Verfassungsgericht eingesetzt, erklärte lange Zeit, die Bill of Rights sei aus­schließlich für den Zentralstaat bindend. Dann aber, seit 1925, setzte sich die Auffassung durch, dass die Grundrechte alle staatliche Gewalt verpflichten, also auch die der Bundesstaaten.

Während die Redefreiheit in den Anfängen des Supreme Court kaum eine Rolle spielte, änderte sich dies im 20. Jahrhundert gründlich. Seit 1917, dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg, als ein Gesetz gegen Spione auch antimilitaristische Agitation unter Strafe stellte, wurde das Verfassungs­gericht mit einer Vielzahl einschlägiger Fälle konfrontiert. Damals tendierte das Gericht dazu, dem Staat, der angesichts pazifistischer oder sozialistischer Parolen Unruhe und Ungehorsam fürchtete, vorbeugende Eingriffe in die Redefreiheit durchgehen zu lassen ? zumal in Kriegszeiten. Aber schon in den »dissenting votes«, die einzelne Richter gegen die Argumente ihrer Mehrheitskollegen schrieben, deutete sich ein neues Verständnis der Freiheit an.

Beispielsweise im Fall eines Streikaufrufs. Mit dem aufwiegelnden Druckwerk, urteilte 1919 die Mehrheit, habe man bezweckt, »mitten in der ärgsten Krise des Krieges Illoyalität und Revolution hervorzurufen«. In die Rechtsgeschichte ging indes die abweichende Meinung des Richters Oliver Wendell Holmes ein. Niemand könne annehmen, argumentierte er, das Flugblatt einer kleinen Gruppe unbekannter Leute beschwöre eine direkte Gefahr herauf.

Was sich zuerst in abweichenden Meinungen artikulierte, wurde später in richtungweisenden Fällen zu einer Sache von Mehrheiten. Der Supreme Court vollzog allmählich einen Perspektivwechsel. Nach der von Regierung und Parlament definierten öffentlichen Ordnung kam die individuelle Freiheit in den Blick und mit ihr die ungehemmte öffentliche Kommunikation. Die Mehrheiten waren hauchdünn, oft genug standen fünf Liberale gegen vier Konservative; und »free speech« wurde nicht schlechthin über alles gesetzt. Aber für den Kernbereich der Redefreiheit, für die Diskussion politischer Fragen gilt eine Regel, die das Gericht 1964 so formulierte: Die Debatte über öffentliche Angelegenheiten solle »unbehindert, robust und weit offen« sein. Eine Inhaltskontrolle findet nicht statt. Im Laufe der Zeit wurde der Schutzbereich der Redefreiheit stark erweitert. Heute gilt sie vielen als das Kennzeichen amerikanischer Bürgerrechte.

Ein radikales Verständnis von Freiheit, das jeden Einzelnen vor staatlicher Bevormundung schützt und keine Zugeständnisse an ein Freund-Feind-Schema macht, hat weitreichende politische Konsequenzen. Unter dem Schutz der Verfassung stehen nicht nur Rassisten des Ku-Klux-Klan, Antisemiten oder Neonazis, sondern auch Gegner des Vietnamkriegs, Anarchisten oder gar Antipatrioten, die das allseits verehrte Sternenbanner verbrennen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum US-Behörden nicht umstandslos bei der Verfolgung von Auschwitzleugnern oder der Säuberung des Internet behilflich sind. Dies geschieht nicht etwa aus Ignoranz dem »alten Europa« gegenüber. In den USA diskutiert man schon länger über »hate speech«, gelangt indes zu anderen Ergebnissen: Während man in Deutschland Meinungsdelikte statuiert, die bereits eine abstrakte Störung des »öffentlichen Friedens« bestrafen, wird in den USA gefragt, ob von anstößiger Propaganda konkrete Gefahren ausgehen.

Dabei spielt die Idee von »clear and present danger« eine zentrale Rolle. Sie wurde vom Supreme Court schon 1919 kreiert, doch erst im Zuge einer fünfzig Jahre währenden Kontroverse auch wirklich angewandt. Für den Grad der Gefährlichkeit einer öffentlichen Rede legte man zunehmend strenge Maßstäbe an: Genügte zunächst eine »bad tendency«, eine bloß abstrakt-schädliche Tendenz, forderte der »clear and present danger«- Test die Feststellung einer konkreten Gefahr. 1969 machte das Gericht damit ernst und verlangte ein »direct incitement « ? also eine direkte Anstiftung, die unmittelbar geeignet ist, ungesetzliches Verhalten hervorzurufen.

Nach den heute etablierten Standards werden verbale Attacken daraufhin geprüft, ob sie im jeweiligen Kontext tatsächlich geeignet sind, die konkrete Gefahr eines ungesetzlichen Verhaltens herauf­zubeschwören. Erst regelrechte Brandreden dürfen notfalls sanktioniert werden. Nur wenn ein so definierter Bruch des Friedens vorliegt, urteilt der Supreme Court, können Polizei und Justiz gegen Hassprediger einschreiten. Es ist klar, dass nach diesen Kriterien selbst die schäbigste Variation der »Auschwitzlüge « keine konkrete Gefahr darstellt und durch die Redefreiheit geschützt ist. Der Vorteil dieser Grenzziehung für »free speech« ist offensichtlich, der Nachteil für die Opfer von »hate speech« auch; ihnen wird eine Menge zugemutet. Was in deutschen Ohren so herzlos klingt, ist nach amerika­nischem Rechtsverständnis ein wohldurchdachtes demokratisches Kalkül: Nicht Autorität, sondern Diskussion stiftet das Gemeinwohl der offenen Gesellschaft.

Daraus folgt eine zügellose Freiheit, das politische Klima zu vergiften, über die man sich empören mag. Eines sollte man freilich bedenken: Jeder Idee wohnt etwas von materieller Gewalt inne, sie kann, rhetorisch scharfgemacht, einschlagen und zünden. »Redegewandtheit kann der Vernunft brandgefährlich werden«, schrieb Holmes. Ebenso wie die öffentliche Rede mit Argumenten überzeugen und aufklären kann, kann sie auch Vorurteile schüren und zum Hass aufwiegeln. Was aber folgt daraus? Die Forderung nach Staatsaufsicht und Gesinnungsparagraphen? Oder die Einsicht, dass Freiheit und Gleichheit ein politisches Risiko hervorbringen, das man nun einmal auf sich nehmen muss? Demokratie lebt von der Bereitschaft, den öffentlichen Meinungskampf mit all seinen schrillen Tönen und Verstiegenheiten zu ertragen, ja sich mit einer gewissen Streitlust einzumischen. »Public discourse« meint das Glück der Freiheit, mit allen über alles die offene Debatte zu riskieren.

Dass Freiheit einen mitunter hohen Preis hat, hört sich simpel an, doch wie leicht vergisst es sich in der Hitze der politischen Debatte! Auf der richtigen Seite stehen ist wirklich schön, es genügt aber nicht. Kein noch so gutgemeinter Minderheitenschutz suspendiert die Spielregeln der Demokratie; kein noch so verständlicher Philosemitismus erübrigt die Frage nach den Bürgerrechten von Antisemiten; keine noch so sympathische Ausländerfreundlichkeit löst das Problem der Freiheit von Rassisten.

Dass der Kampf um die Bürgerrechte nicht zu Ende und einmal Erreichtes stets gefährdet ist, zeigt die jüngste Entwicklung in den USA. »In großen und kleinen Schritten ? der Supreme Court bewegt sich nach rechts«, berichtete die New York Times. Und der liberale Rechtstheoretiker Ronald Dworkin zieh die »Supreme Court Phalanx« der »fortgesetzten Subversion« (New York Review of Books, 27.September 2007): Die Revolution, die viele Kommentatoren voraussagten, als Präsident Bush »zwei ultrarechte Richter« ins Amt brachte, schreite mit atemberaubender Ungeduld fort. Es habe sich, klagt Dworkin, eine Phalanx gebildet, die, meist getarnt, darangehe, neues Verfassungsrecht zu schaffen: »Indem sie zentrale Verfassungsprinzipien außer Kraft setzt, die Generationen von Richtern, konservative ebenso wie liberale, entwickelt haben.«

Das zeitigt Folgen, auch in Sachen Redefreiheit. Ein Grundsatzurteil verkürzt die Rechte von Schülern. An einer Highschool in Alaska war ein Schüler gemaßregelt worden, weil er gegenüber der Schule, in Erwartung des olympischen Fackellaufs und zahlreicher TV-Kameras, ein Transparent entrollt hatte: »Bong Hits 4 Jesus«. Das ist Slang und meint so viel wie »Eine super Dröhnung für Jesus«. Der zehntägige Schulverweis, den es dafür gab, verletzt nicht das First Amendment, urteilte die Mehrheit des Supreme Court: Die Botschaft sei etwas »kryptisch«, doch ein »vernünftiger Beobachter « könne darin eine Aufforderung zum Gebrauch illegaler Drogen sehen. Das aber widerspräche dem Erziehungsauftrag der Schule.

Der Fall Morse versus Frederick mag bizarr anmuten, doch er ist, wie die Washington Post schrieb, der wichtigste Konflikt um die Redefreiheit in öffentlichen Schulen seit dem Vietnamkrieg. Damals hatte der Supreme Court in einer »landmark decision« klargestellt, dass niemand am Schultor seine Bürgerrechte abgibt und Schülern, die schwarze Armbinden trugen, zugebilligt: Verhalten, das weder den Unterricht stört noch die Rechte anderer verletzt, darf nicht unterdrückt werden, nur weil es den Ansichten der Schulautoritäten über Krieg und Patriotismus widerspricht.

In diesem Sinne argumentierte Richter John Paul Stevens, federführend für die »dissenting opinion«: Die Nonsense-Parole war vieldeutig und nicht dazu bestimmt, irgendjemanden zu irgendetwas zu überreden, sei es legal oder illegal. Sie war außerdem, schreibt Stevens, gar nicht geeignet, eine konkrete Gefahr heraufzubeschwören. Es kommt daher auch nicht darauf an, ob ein »vernünftiger Beobachter « die Parole als »smoke pot!« lesen kann. Obgleich dieser Fall albern begonnen habe, konstatiert Stevens, endet er mit einer »außergewöhnlichen First-Amendment-Entscheidung, die es zulässt, jede beliebige studentische Diskussion über Drogen zu zensieren«. Am Ende dürfen Schüler und Studenten, fürchtet er, nicht einmal offen über das Legalisieren und Besteuern von Marihuana sprechen. Stevens, mit siebenundachtzig Jahren alt genug, um noch auf die Zeit der Prohibition zurückzublicken, sagt über das Alkoholverbot seiner Studentenzeit: Was heute als gewöhnliche Handelsware gilt, wurde damals mit derselben moralischen Inbrunst verdammt, mit der heute der »war on drugs« geführt wird. Eine aufrichtige Diskussion, schließt Stevens, ist weitaus klüger als die »Unterdrückung unliebsamer Meinungen«.

Ungeachtet der jüngsten Entwicklung ist »freedom of speech« ein Grundrecht, das viele, auch konservative Amerikaner als eines ihrer »most cherished rights« in Ehren halten. Das hat Tradition. Public Speaking in a Free Society, so der Titel des Lehrbuchs von Thomas L. Tedford, besitzt in der angloamerikanischen Welt eine Bedeutung, über die man nur staunen kann. Die Kunst der öffentlichen Rede gilt dort als Aufgabe, die man nicht zuletzt seinen Zuhörern zuliebe zu meistern sucht.

Theorie und Praxis von »freedom of speech« bleiben eine Herausforderung ? zumal für deutsche Verhältnisse, die geprägt sind von einer Melange aus demokratischer Beflissenheit und politischem Kleinmut. Kein Wunder, dass der deutschen Angst vor der Freiheit die Lebendigkeit des amerikanischen Individualismus verdächtig ist: mal als Indifferenz gegenüber »Nazis«, mal als Eigensinn gegenüber der Gesellschaft, mal als Anarchismus in Staatsangelegenheiten, mal als Fetisch der Freiheit schlechthin.

Oder soll man erleichtert sein darüber, dass uns der »American way of speech« bislang erspart blieb? Man kann ja die deutsche Meinungsfreiheit verteidigen, weil man sich und anderen, vorsichtshalber und mit Blick auf die Naziverbrechen, nur die kleine Freiheit zumuten will. Doch dann soll man nicht vergessen zu fragen, welche denn auf lange Sicht den Vorzug verdient: die auf den Staat oder die auf das Individuum bezogene Freiheit? Diese Debatte wäre eine Sache der Selbstaufklärung. Wenn nur die Befürworter der deutschen Rechtslage ein bisschen bescheidener wären; wenn sie verstünden, dass Haftstrafen für Kommunikationsdelikte in einer Demokratie nicht üblich sind; wenn sie ihr furchtbar gutes Gewissen einen Augenblick irritieren ließen; wenn sie, mit einem Wort, Problembewusstsein an den Tag legten: Dann könnten Paragraphen wie der gegen »Volksverhetzung« wenigstens als Ver­kürzung der Meinungsfreiheit erkannt werden. Als notwendiges Übel, das man vielleicht in Kauf nimmt, aber auf keinen Fall, wie hierzulande inzwischen üblich, als Errungenschaft der Vergangenheits­bewältigung ausgibt.

Wo man nicht auf die Freiheit stolz ist, sondern auf ihre Einschränkung, da stimmt etwas nicht. Wo man nicht zuerst die Debatte, sondern das Strafgesetz verschärft, da ist etwas faul. Zweifellos, das Gerede gewisser Leute ist ein öffentliches Ärgernis. Es verleitet dazu, ihnen das Maul stopfen zu lassen; es verführt dazu, nach dem autoritären Staat zu rufen. Wer dem nachgibt, ahnt nicht, welche Selbstheilungskräfte eine Demokratie aufbieten kann ? solange nicht Gewalt jede Diskussion zu ersticken droht. Richter Louis Brandeis schrieb 1927: »Das Heilmittel heißt mehr Diskussion, nicht erzwungenes Schweigen.« Redefreiheit ? das ist der Stachel, den das amerikanische Verfassungsdenken für uns bereithält.

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