22.04.2016
Meinungsfreiheit für Rassisten!
Kommentar von Johannes Richardt
Während Jan Böhmermann eine riesige Solidaritätswelle erlebt, schweigen wir im Fall Lutz Bachmann. Aber in beiden Fällen geht es ums Prinzip der Meinungsfreiheit
Meinungsfreiheit ist das große Thema. Überall trifft man zurzeit auf ihre leidenschaftlichsten Verteidiger. Erfreulich war die breite Front der Kritik gegenüber dem Einknicken von Bundeskanzlerin Merkel vor der Forderung des türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdoğan (richtig, der Typ mit dem besonderen Verhältnis zu einer bestimmten Gattung horntragender Paarhufer...), den Satiriker Jan Böhmermann wegen „Majestätsbeleidigung“ anzuklagen.
Die Beleidung der Mächtigen, gerade dann, wenn sie sich zunehmend tyrannisch gebärden, ist eine der ehrenvollsten Aufgabe von Satire. Gut, dass sich so viele Leute hierzulande für diesen Wert stark gemacht haben. Es ist auch richtig, dass der bescheuerten Paragraf 103 StGB abschafft wird, was wir bei Novo übrigens direkt zu Beginn der Affäre gefordert hatten. Gleichzeitig hatte die Empörungswelle aber auch etwas Wohlfeiles und Inkonsequentes.
Erdoğans neu-osmanisches Reich ist weit weg. Auch ist es nicht besonders schwer, Position für einen jungen und – gerade weil ziemlich zeitgeistkonform – hippen Satiriker zu beziehen, der es virtuos versteht, sich „immer ungreifbar auf die richtige Seite zu schlagen“, wie die F.A.Z. es mal treffend kommentierte. Da kann man schnell die inzwischen leicht vergilbten #JeSuisCharlie-Sticker aus der Schublade hervorzukramen und sich zum Vorkämpfer für die Meinungs-, Rede- und Kunstfreiheit stilisieren.
Kaum Beachtung und noch viel weniger öffentliche Anteilnahme erhielt hierzulande hingegen ein anderer Fall. Ich selbst wurde erst durch einen Kurzkommentar unseres britischen Partnermagazins Spiked richtig darauf aufmerksam: Lutz Bachmann, der Pegida-Gründer, musste sich am Dienstag, den 19. April, vor einem Gericht wegen „Volksverhetzung“ verantworten. Es geht um einen Facebook-Post, in dem er Flüchtlinge und Einwanderer als „Viehzeug“, „Gelumpe“ und „Dreckspack“ bezeichnet haben soll. Sollte er verurteilt werden, drohen ihm laut § 130 StGB bis zu fünf Jahre Gefängnis.
„Der Paragraf zur Volksverhetzung führt die Grundsätze der Meinungsfreiheit ad absurdum“
Der Aufschrei blieb hier allerdings aus. Doch wo liegt bei genauerem Hinsehen der Unterschied zwischen dem Fall Böhmermann und dem Fall Bachmann? In beiden Fällen haben Menschen von ihrem Recht Gebrauch gemacht, öffentlich ihre Gedanken auszudrücken, und werden nun dafür von staatlichen Instanzen zur Verantwortung gezogen. Und das ist in beiden Fällen gleichermaßen falsch.
Sicher wäre es kein großer Verlust für die Menschheit, wenn Typen wie Bachmann einfach mal die Fresse halten würden. Eine offene Gesellschaft muss es allerdings aushalten, wenn sie sich anders entscheiden. Genau das ist die Essenz der Redefreiheit. So wie Bachmann ein Recht haben muss, seine Ideen und Überzeugungen – und mögen sie auch noch so falsch und abstoßend sein – zu äußern, so haben die anderen Gesellschaftsmitglieder das Recht, diese zu hören und sich eine eigene Meinung darüber zu bilden. Gerade im Fall Böhmermann wurde das letzte Argument von vielen gegen die Löschung des Schmähgedichts aus der ZDF-Mediathek ins Feld geführt.
Der Paragraf zur Volksverhetzung führt diese Grundsätze ad absurdum. Er stellt die Fähigkeit erwachsener Menschen in Frage, als moral- und vernunftbegabte Akteure urteilen und handeln zu können. Auch zeigt sich in solchen Gesetzen ein Misstrauen der politischen Klasse gegenüber den Bürgern, von denen man wohl annimmt sie seien entweder ebenso verbohrt wie Bachmann oder würden sich zumindest leicht von dessen Aussagen verführen lassen, wenn man sie nicht davor schützt. Aber: Wenn der Staat Aussagen von Menschen wie Lutz Bachmann von vornherein zensiert, bleibt der Gesellschaft nicht mehr die Möglichkeit, sich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen und sie argumentativ oder von mir aus gerne auch mit den Mitteln des Humors zu entlarven. Der scheinbar bequeme Weg, solche Äußerungen nach dem Motto „Aus dem Auge, aus dem Sinn“ zu verbannen, löst keine gesellschaftlichen Probleme; man muss sich ihnen mit guten Argumenten stellen.
„Meinungsfreiheit muss auch und gerade für Arschlöcher und Rassisten gelten“
Gleichzeitig können sich Leute wie Bachmann als Märtyrer in Sachen Meinungsfreiheit stilisieren, was sie mit Sicherheit nicht sind. Die larmoyante Opferhaltung gerade der neuen Rechten, die meinen, Meinungsfreiheit bedeute, dass man jedes noch so menschenverachtende Ressentiment rauskotzen dürfe, OHNE dafür kritisiert oder angegriffen zu werden, ist ohnehin nur schwer erträglich. Wenn sich jemand rassistisch äußert, soll man ihn auch einen Rassisten nennen dürfen – egal ob er es wie ein Thilo Sarrazin auf elaborierte Weise tut oder wie Lutz Bachmann eher plump.
Dennoch sollte jeder das Recht haben, seinen Überzeugungen öffentlich Ausdruck zu verleihen ohne juristische Sanktionen fürchten zu müssen. Das ist der Kern der Sache. Das Recht auf Meinungsfreiheit gilt entweder für jeden gleichermaßen oder es verliert jeglichen Sinn. Da gibt es nichts zu relativieren und da gibt es auch kein Wenn und Aber. Meinungsfreiheit muss auch und gerade für Arschlöcher und Rassisten gelten.
Wie anderswo in Europa, häufen sich hier in Deutschland in letzter Zeit die Fälle, in denen die Meinungsfreiheit zur Disposition gestellt wird. Man denke nur an den Fall des Hetzers Pirinçci oder die Farce über Erika Steinbachs Tweets. Dieser neue Geist der Zensur im heutigen Europa ist nicht das Werk schnell beleidigter ausländischer Autokraten oder durchgeknallter islamistischer Amokläufer. Er kommt von innen und speist sich zum einen aus unseren eigenen illiberalen Gesetzen und zum anderen aus einem Klima konformistischer Sprechtabus und Konfliktvermeidungsstrategien. Beides lässt sich letztlich auf mangelndes Vertrauen in unsere eigenen aufklärerischen Werte zurückführen.
Was Meinungsfreiheit wirklich bedeutet, lehrt uns das Beispiel Aryeh Neier, von 1970 bis 1978 Leiter der American Civil Liberties Union (ACLU). Neier, selbst durch die Flucht mit seinen Eltern aus Deutschland dem Holocaust entkommen, verteidigte gegen massive Wiederstände das Recht von Neonazis, in einer amerikanischen Kleinstadt, wo damals viele Holocaust-Überlebende wohnten, zu demonstrieren. Seine Begründung ist bemerkenswert: „Für die Verteidiger der Freiheit wäre es wirklich angenehmer, sich um die Fälle einer besseren Klasse von Opfern zu kümmern“, schrieb er 1979 in seinem Buch „Defending My Enemy“: „Wenn wir aber warten, bis nette Leute verfolgt werden, kann es schon zu spät sein. Freiheit muss da verteidigt werden, wo sie verweigert wird.“
Was heißt das heute? #JeSuisCharlie, Klar!, #JeSuisBöhmermann, auch OK, aber eben auch #JeSuisLutzBachmann. Die Sache mit der Meinungsfreiheit ist eigentlich gar nicht so schwer zu verstehen.