01.11.2015

Meinungsfreiheit: „Wir müssen lernen, uns nicht auf die Zunge zu beißen“

Interview mit Mick Hume

Die Meinungsfreiheit in der westlichen Welt steht auf dem Spiel, befürchtet der britische Autor Mick Hume. Im Interview erläutert er, dass diese universelle Grundfreiheit nur ohne Wenn und Aber bestehen kann und dass die politische Linke schlecht daran tut, sie zu bekämpfen

Marco Visscher: Herr Hume, während Sie Ihr neues Buch Trigger Warning. Is the Fear of Being Offensive Killing Free Speech schrieben, ereignete sich der Anschlag auf Charlie Hebdo. In einer Welle von Solidaritätsbekundungen war auf einmal jeder Charlie.


Mick Hume: Es war wirklich berührend. Allerdings haben die Demonstrationen auch den Blick auf die wirklichen Vorgänge verstellt. Die Solidaritätsäußerungen erweckten den Eindruck einer breiten Anhängerschaft der Meinungsfreiheit. Bei näherem Hinsehen fehlen diese Anhänger allerdings völlig. Wir bekennen uns gerne verbal zur Meinungsfreiheit, fügen jedoch gleich ein großes Aber hinzu: Aber man muss dabei anständig bleiben, aber man darf andere nicht kränken, aber Holocaustleugner müssen ihren Mund halten. In Wirklichkeit verwenden wir mehr Energie auf die Einschränkung als die auf Erweiterung dieser Freiheit. Insbesondere bei unserer politischen und kulturellen Elite besteht eine große Kluft zwischen Worten und Taten.


Woran zeigt sich das?


Innerhalb einer Woche, nach zahlreichen Demonstrationen in vielen Ländern, wurde ein französischer Komiker, Dieudonné M’bala M’bala, verhaftet, da er auf Facebook gepostet hatte, dass er sich wie „Charlie Coulibaly“ fühlt – eine Mischung aus der Zeitschrift und demjenigen, der in einem jüdischen Pariser Supermarkt vier Menschen erschossen hatte. Das mag ein geschmackloser Witz gewesen sein, gar eine Rechtfertigung der Gewalt – aber es waren nicht mehr als Worte. Ihm droht Gefängnis.[1]

„Was man offenbar nicht sagen darf, wird seitens einer kleinen, aber sehr lautstarken Gruppe von Moralaposteln aufgebauscht“

Ein anderes Beispiel ist der bedeutende britische Naturwissenschaftler Tim Hunt, der im vergangenen Juni auf einer wissenschaftlichen Konferenz einen etwas unglücklichen Witz riss. Durch die sozialen Medien schwappte sofort eine Welle der Bestürzung mitsamt Rufen nach seiner Entlassung. Binnen weniger Tage wurde Hunt von seiner Universität zur Aufgabe seiner Honorarprofessur gezwungen. [2] Herrschaftszeiten, dieser Mann trägt einen Nobelpreis für Physiologie, nicht für politische Korrektheit! Diese beiden Vorfälle – was gibt es derer viele! – sind ganz typisch für unsere konformistische Kultur: Irgendwo sagt jemand was, was man offenbar nicht sagen darf. Das wird seitens einer kleinen, aber sehr lautstarken Gruppe von Moralaposteln gleich ins Unermessliche aufgebauscht und sofort stehen die Autoritäten zur Bestrafung bereit.


Wir befürworten die Meinungsfreiheit also nicht wirklich.


Exakt. Es herrscht eine allgemeine Stimmung, nur die Freiheit derjenigen wertzuschätzen, mit denen wir einer Meinung sind. Aber Stopp: Genau das geht am Kern dieser Freiheit vorbei. Wer ernsthaft auf Seiten der Meinungsfreiheit steht, steht auch hinter dem Recht, Dinge zu äußern, die ihm zuwider sind. Diese Haltung wird heute von nicht mehr so vielen geteilt. Und das finde ich sehr problematisch, denn wir haben es hier mit einer Freiheit zu tun, die unserer Kultur zugrunde liegt.


Was halten Sie von den Charlie-Hebdo-Karikaturen, finden Sie die witzig?


Nein, nicht wirklich. Einige sind arg flach und überdeutlich anstoßerregend, aber: Na und? Darauf kommt es an: Man braucht das nicht zu lesen oder sich darüber zu amüsieren, um das Recht der Macher auf Veröffentlichung all dessen zu verteidigen, was sie möchten. Das Recht, jemanden zu kränken, macht die Meinungsfreiheit nämlich aus.

„Es ist eine Atmosphäre entstanden, in der man bestimmte Dinge nicht mehr sagen darf“


Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders hat in Texas und später auf Youtube Anti-Mohammed-Karikaturen gezeigt.[3] Sehen Sie in einer solchen Aktion nicht eine allzu klare Provokation?


Schauen Sie, einen solchen Karikaturenwettbewerb finde ich kindisch. Es wirkt, als ob man sich groß fühlt und allem und jedem den Mittelfinger zeigt. Diese Reaktion halte ich für eine Nebenwirkung der Unterdrückung unserer Meinungsfreiheit. Es ist eine Atmosphäre entstanden, in der man bestimmte Dinge nicht mehr sagen darf. Jemanden zu beleidigen, gilt heute als das Verbrechen schlechthin. Als Gegenbewegung dieses Trends hat man dann Typen wie Wilders, die offensiv beleidigend werden. Damit kann ich nichts anfangen, aber wenn er unbedingt will …


Aber ist das nicht kränkend?

Ja, natürlich ist das kränkend. Für manche kann es jedenfalls verletzend sein. Aber müssen wir davor geschützt werden? Vom Staat? Wir sind doch erwachsene Menschen, können wir keinen Schubser mehr ertragen? Noch verletzender ist der Abschiedsbrief, wenn man von der großen Liebe verlassen wird. Muss das auch gesetzlich verboten werden? Aktivisten gingen immer zum Angriff über, um ihr Anliegen zu vertreten. Heute gehen sie stattdessen in die Defensive und stilisieren sich zu Opfern. Sie präsentieren sie als schwach und gekränkt und betteln um ihren Schutz.

Mit dieser Methode soll Gegnern der Mund verboten, sollen Entschuldigungen erzwungen und soll eine Debatte vermieden werden. Denn wenn sich jemand als durch einen Standpunkt gekränkt darstellt, kann man dem unmöglich etwas entgegnen. schließlich ist man nicht berufen, über das Gefühlsleben eines anderen zu urteilen, nicht wahr? Heutzutage sind Emotionen wichtiger als Ideen. Wir führen keine Debatten mehr, sondern wetteifern, wer am meisten auf die Tränendrüse drückt. So können wir unseren Widersachern Einschränkungen auferlegen.

„Die Freiheit des Wortes gebührt allen, also auch dummen Menschen, die dummes Zeug von sich geben“


Also sollen wir noch mehr debattieren, als wir das ohnehin die ganze Zeit tun?


Wir müssen lernen, mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen. Das ist nicht immer einfach. Wo Meinungsfreiheit besteht, muss man sich eine Menge anhören, das man lieber gar nicht hören will. Aber entweder gilt diese Freiheit universell – oder gar nicht. Die Freiheit des Wortes gebührt einem jeden, also auch dummen Menschen, die dummes Zeug von sich geben. Wissen Sie, manchmal denke ich, dass überhaupt nur eines schlimmer ist als Meinungsfreiheit: keine Meinungsfreiheit.


Derzeit stehen die nachdrücklichsten Anhänger der Meinungsfreiheit politisch rechts. Woher kommt das?


Die Schuld dafür liegt bei der Linken, fürchte ich. Der Kampf um Meinungsfreiheit war immer ein linkes Themas. Das ist auch nur logisch, denn wenn auf der linken Seiten des politischen Spektrums stand, strebte man nach Möglichkeiten, sich der herrschenden Ordnung zu widersetzen: dem König, dem Pfarrer, dem Vorgesetzen und allen anderen, die einen beherrschten. Meinungsfreiheit stand daher im Mittelpunkt jedes Befreiungskampfes: Der Wunsch, Gehör zu finden, Aufmerksamkeit zu erringen, um das eigene Anliegen zu verdeutlichen. Gegner der Sklaverei oder Aktivisten für Rassengleichheit und Frauenemanzipation – sie haben immer vom Staat die Freiheit verlangt, zu sagen, was ihnen wichtig war.

Gegenwärtig erleben wir die umgekehrte Situation. Wer heute im Namen einer Gruppe aktiv wird, betont die eigene Schwäche. Man will keine Meinungsfreiheit, sondern frei sein von Meinungsäußerungen. Man ruft nach dem Staat, um beschützt zu werden und den nervigen Widersachern eine Lektion zu erteilen. Linke haben sich diesem Trend angeschlossen und betrachten es nun als ihre Aufgabe, Menschen vor anderen zu beschützen. Weil die Linken das Thema Meinungsfreiheit im Stich lassen, wird es von rechts gekapert. Rechte wollen meiner Meinung nach aber gar nicht die Meinungsfreiheit, wie sie Linke früher angestrebt haben. Auch die Rechten fordern Beschränkungen, z.B. für islamische Extremisten oder Imame. Das ist dann genauso heuchlerisch: Uns die Freiheit, Moslems zu beleidigen, aber ihnen keine Freiheit, den Koran zu lesen.

„Auch die Rechten fordern Beschränkungen der Meinungsfreiheit“


Herr Hume, dann dürfte Ihnen die Gesellschaft, in der Sie sich befinden, nicht gefallen: Zusammen mit rechten Islamophoben verteidigen Sie das Recht auf kränkende Äußerungen.


Stimmt, aber das gehört einfach dazu. Ich engagiere mich öfters für Menschen, zu denen ich keinerlei Bezug habe. So habe ich einen kalvinistischen Geistlichen verteidigt, dem eine mehrmonatige Gefängnisstrafe droht, weil er in einer Predigt den Islam „teuflisch“ genannt hat. [4] Einem britischen Gesetz zufolge sei dies „ausgesprochen beleidigend“. Das ist natürlich hirnrissig. Er hat nicht zur Gewalt aufgerufen, sondern in seiner eigenen Kirche seine ehrliche Meinung als christlicher Fundamentalist seinen Glaubensbrüdern gegenüber geäußert. [5]

In einem anderen Text habe ich jemanden verteidigt, mit dem ich ebenso wenig gemein habe: In Schottland ist ein junger Mann zu vier Monaten Haft verurteilt worden, weil er ein Lied gesungen hatte. Als Fan des Fußballclubs Glasgow Rangers hat er einen beleidigenden Spottgesang über den Erzrivalen Celtic Glasgow angestimmt. [6] Vier Monate Gefängnis! Für ein Lied! Und das in einem Land, das als Wiege der Aufklärung gilt. Diese Ironie scheint niemand zu bemerken.


Wie es ist es Ihrer Meinung nach zu all diesen Einschränkungen gekommen?


Das ist eine schwierige Frage. Der Blick auf die Geschichte legt nahe, dass unsere Haltung zur Meinungsfreiheit durch unser Menschenbild geprägt wird. Soll heißen: Der Kampf um Meinungsfreiheit erreicht seinen Höhepunkt in Zeiten, wo wir an uns selbst glauben und an unser Vermögen, die Welt zu verändern. Wenn wir aber diese Mischung aus Hoffnung, Optimismus und Selbstvertrauen verlieren, geht auch die Meinungsfreiheit verloren.

Das tritt derzeit sehr klar hervor. Die Menschheit gilt als Seuche, die die Erde zerstört. Wir vertrauen unseren Mitmenschen immer weniger: Vielleicht ist mein Nachbar pädophil oder ein Schulkamerad meiner Kinder ein radikalisierter Moslem. Da denken wir: Wenn jeder einfach sagen darf, was er will, löst das Spannungen und Konflikte aus. Das führt zu Hass, vielleicht sogar zu Krieg. Dieses negative Menschenbild gründet auf der Annahme, dass wir Menschen nur noch einfältiger Pöbel sind und immer auf Krawall aus. Die mangelnde Wertschätzung für die Freiheit des Wortes, mit der wir heute zu tun haben, gibt meines Erachtens unser mangelndes Vertrauen in die Menschheit wieder.

„Es ist menschenunwürdig, uns die Meinungsbildung abzunehmen und andere für uns ein Urteil fällen zu lassen“


Sie sprachen Spannungen und Konflikte an. Dass es diese geben kann, wenn ein Populist aus seiner Sicht Probleme benennt und dazu anstachelt, wollen Sie doch nicht bezweifeln?


Das bestreite ich in keiner Weise. Aber wir Menschen sind rationale Moralwesen. Wir sind imstande, uns selbst ein Urteil zu bilden. Es ist sogar menschenunwürdig, uns diese Meinungsbildung abzunehmen und andere für uns ein Urteil fällen zu lassen, ob das nun der Staat, die Kirche, die Polizei oder jemand auf Twitter ist. Meinungsfreiheit hat nämlich zwei Seiten: Die Freiheit, zu äußern, was man will, aber auch die Freiheit, andere Auffassungen zur Kenntnis zur nehmen, um danach selbst urteilen zu können.


Müssen wir dann alle so entstandenen problematischen Urteile einfach in Kauf nehmen?


Pech gehabt, das gehört leider dazu, wenn man in einer freien Gesellschaft leben möchte. Die westliche Gesellschaft wird immer weniger frei, und wir müssen uns fragen, ob wir das wollen. Ich finde nicht. Nicht nur die förmliche Staatszensur, sondern auch die zunehmende Selbstzensur macht unsere Gesellschaft unfreier. Wir erlegen sie uns selbst auf, denn wir leben in einer konformistischen Kultur. Jede Meinung, die auch nur ein bisschen von dem abweicht, was für selbsternannte Progressive als akzeptabel gilt, wird sofort angegriffen.


War das je anders? Abweichende Meinungen haben es doch per Definition schwer?


Genau wie andere Freiheiten muss die Freiheit zu sagen, was man denkt, fortwährend erkämpft werden. Sie ist kein Gottesgeschenk oder eine kleine Aufmerksamkeit des Staates, die man sich auf den Kaminsims stellt, um sie in alle Ewigkeit genießen zu können. Der Kampf um die Meinungsfreiheit muss ständig ausgefochten werden. Je nach Zeit und Umständen kämpft man dabei gegen unterschiedliche Feinde. Lange waren die Kirchen, die reaktionäre Rechte oder autoritäre Regime auf der Gegenseite. Heute sind im Westen diejenigen, die sich als progressiv oder radikal betrachten, die größten Gegner.

„Ohne die Meinungsfreiheit wäre die Erde vielleicht immer noch eine Scheibe“

Sie führen einen lautlosen Kampf gegen die Meinungsfreiheit. Damit meine ich nicht, dass sie sich dabei lautlos verhalten – leider ganz im Gegenteil –, sondern dass niemand offen zugibt, gegen die Meinungsfreiheit zu sein. Man ist nur gegen verletzende, diskriminierende, rassistische oder beleidigende Aussagen. Aber das ganze Wenn und Aber gehört zum Täuschungsmanöver bei der Attacke auf die Meinungsfreiheit. Sehr raffiniert, und deshalb nicht einfach anzugehen.


Was können wir daran verändern? Wie lässt sich der Kampf gewinnen?


Zentral scheint mir die Erkenntnis, dass wir bei allen guten Absichten dabei sind, den Kampf um die Meinungsfreiheit zu verlieren. Wohl noch schlimmer ist, dass wir den Kampf gar nicht erst führen. Wir riskieren die Kapitulation ohne einen Hauch von Gegenwehr. Wir müssen lernen, dass wir keine Angst haben müssen, etwas zu sagen, was vielleicht Anstoß erregt, und dass wir uns nicht gleich entschuldigen müssen, wenn sich jemand beschwert. Wir müssen lernen, Debatten nicht aus dem Weg zu gehen, und nicht nur Gleichgesinnten nachplappern. Wir müssen lernen, uns nicht auf die Zunge zu beißen, sondern einfach äußern, was unser Herz uns sagt und unseren Grundsätzen treu bleiben.

Und wir dürfen nie vergessen, warum freie Meinungsäußerung einen so bedeutenden Platz beim Fortschritt unserer Zivilisation einnimmt. Ohne diese Grundfreiheit wäre die Erde, auf der wir wohnen, vielleicht immer noch eine Scheibe ist, auf der Frauen nicht das Wahlrecht haben, sondern das Recht, als Hexe verbrannt zu werden. Wir dürfen diese Freiheit nicht kampflos aufgeben.

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