20.09.2024
Ist die ARD eigentlich ein Problem?
Von Christian Zeller
In der Sendung „Die 100“ simuliert die ARD Demokratie. Jüngst widmete sich die Show dem Dauerthema „Ist die AfD eigentlich ein Problem?“, und zwar infantil sowie mit festgelegten Diskursgrenzen.
Die ARD hat sich wieder mal etwas Neues ausgedacht. Der Talk „Hart aber fair“ – lange Jahre moderiert von Frank Plasberg, zuletzt von Louis Klamroth – wurde auf einen anderen Sendeplatz verdrängt. An dessen Stelle tritt zwei Monate lang das Format „Die 100“. Die Grundidee: 100 Leute verteilen sich zu politischen Fragen auf einem sechsteiligen „Spielfeld“, je nach dem Grad ihrer Zustimmung. Die Arbeitsteilung ist klar geregelt: Die Journalisten denken und sprechen, das Volk ist das Fähnchen im Wind ihrer Gedanken. Wer seine Meinung ändert, der ändert seinen Platz. Wenn der Moderator Ingo Zamperoni mit dem Mikrofon kommt, darf man sagen, warum.
Das erste Thema des neuen Formats – im NDR liefen letztes Jahr schon zwei Testfolgen – war wohl nicht zufällig vor den Wahlen in Brandenburg am 22. September platziert: „Ist die AfD eigentlich ein Problem?“ Der kindgerechte Plot der Sendung: Am Anfang denken viele, dass die AfD ein Problem ist, andere denken das nicht, das sind aber weniger Menschen. Am Ende denken ein paar Leute mehr, dass die AfD ein Problem ist. Dazwischen hat die Journalistin Anna Planken, die die Position verteidigen musste, dass die AfD kein Problem ist, von den Leuten ein Haus aus überdimensionierten Lego-Steinen bauen lassen, das zeigt, auf welch starken Mauern unser Land ruht: Auf dem Grundgesetz, auf dem Bundesverfassungsgericht, auf der EU, auf der Nato – und auf der bunten Gesellschaft. Da ist doch diese AfD kein Problem.
Der Journalist Tobias Krell (bekannt aus der Kindersendung „Checker Tobi“), der die für viele ÖRR-Mitarbeiter sicherlich dankbarere Aufgabe hatte, die AfD problematisch zu finden, spielte in einer aufschlussreichen Sequenz Clips von AfD-Politikern ein, die, so die eingeblendete Ankündigung, „rassistisch und ausgrenzend“ sein sollen. Bereits die sprachliche Kontextualisierung ist aufschlussreich: Wird doch „Ausgrenzung“ mit „Rassismus“ in einen Topf geworfen. Das ist natürlich selbst schon höchst undifferenziert, und das vermutlich nicht ganz unabsichtlich. Denn man kann problemlos Kontexte finden, in denen „Ausgrenzung“ legitim ist, es gibt aber keinen Kontext, in dem man – gemessen an den Maßstäben liberaler Demokratien – Rassismus für gerechtfertigt halten kann.
Jeder Staat grenzt etwa Bürger anderer Staaten erst einmal aus, sonst wäre er kein Staat; man kann auch problemlos die Ausgrenzung und Abweisung von kriminellen Ausländern für legitim halten oder beispielsweise finden, dass einen das Sprachniveau B2 eher zum deutschen Staatsbürger qualifiziert als Hilfsarbeiterdeutsch auf dem Niveau B1. All das grenzt aus, ist aber kein Rassismus, also die pauschale Abwertung von Menschengruppen aufgrund von Merkmalen wie Hautfarbe oder Volkszugehörigkeit. Genau diese Vermischungslogik ist ein Muster im „Kampf gegen rechts“, der selbst vom permanenten Changieren zwischen „rechts“ und „rechtsextrem“ lebt. Man vermengt „Unsagbares“ mit durchaus „Sagbarem“ und verkleinert auf diese Weise den Raum des demokratisch Gestaltbaren, bis nur noch eine „sagbare“ Meinung übrig bleibt. Alles andere wird dann, wenn man Glück hat, gerade einmal „ausgehalten“, kann aber nicht mehr in angemessener Weise als grundsätzlich gleichberechtigtes Argument in den Gestaltungsspielraum des Souveräns einfließen.
„Durch die Verengung des Diskurskorridors wird das Wählerpotential der AfD beständig erhöht, der ‚Kampf gegen rechts‘ also ad absurdum geführt.“
Und noch etwas folgt daraus, wie man an dem Fortgang der Sequenz schön sieht: Durch die Verengung des Diskurskorridors wird das Wählerpotential der AfD beständig erhöht, der „Kampf gegen rechts“ also auch noch ad absurdum geführt. Zuerst kam der Ausschnitt aus einer Rede, in der gefordert wird, dass Wohnungen in Deutschland zuerst für „Einheimische“ da sein sollten, sodann Björn Höcke, der auf einer Wahlkampfrede wacker eine klare Ansage macht: „Die jungen Männer gehören zurück in ihre Heimat. Ende der Durchsage.“ Drittens: „Wir müssen den Austausch unserer Bevölkerung beenden.“ Viertens, in erhobenem Ton „Es gehört mehr dazu, Deutscher zu sein als einfach nur ‘ne Staatsbürgerurkunde in der Hand zu haben.“ Fünftens: „Solche Menschen müssen wir selbstverständlich entsorgen.“ Sechstens, scharf gebrüllt: „Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet.“
Wenn AfD-Funktionären, manchmal zu Recht, manchmal zu Unrecht, vorgeworfen wird, dass sie Pauschalurteile über Menschengruppen fällen, dann fällt dieses Urteil der pauschalisierenden und homogenisierenden Weltbetrachtung leider häufig auf viele der Kämpfer „gegen rechts“ zurück. Denn schließlich wird man in der Bevölkerung ganz unterschiedliche Zustimmungsraten erhalten, ob die Aussage nun lautet „Unser vorhandener Wohnraum ist zuerst für Einheimische dar“ oder „solche Menschen müssen wir selbstverständlich entsorgen“, was sprachlich impliziert, dass es sich bei diesen Personen um menschlichen Müll handelt.
Man sollte allerdings auch in solchen extremen Fällen, die an die Straftat der Volksverhetzung heranreichen, die Grenze nicht vorschnell zwischen „böse = rechts“ und „gut = links“ ziehen; forderte doch auch bereits die Medienkulturwissenschaftlerin Hengameh Yaghoobifarah, die sich mit den Themen Queerness, Feminismus und Antirassismus beschäftigt, Polizisten auf der Mülldeponie zu entsorgen, da sie sich im Abfall „unter ihresgleichen […] bestimmt auch selber am wohlsten“ fühlten. Jeder, der über eine Portion gesunden Menschenverstandes und eine normale Alltagsmoral verfügt, versteht den Unterschied, ob man Wohnungen für Einheimische fordert oder Menschen auf den Müll werfen möchte. Die erste Aussage muss man nicht teilen, aber kann es selbstverständlich, die zweite Aussage verdient den – leider völlig inflationierten – Begriff der „Menschenfeindlichkeit“. Tobias Krell jedoch verstößt wie selbstverständlich gegen die Regel, Ungleiches ungleich zu behandeln, und bemerkt nicht, dass er eben jene Homogenisierung betreibt, die er der AfD in dem gut eingespielten, moralinsauren Duktus vorwirft.
„Auch die bislang veröffentliche Liste von politisch tätigen Personen unter den ‚100', allesamt aus dem linken Spektrum, erhöht nicht unbedingt das Vertrauen in die Ausgewogenheit der Programmgestaltung.“
Was der Journalist hier vorexerziert, ist die Blaupause dafür, wie man das, was man ablehnt, beständig stärker macht. Wer nämlich der Aussage „Wohnungen sind zunächst für Einheimische dar“ zustimmt, darf sich nun nach der Homogenisierungslogik des Journalisten in derselben Schublade wiederfinden, wie jene wenige, die eine Rhetorik des „Entsorgens“ in der politischen Sprache für akzeptabel halten. Man sortiert gewissermaßen durch übergroße Schubladen die Bevölkerung schon so vor, dass sich die AfD aus ihnen nur noch zu bedienen braucht. Denn es handelt sich ja allesamt um sozial zu Ächtende, die „Unsagbares“ geäußert haben. Die AfD wird sie mit offenen Armen empfangen.
Nach einer Debatte zum Klimawandel, bei der die Erfinderin des Formats, Julia Saldenholz, die Debattengrenzen vorsorglich schon einmal klar zog und ihrer Journalistenkollegin sagte, dass man natürlich „nicht ernsthaft darüber diskutieren“ werde, „ob es den menschengemachten Klimawandel gibt oder nicht“, kam schließlich der streng dreinblickende Michel Friedman und mahnte das Volk der 100 mit eindringlichen Worten vor dem neuen Faschismus. Und siehe da: Bei der Schlussbefragung fanden nun mehr Menschen, dass die AfD ein Problem sei. Ein „Wolf im Schafspelz“ sei die AfD, sagte, Zamperonis Mikrofon unter dem Kinn, ein Mann mit Kurzhaarschnitt und Oberlippenbart, der durch die Sendung die Erleuchtung gefunden und die Seitengewechselt hatte. Seine Worte markierten gekonnt das Ende der Sendung – dass Herr Schleiermacher, laut Einblendung „Bürokaufmann“, für die ARD bereits mehrfach als Komparse tätig gewesen war, wurde natürlich nicht erwähnt. Wir notieren uns ins Merkheft: Gelenkte Demokratie gibt es nur in Russland.
Auch die bislang veröffentliche Liste von politisch tätigen Personen unter den „100“, allesamt aus dem linken Spektrum, erhöht nicht unbedingt das Vertrauen in die Ausgewogenheit der Programmgestaltung, wozu der öffentlich-rechtliche Rundfunk qua Medienstaatsvertrag verpflichtet ist. Selbst wenn man der ARD hier nicht in jedem einzelnen Fall bewusste Manipulation unterstellen möchte, zeigt die Liste doch: Politisch linke Politiker haben offenbar einen systematisch höheren Drang, sich in einer solchen Sendung ins öffentlich-rechtliche Fernsehen zu begeben. In den Sozialwissenschaften spräche man von einem „Selbstselektionseffekt“: Das Umfeld und die Botschaft der Sendung sind so beschaffen, dass sie überzufällig häufig linksgerichtete Personen anziehen: In einer pluralen Demokratie ist auch das ein Problem – insbesondere in einer Sendung, die suggeriert, das ganze Volk im Kleinen abzubilden.
„Die Sendung ist genau jene Demokratiegefährdung, zu der das Drehbuch, dem sie folgte, die AfD wieder einmal ausrief.“
Kurzum: „Die 100“ ist ein „Ob ihr wirklich richtig steht, das seht ihr, wenn das Licht angeht“ für Erwachsene. Erwachsene, die mit infantilem Unfug und vorab festgelegten Diskursgrenzen entmündigt werden. Die von gut vorbereiteten Journalisten herumdirigiert werden. Die Sendung ist nicht weniger als eine Projektion dessen, was ÖRR-Journalisten sich einbilden zu sein: Volkserzieher, die mit ihrem überlegenen Wissen, sanft scheinenden Psychotechniken und einem politisch einseitigen Skript, das auch handfeste Manipulationstechniken wahrscheinlich erscheinen lässt, wie sie einem autoritären Staat zur Ehre gereichen würde, ihren Schäfchen den Weg zur richtigen Weide weisen und sie so zum Objekt praktizierter Fremdbestimmung machen.
Die Sendung ist damit genau jene Demokratiegefährdung, zu der das Drehbuch, dem sie folgte, die AfD wieder einmal ausrief. Bürger wirklich einmal diskutieren zu lassen, einen lebendigen, hemdsärmeligen, auch hitzigen Austausch unter denjenigen zu organisieren, die man in der Demokratietheorie den „Souverän“ nennt, dazu haben die Verantwortlichen in der ARD offenbar nicht den Mut. Stattdessen sperren sie ihre Klientel in eine vorfabrizierte Welt der Fernsehshow-Mätzchen und berauben so die liberal-demokratische Debatte ihrer Würde, die sich allein aus ihrer thematischen Breite und ihrer Ergebnisoffenheit ergibt. Die tendenziöse Gesprächsführung von „Hart aber Fair“-Mann Klamroth wurde mit der ersten Sendung von „Die 100“ potenziert. Und so sichert der ÖRR – wie dies Elias Canetti von den Riten der Kirche dachte – „der Masse etwas wie ein gezähmtes Erlebnis ihrer selbst“.1
Den Begriff der „Propaganda“ im Kontext mit dem ÖRR zu benutzen, hat den Charakter der Polemik mittlerweile weitgehend verloren – es ist in manchen Fällen schlicht die bittere Realität. Die Auftakt-Sendung von „Die 100“ war Demokratiesimulation at its best. Man tausche angesichts so viel elitärer Publikumsverachtung doch einfach nur einen Buchstaben aus und frage gerne in einer der nächsten Sendungen: „Ist die ARD eigentlich ein Problem?“ Auch da wird wohl das Richtige herauskommen. Und genau das ist das Problem.