01.03.2011

Folgen des Reaktorunfalls in Tschernobyl

Kurzkommentar von Thilo Spahl

Im Zusammenhang mit Fukushima wird oft vor einem "zweiten Tschernobyl" gewarnt. Die Folgen des Reaktorunfalls von 1986 werden dabei oft übertrieben dargestellt. Der Autor fasst einen Bericht des "Tschernobyl-Forums" aus dem Jahr 2005 zusammen und beschreibt, was wirklich passiert ist

In deutschen Medien wird im Zusammenhang mit den Ereignissen im Atomkraftwerk von Fukushima immer wieder der Vergleich mit dem Reaktorunfall im damals noch sowjetischen Tschernobyl bemüht - auch wenn eine mit den Ereignissen von 1986 vergleichbare Entwicklung in Japan unwahrscheinlich ist. Dabei werden Ausmaß und Folgen des schwersten Atomunfalls aller Zeiten häufig übertrieben wiedergegeben. Aus diesem Grund veröffentlicht Novo hier den Artikel „Folgen des Reaktorunfalls in Tschernobyl“ (Novo Nr. 3-4 2006) von Thilo Spahl. Er berichtet über die wichtigsten Punkte eines im September 2005 vom „Tschernobyl-Forum“ vorgelegten umfassenden Berichts, in dem mehr als 100 Naturwissenschaftler, Ökonomen und Gesundheitsspezialisten die Folgen des Reaktorunglücks in Tschernobyl vor 25 Jahren zusammengefasst haben.


Ein riskantes Experiment im Block 4 des ukrainischen Kernkraftwerks führte am 26. April 1986 zur Explosion des Reaktors. Etwa 350.000 Anwohner wurden evakuiert. Der größte Teil der freigesetzten radioaktiven Stoffe zerfiel innerhalb weniger Wochen. Langlebigere radioaktive Stoffe, die freigesetzt wurden (Cäsium-137, Strontium-90), haben eine Halbwertszeit von etwa 30 Jahren. Der Tschernobyl-Reaktor ist mit westeuropäischen Technologie- und Sicherheitsstandards nicht vergleichbar.
Die aktuellen Ergebnisse des „Tschernobyl-Forums“ stehen zum Teil in deutlichem Widerspruch zu den verbreiteten Vorstellungen von den Folgen dieses größten anzunehmenden Reaktorunfalls (GAU). In den deutschen Medien war in den letzten Jahren von bis zu 500.000 Tschernobyl-Toten und 3,5 Millionen Strahlenopfern mit Behinderungen zu lesen. Die wichtigsten Ergebnisse des „Tschernobyl-Forums“ lauten:


• Bis Mitte 2005 wurden weniger als 50 Todesfälle direkt der Strahlung aus der Katastrophe zugeschrieben. Praktisch alle Opfer gehörten zu den Rettungskräften, die sehr stark bestrahlt worden waren. Viele starben in den ersten Monaten nach dem Unfall, aber andere haben bis ins Jahr 2004 überlebt.
• Von den über 200.000 Rettungs-, Bergungs- und Sanierungskräften, die 1986 bis 1987 eingesetzt und bestrahlt wurden, könnten Schätzungen zufolge 2200 an den Folgen der Bestrahlung vorzeitig sterben.
• Die meisten Rettungskräfte und Einwohner der kontaminierten Gebiete erhielten eine im Vergleich zur Bestrahlung aus natürlichen Quellen schwache Ganzkörperdosis. Daher waren weder Anzeichen noch eine Wahrscheinlichkeit für eine verminderte Fruchtbarkeit in den betroffenen Bevölkerungsgruppen festzustellen. Auch gab es keine erhöhte Zahl angeborener Missbildungen, die auf Bestrahlung zurückzuführen wären.
• Etwa 4000 Schilddrüsenkrebsfälle – hauptsächlich bei Personen, die zum Zeitpunkt des Unfalls Kinder oder Jugendliche waren – sind auf die Kontamination nach dem Unfall zurückzuführen. Mindestens neun Kinder sind daran gestorben.
• Die Gruppe internationaler Fachleute stellte bei den betroffenen Einwohnern keine Anzeichen für eine Erhöhung der Krebshäufigkeit durch den Unfall fest.
• Abgesehen von den Krankheiten und Todesfällen infolge der Bestrahlung sind die Auswirkungen von Tschernobyl auf die geistige Gesundheit „das größte vom Unfall ausgelöste volksgesundheitliche Problem“. Der Bericht schreibt die schädlichen psychischen Folgen dem Fehlen genauer Informationen zu. Hinzukommen dürften die Übertreibungen des Katastrophenausmaßes in Westeuropa.
• Mit Ausnahme der noch immer geschlossenen, stark kontaminierten 30-Kilometer-Zone um den Reaktor, bestimmter abflussloser Seen und von Wäldern, zu denen der Zutritt eingeschränkt ist, sind die Strahlenpegel in den meisten Fällen auf annehmbare Werte zurückgegangen.
• Der ökonomische Schaden durch die Reaktorkatastrophe wird auf mehrere 100 Milliarden Dollar geschätzt.


Das „Tschernobyl-Forum“ besteht aus der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), der Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO), dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP), dem Büro der Vereinten Nationen zur Koordination humanitärer Hilfe (UN-OCHA), dem wissenschaftlichen Ausschuss der Vereinten Nationen über die Wirkung ionisierender Strahlung (UNSCEAR) und der Weltbank sowie den Regierungen Weißrusslands, der Russischen Föderation und der Ukraine.


Eine Zusammenfassung des Berichts findet sich auf der Website der Weltgesundheitsorganisation.

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