17.03.2011
Japan: eine Katastrophe, kein Katastrophenfilm
Kommentar von Frank Furedi
Mancher im Westen vergisst, dass in Japan eine reale Naturkatastrophe stattgefunden hat. Anstatt hollywoodreife Schuldzuweisungen über menschliche „Arroganz“ und „Ohnmacht“ über uns ergehen zu lassen, sollten wir fragen, was wir daraus lernen können, findet Frank Furedi
Der japanische Premierminister Kan sprach im Zusammenhang mit den Verwüstungen in Folge des Erdbebens und des Tsunamis vom vergangenen Freitag von der größten Krise für sein Land seit dem zweiten Weltkrieg. Trotzdem sind die Japaner nicht wie zweitklassige Statisten aus Hollywood-Katastrophenfilmen in Panik ausgebrochen. Während die deutsche Diskussion um die möglichen Folgen der Ereignisse im Atomkraftwerk Fukushima teilweise geradezu hysterische Züge trägt, wahren die Japaner, welche unter den tatsächlichen Folgen einer Naturkatastrophe zu leiden haben, auch unter schwierigsten Bedingungen noch Mut und Würde. Anders als etwa im Endzeitfilm The Day After Tomorrow suggeriert brach kein Chaos aus. Anstatt der aus anderen Katastrophenfilmen wie Titanic, Armageddon, Twister oder Flammendes Inferno bekannten Angst und Anarchie zeigen uns die TV-Bilder ruhige und gefasste Menschen, die sich gegenseitig helfen und zusammen daran arbeiten, ihr Leben wieder unter Kontrolle zu bringen.
Aber die Reaktionen im Westen legen nahe, dass die Wahrnehmung einer Katastrophe immer auch im Auge des Betrachters liegt. Ja, es gab eine große Sympathiewelle und Hilfsbereitschaft gegenüber den Opfern der Naturkatastrophe. Aber allzu viele westliche Beobachter scheinen mehr daran interessiert, die Folgen der Katastrophe für eigene Zwecke auszuschlachten.
Im vergangenen Jahr bezeichnete der amerikanische Evangelikalenprediger Pat Robertson das Erdbeben in Haiti als eine Strafe Gottes für den “Pakt” den die Haitianer angeblich mit dem Teufel geschlossen hätten. Zwar wurden die Japaner bisher, soweit ersichtlich, noch nicht für solcherlei „böses“ Verhalten angeklagt, aber viele westliche Moralunternehmer können dennoch der Versuchung nicht widerstehen, den Japanern ihre relative Zukunftsorientierung und Innovationsfreudigkeit zum Vorwurf zu machen. Eine widerstandsfähige und risikofreudige Weltanschauung gilt heutzutage in der Regel als „menschliche Arroganz“ – wegen der ihr zu Grunde liegenden Annahme, die Natur durch die Anwendung von Wissenschaft und Technik kontrollieren zu können.
Protagonisten einer rückwärtsgewandten und risikoscheuen Kultur dient das Erdbeben als Symbol der Schwäche und Hilflosigkeit der Menschheit im Angesicht der Macht von Mutter Natur. Jetzt scheinen manche Westler diese Hollywood-Phantasie mit der Wirklichkeit zu verwechseln.
So hat ein britischer Journalist anscheinend so viele Hollywood-Drehbücher gelesen, dass er nicht mehr zwischen realen Naturkatastrophen und deren filmischen Inszenierung unterscheiden kann. In einem Artikel über das Erdbeben mit dem Titel “Was für Narren sind wir, zu glauben, den Zorn der Natur zähmen zu können” schreibt er in pathetischen Worten gegen die menschliche Hybris an, die er u.a. in der modernen Architektur, der Gentechnik oder, allgemein, in unserem Wahn, die Natur überwinden zu wollen, verortet sieht. Er schließt sein Pamphlet mit der Feststellung, dass wir dann plötzlich aus diesem Traum aufwachen und merken, wie unbeeindruckt die Natur von alledem sei. „Wir sind“, so schließt der Autor, „realistisch betrachtet alles in allem hoffnungslos irrelevant. Wir erscheinen verloren im Angesicht von Phänomenen, die offensichtlich jenseits unserer Kontrolle liegen.“
Das Bild der Menschheit als “hoffnungslos unbedeutend” spiegelt sich im Kulturpessimismus westlicher Gesellschaften. Aus diesem Blickwinkel zählen auch die phänomenalen Erfolge der japanischen Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg nichts.
Diese antimoderne Gedankenwelt, die auch die Wahrnehmung der japanischen Katastrophe prägt, hat in den letzten Jahrzehnten stark an Einfluss gewonnen.
Seit dem Erscheinen von Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ zu Beginn des frühen zwanzigsten Jahrhunderts ist der Kulturpessimismus ein wichtiger gesellschaftlicher Einflussfaktor. Spengler setzte den Niedergang der westlichen Zivilisation mit dem Aufstieg der Moderne gleich. Er meinte, dass menschliche Kreativität die Kluft zwischen Mensch und Natur erweitert habe. Und gerade der Versuch, die Natur durch die Anwendung der Technik zu beherrschen, sei ein “ungeheuerlicher Gedanke” der so alt sei wie die „faustische Kultur“ selbst. Seit Spenglers Tagen ist der Kulturpessimismus zum Mainstream geworden. Viele Umweltschützer sehen den Versuch der Menschheit, die Natur zu ihrem Nutzen zu manipulieren kritisch. Für sie sind dies fehlgeleitete Bestrebungen, Kräfte außerhalb unserer Kontrolle beherrschen zu wollen. Von diesem Standpunkt aus ist die Tragödie, unter der Japan zurzeit leidet, offenbar nicht nur “natürlichen” Ursprungs, sondern verschuldet vom Menschen, mit all seiner Technologie-und Kernkraftwerken.
Bei einigen besonders radikalen Kulturpessimisten scheint das Bedürfnis, mit den Fingern auf die böse Menschheit zu zeigen, sogar den grundlegenden menschlichen Impuls zum Mitgefühl mit den Katastrophenopfern außer Kraft zu setzen. Die Neigung zu Anklage und Schuldzuweisungen nimmt bereits groteske Ausmaße an. Es scheint so, als sei für manche die Katastrophe nichts weiter als noch ein Ass im Ärmel ihrer Argumentation.
Am Tag des Erdbebens in Japan konnte man auf einer von Umweltschützern betriebenen Website lesen, dass auch die Menschheit nicht frei von Schuld für die Katastrophe sei: “Der heutige Tsunami: So sieht der Klimawandel aus”, lautete die Überschrift eines dort erschienen Artikels. Auf der Internet-Seite wurde weiterhin gewarnt, dass “in einer Welt, in der wir die Erde durch ständiges Abblasen von Klimagasen in einem erdgeschichtlich beispiellosen Tempo erwärmen, die Folgen des Klimawandels hart und schnell zu spüren sein können - darunter auch Tsunamis und Erdbeben.” Anscheinend hat diese Lügengeschichte kritische Reaktionen provoziert, denn einen Tag später war eine andere Überschrift zu lesen: “Führt der Klimawandel zu mehr Tsunamis?”. Der Autor behauptet jetzt, dass es nicht seine Absicht gewesen sei, die aktuelle Tragödie mit dem Klimawandel in Verbindung zu bringen. Außerdem fügte er eine “Entschuldigung gegenüber denen an, die ich mit der Schlagzeile irregeführt habe“. Aber natürlich war es genau das, was er wollte; nämlich die Schuld für die Katastrophe auf den Klimawandel zu schieben. Es war in diesem Fall nur einfach so, dass die Panikmache zu offensichtlich war.
Vergessen Sie Filme – lernen Sie aus der Geschichte
Die Erfahrung der Geschichte lehrt uns, dass tragische Ereignisse wie das Erdbeben und der Tsunami in Japan die besten Eigenschaften der Menschen zu Tage fördern. Die Menschheit hat wertvolle Lektionen aus Katastrophen ziehen können und dabei – weit entfernt davon „hoffnungslos irrelevant“ zu sein – gezeigt, selbst schlimmste Rückschläge überwinden zu können. Ja, Katastrophen sind schreckliche Ereignisse, die oft mit Hoffnungslosigkeit, Schuldzuweisungen und Desorientierung einhergehen. Gerade dann, wenn die zerstörerischen Ereignisse noch nicht weit genug zurückliegen, fühlen wir uns oft zu überwältigt, um aus ihnen zu lernen. Gerade deshalb kann es nützlich sein, einen Schritt zurück zu treten und zu fragen, welche Lehren wir aus der Geschichte der Katastrophen ziehen können.
Katastrophen sind furchtbar, aber die Geschichte lässt vermuten, dass sie nicht annähernd so furchtbar sind, wie wir sie uns in unseren Alpträumen ausmalen. Im Angesicht der verheerendsten Katastrophen ist es der Menschheit oft gelungen, aus der Not eine Tugend zu machen. Immer wieder hat sich auch unsere Angst vor Naturkatastrophen als ein Katalysator für menschlichen Einfalls- und Erfindungsreichtum erwiesen. Das Erdbeben von Lissabon 1755 führte zu einer neuen Blüte der Wissenschaften und zum Bau einer neuen städtischen Infrastruktur. Die schrecklichen Überschwemmungen in Holland im Jahr 1953 hatten ein ausgeklügeltes System von Deichen zur Folge, welches heute ohne Übertreibung zu den großen technologischen Wundern unserer Zeit gezählt werden kann.
Auch Sozialreformen sind oft Früchte von Katastrophen. Während des viktorianischen Zeitalters in Großbritannien konnten Reformer bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen, nachdem viele Arbeiter in den Baumwollspinnereien Manchesters an einem ansteckenden Fieber starben. Nach dem Großen Brand von Chicago im Jahr 1871 setzte in den USA ein Boom in der Städteplanung ein. Neue Gesundheits-und Sicherheits-Gesetze wurden 1909 in den USA nach dem furchtbaren Grubenunglück von Cherry (Illinois) erlassen. Der Untergang der Titanic im Jahr 1912 führte zu einer Revision der Sicherheitsbestimmungen in der Passagierschifffahrt, welche dann die Sicherheit der Seefahrt erheblich verbesserten.
Auch die Japaner zogen aus dem schrecklichen Erdbeben von Kobe 1995 Lehren. So wurden Verbesserungen der Bauplanung und Infrastrukturtechnologien entwickelt, die dazu beigetragen haben, die Zahl der Todesopfer des aktuellen Bebens in Grenzen zu halten. Es gibt keinen Grund anzunehmen, warum nicht auch die gegenwärtige Katastrophe Lehren enthalten sollte, wie wir Dinge in Zukunft besser machen können. Das Beste, was die internationale Gemeinschaft jetzt tun kann, ist auf Hollywood-Phantasien und pseudomoralisches Fingerzeigen zu verzichten und Japan mit einem Höchstmaß materieller und moralischer Hilfe zu unterstützen.