14.03.2011

Fukushima-Störfall: Japan ist nicht die Sowjetunion!

Analyse von Klaus-Dieter Humpich

Klaus-Dieter Humpich schreibt sachlich gegen die gegenwärtige "Weltuntergangsstimmung" in den deutschen Medien an. Er zeigt auf, was wir bisher mit Gewissheit über die Ereignisse in Fukushima sagen und was für Folgen wahrscheinlich eintreten können. Er betont, dass dort kein "zweites Tschernobyl" stattfindet

Die deutschen „Qualitätsmedien“ überschlagen sich gegenseitig in der Weltuntergangsstimmung. Die Katastrophe in Japan ist spannender als die Sportschau. Die selbsternannten „Atomexperten“ geben sich die Klinke in die Hand und überbieten sich gegenseitig im Ausmalen der „Super-Super-Gau-Atomkatastrophe“. Hier soll nicht der Weg beschritten werden, vom Hörensagen irgendwelcher Reporter in Hotels in Tokyo zu berichten.

Japan ist nicht die Sowjetunion! Es gibt internationale Regularien, wie solche Störfälle gehandhabt werden. Gemäß dieser Regularien berichten sowohl der Betreiber, wie auch die japanischen Behörden fast im Minutentakt über alle geplanten und durchgeführten Maßnahmen. Wer will, kann sich also informieren. Wenngleich die Meldungen von Laien nicht immer eingeordnet werden können. Deshalb soll hier der Versuch unternommen werden, den Ablauf der Ereignisse und die Konsequenzen sachlich darzustellen.

Das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi besteht aus sechs Reaktoren (1×439, 4×760,1×1067 MWe). Zur Zeit des Erdbebens waren die Blöcke 1 bis 3 am Netz. Nach offiziellen Meldungen waren die Blöcke 4 bis 6 in Revision. Ausgelöst durch das Erdbeben, wurden die Blöcke 1 bis 3 (wie vorgesehen) automatisch abgeschaltet. Durch diese sog. Schnellabschaltung produziert das Kernkraftwerk keinen Strom mehr. Es muß also der Strom für den eigenen Betrieb (von Beleuchtung bis Kühlmittelpumpen) vom öffentlichen Stromnetz bezogen werden. Dieser Bezug war aber nicht mehr möglich, da das Stromnetz durch das Erdbeben zerstört worden ist. Deshalb starteten vollautomatisch die dreifach redundanten Notstromdiesel. Diese Notstromversorgung verlief zunächst wie geplant und ohne Probleme. Etwa eine Stunde nach der Schnellabschaltung wurden die Notstromdiesel (wahrscheinlich) durch den Tsunami alle drei außer Gefecht gesetzt. Nun sind die Japaner aber nicht dumm und bauen daher eine Notstromversorgung direkt am Meer nicht ohne Hochwasserschutz. Die einzige Erklärung ist daher im Moment, eine Zerstörung des Hochwasserschutzes durch das vorausgegangene Erdbeben. Gleichwohl ist dies eine wichtige sicherheitstechnische Frage, die noch genau geklärt werden muss. Man hat unverzüglich mehrere mobile Notstromaggregate aus der Umgebung herbeigeschafft. Bisher ist nicht genau bekannt, warum der Anschluss an die Anlage nicht unverzüglich geklappt hat. Es gibt bisher mehrere Hypothesen in den Meldungen, über nicht vorhandene Kabel und Schwierigkeiten mit der vorhandenen Leittechnik. Ein weiterer Punkt, der später noch genau untersucht werden muss.

In diesem Zeitraum – zwischen dem Ausfall der eigenen Notstromzentrale und dem Anschluss der mobilen Aggregate – waren die drei Reaktoren ohne ausreichende Kühlung. Um zu verstehen, welche Konsequenzen das hat, muss man kurz auf die Funktion eines Kernreaktors eingehen: Die Kernspaltung findet in fingerdicken Röhren statt, die vollständig vom Kühlwasser umspült werden. In einem Siedewasserreaktor verdampfen dadurch etwa 8% des umlaufenden Wassers und werden zur Turbine geleitet, um dort Arbeit zu leisten. Durch die Verdampfung des Wassers werden andererseits die Brennstäbe gekühlt. Es stellt sich im Reaktor ein Gleichgewicht mit einem bestimmten Druck und einer bestimmten Temperatur ein. In diesem Zusammenhang ist nur wichtig, dass diese Temperatur und dieser Druck für die erforderlichen Materialien und Abmessungen bestimmend sind. Wenn man nun die Wärmesenke (Schnellabschaltung der Turbine) entzieht, steigt der Druck im Reaktor an. Ganz genau so, als wenn man unter einem Schnellkochtopf den Gasherd laufen lässt. Irgendwann würde er so hoch ansteigen, dass das System platzt. Deshalb ist es vorgesehen, ab einem gewissen Druck kontrolliert Dampf abzulassen. Wenn man jedoch Dampf ablässt, um den Druck in Grenzen zu halten, muss man gleichzeitig die gleiche Menge Wasser nachfüllen, da sonst der Wasserstand unaufhörlich absinkt. Hier lag nun das Problem: Um Wasser gegen den hohen Druck im Reaktor zu drücken, braucht man (bei dieser Reaktorgeneration) starke elektrische Speisepumpen. Wenn — wie offensichtlich geschehen — der Wasserstand so weit absinkt, dass ein Teil der Brennstäbe nicht mehr durch verdampfendes Wasser gekühlt wird, sondern nur noch durch Dampf (wesentlich schlechterer Wärmeübergang) gekühlt wird, werden diese Teile zu heiß. Erste Konsequenz ist dann das Versagen der Hüllrohre. Sie platzen auf und Spaltprodukte können (teilweise) aus den Brennstäben austreten und in das Reaktordruckgefäß austreten. Steigt die Oberflächentemperatur der Brennstäbe über einen Schwellwert an, bildet sich über eine chemische Reaktion zwischen dem Dampf und den Hüllrohren Wasserstoff. Auch dieses ist offensichtlich geschehen. Jetzt zu den wahrscheinlichen Konsequenzen:


Warum wird Fukushima kein Tschernobyl werden?


In Tschernobyl ist der Reaktor aufgrund konstruktionsbedingter Mängel „durchgegangen“. Durch diese nukleare Verpuffung wurde das „Reaktorgebäude“ zerstört und fast das gesamte radioaktive Material in die Luft geschleudert. In Fukushima wurde der Reaktor planmäßig abgeschaltet. In dem Moment wo die Steuerstäbe in den Reaktor eingeschossen worden sind, bricht jede Kettenreaktion schlagartig in sich zusammen. Lediglich die im System gespeicherte Wärme und die Nachzerfallswärme der Spaltprodukte können noch wirksam werden. Es ist weniger als 10% der ursprünglichen Leistung. Weiterer Vorteil war, dass das Nachkühlsystem noch etwa eine Stunde gelaufen ist. Bis zum Ausfall der Stromversorgung dürfte die Wärmeleistung des Kerns auf ein Prozent seiner Ausgangsleistung abgefallen sein. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Ein Prozent sind immer noch einige Megawatt. Eine recht hohe Leistung, aber viel zu wenig, um radioaktives Material wie ein Vulkan auszuwerfen. Genau das, geschah aber in Tschernobyl. Außerdem scheinen in Fukushima sowohl der Druckbehälter, das Containment (gasdichter Stahlbehälter), wie auch das umgebende Schutzgehäuse „gegen Einwirkungen von Außen“ aus Stahlbeton noch vollständig in Ordnung. Beides war in Tschernobyl gar nicht vorhanden! Drei Barrieren, die erst mal überwunden werden müssen!


Was ist in Fukushima eigentlich explodiert?


Oberhalb des Reaktors befindet sich ein Kran, der bei Inspektionen die tonnenschweren Abdeckungen des Reaktors bei Seite heben kann. Damit man bei solchen Arbeiten nicht im Regen steht, ist dieser Rahmen aus Stahlträgern mit einer Fassade verkleidet gewesen. Diese ist mit viel Staub und Getöse durch die Explosion davon gefegt worden. Ein spektakulärer Anblick, aber für diesen Störfall günstig, da so die Explosionswelle ins Freie gelangen konnte.


Warum konnte es zu einer Explosion kommen?


Dies wird die zentrale Frage bei der Aufarbeitung des Geschehens sein. Die Bildung von Wasserstoff bei einer Überhitzung der Brennstäbe ist bekannt. Als Lehre aus dem Störfall in Harrisburg (TMI) hat man alle neuen Kraftwerke mit einem System zum „kalten“ Abbau des Wasserstoffs ausgerüstet. In Deutschland wurden alle Reaktoren damit nachgerüstet. Interessant wird sein, warum dieses System nicht vorhanden war oder nicht funktioniert hat. Diese Frage betrifft auch unmittelbar alle Kernkraftwerke in Deutschland.


Welche Radioaktivität und wie viel wurden freigesetzt?


Etwa 30% aller Spaltprodukte sind gasförmig (überwiegend Edelgas). Diese werden beim „platzen“ der Hüllrohre der Brennstäbe fast vollständig freigesetzt. Die „festen“ Spaltprodukte bleiben überwiegend in der Brennstoffkeramik gebunden. Um ein Versagen des gasdichten Containments zu verhindern, ist im Notfall vorgesehen, den Überdruck kontrolliert abzubauen. Man muss also ein Gemisch aus Dampf und gasförmigen Spaltprodukten in (üblicherweise über den Schornstein) in die Umgebung ablassen. Dies ist wie vorgesehen über eine Filterstrecke geschehen. Nur lassen sich leider die Edelgase praktisch nicht durch Filter zurückhalten. Sie gehen durch den Schornstein und sind als radioaktive Wolke messbar. Für Mensch und Tier sind diese Gase relativ ungefährlich, da sie nicht über die Nahrungskette aufgenommen werden können und sich ohnehin sehr schnell verdünnen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass der Störfall inzwischen auf die Kategorie 4 (Harrisburg 5, Tschernobyl 7) zurückgestuft wurde. Umgangssprachlich bedeutet die Kategorie 4: Reaktor Totalschaden, aber kaum Auswirkungen auf die Umgebung.


Warum wurde mit Meerwasser gekühlt?


Durch das schwere Erdbeben war kein Leitungswasser mehr verfügbar. Da der Reaktor sowieso einen Totalschaden hat, kann die Korrosion durch Meerwasser auch keinen nicht zu verkraftenden Schaden anrichten. Man hat inzwischen das gesamte Containment — wahrscheinlich bis über die Höhe des Kerns — mit Borsäure versetztem Meerwasser aufgefüllt. Jetzt befindet sich der Reaktor im Zustand einer Natur-Umlauf-Kühlung. Die Wärme wird über die Oberfläche des Containments abgeführt. Dieser Vorgang musste mehrfach unterbrochen werden, da es immer wieder Warnungen vor Nachbeben gab. In diesem Zustand ist die Radioaktivität sicher eingeschlossen, getreu der alten Rickover-Regel: Wasser hat keine Risse.


Was könnte noch passieren?


Wahrscheinlich befindet sich im Containment ein zerstörter Reaktor in einer radioaktiven Brühe. Die größte Gefahr ist daher ein weiteres schweres Beben oder ein noch größerer Tsunami bevor dieser „Dreck“ beseitigt ist. Eine auf jeden Fall sehr kostspielige und langwierige Arbeit, die da auf Japan zu kommt. Irgendwelche Kernschmelzen, die sich in den Untergrund fressen kann man jedenfalls getrost Hollywood und manchen „Deutschen Qualitätsmedien“ überlassen. Realistisch sind sie nicht!


Warum gab es Evakuierungen?


Es gibt in Japan sehr starre Regelungen für Katastrophen. Bisher wurden im Rahmen dieser Vorschriften 170.000 Menschen vorsorglich evakuiert. Eine Vorsichtsmaßnahme, die nur möglich ist, weil es in Japan keine „Atomhysterie“ nach deutschem Muster gibt. Deshalb verläuft in Japan eine solche Maßnahme reibungslos und ohne Panik. Ganz nebenbei konnte man all diese Menschen „frei messen“ und damit beruhigen und aus ihrer total zerstörten Umgebung in Notunterkünfte überführen. Es wurden lediglich bei sechs Personen geringe „Verstrahlungen“ festgestellt, deren Herkunft man nun Untersucht. Für manch einen wird das zu einer bösen Überraschung führen, da er irgendwo mit radioaktiven Stoffen Kontakt hatte, ohne es zu wissen.


Wer ist bisher zu Schaden gekommen?


Während des Erdbebens wurde ein Arbeiter in einem Lastenaufzug so schwer verletzt, dass er inzwischen verstarb. Zwei Arbeiter einer Fremdfirma erlitten Knochenbrüche. Vier Arbeiter wurden durch die Explosion so schwer verletzt, dass sie ins Krankenhaus kamen. Ein Angestellter von Tepco musste mit Verdacht auf Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert werden. Mehrere Ingenieure erlitten Schwächeanfälle, da sie mit schwerem Atemschutz auf der Warte tätig waren. Ein Arbeiter erlitt im Block 3 eine erhöhte Strahlenbelastung von 106 mSv (Zum Vergleich: Eine Computertomographie des Bauchraums setzt den Patienten einer effektiven Dosis von 10 bis 25 mSv aus).

 

 


Redaktionshinweis: Zu dem Artikel ist mittlerweile eine Ergänzung des Autors zu den aktuellen Ereignissen im AKW unter dem Titel „Update zum Fukushima-Störfall“ bei NovoArgumente erschienen.

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