14.03.2011

Nach dem Erdbeben: Lehren aus Japan

Kurzkommentar von Sabine Beppler-Spahl

Mehr "Ehrfurcht und Demut" gegenüber der Natur kann nicht die Lehre aus der Katastrophe in Japan sein. Bereits nach dem Lissaboner Erdbeben von 1755 wurde von Konservativen die Hybris der Menschheit angeprangert. Mit Voltaire spricht sich Sabine Beppler-Spahl gegen Fatalismus aus und meint, wir sollten weiterhin versuchen, die Natur zu beherrschen

„Entsetzt, bestürzt, seiner Sinne nicht mächtig, über und über blutend und zitternd, sagte Kandide sich: Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein?“


Große Katastrophen wie das verheerende Erdbeben in Japan wecken starke Emotionen. Es stellt sich die Frage nach dem Sinn und den Lehren, die wir aus einem solch furchtbaren Ereignis ziehen können. Für Renate Künast liegt die Antwort auf der Hand: “Wir beherrschen nicht die Natur, sondern die Natur herrscht über uns“, sagte sie im Deutschland Radio. Im ähnlichen Tenor äußerte die Kanzlerin, die „Ehrfurcht und Demut“ anmahnte. Die Natur, so die Botschaft, habe uns in unsere Schranken verwiesen. Die Gefahr, die nun von der Atomkraft ausgeht, wirkt wie ein Menetekel menschlicher Selbstüberschätzung…

Es ist nicht neu, dass nach Katastrophen solch grundlegende Urteile über die Menschheit und deren Selbstüberschätzung gebildet werden. Am 1. November 1755, dem katholischen Allerheiligen, erschütterten Erdstöße die Küste Portugals. Es folgten ein Tsunami mit etwa sieben Meter hohen Flutwellen und ein Großbrand, der über fünf Tage wütete. Lissabon, die damals viertgrößte Metropole Europas, wurde fast vollständig zerstört. Obwohl es zu dieser Zeit noch keine seismologischen Messungen gab, wird heute angenommen, dass das Beben eine Stärke von 8,0 bis 9,0 auf der Richterskala erreichte. Mit Tausenden von Toten zählt das Erbeben von Lissabon bis heute zu den schlimmsten Naturkatastrophen der europäischen Geschichte.

Es wird kaum verwundern, dass es auch damals autoritative Stimmen gab, die die Ursache für die Katastrophe im menschlichen Fehlverhalten suchten: Es sei die Strafe Gottes, die die Menschen an diesem katholischen Feiertag ereilt habe, so das Urteil großer Teile der Theologie. Die Sündhaftigkeit des ganzen Zeitalters, das geprägt war von den Gedanken der Aufklärung und den Versuchen, die Natur zu beherrschen, habe unausweichlich in eine Katastrophe münden müssen. Die Parallelen zu heute sind frappant, denn auch im Zuge dieser Katastrophe forderten konservative Kräfte eine Rückbesinnung auf die göttliche Natur. Diese, so die These, hole sich zurück, was der Mensch ihr, um Lebensraum zu schaffen und Handelswege zu bauen, geraubt habe.

Es sollte uns als Zeichen für die Kraft der menschlichen Vernunft dienen, dass solch traditionelle Interpretationen schon damals auf Skepsis und Ablehnung stießen. In seiner berühmten Polemik, Kandide, machte sich Voltaire über die Moralisten, die zu Buße und Opfern aufgerufen hatten, lustig:

„Nachdem das Erdbeben drei Viertel von Lissabon verwüstet hatte, war im Rate der Wächter und Weisen des Landes beschlossen worden, dem Pöbel ein gar stattliches Autodafé zu geben. Ein kräftigeres Mittel, dem gänzlichen Untergange der Stadt vorzubauen, hatten sie nicht können ausfindig machen. Auch hatte die Universität zu Coimbra den Ausspruch getan: einige Personen mit gehörigen Solennitäten und Formalitäten an langsamem Feuer gebraten, wäre das probateste Mittel, allen weiteren Erdbeben vorzubeugen.“ (Voltaire, Kandide, Kapitel 7) 

Doch der wachsende Einfluss wissenschaftlichen Denkens hatte die Erklärungen religiöser Autoritäten untergraben und eine der spannendsten philosophischen Debatten des 18. Jahrhunderts ausgelöst. Die Katastrophe stellte einen Wendepunkt im theologischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Denken Europas dar: Moraltheologische Überlegungen zur Implikation von Sünde und Strafe wichen der geologischen Ursachenforschung. Immanuel Kant war vom Erdbeben so fasziniert, dass er drei Schriften zu den natürlichen Ursachen des Bebens veröffentlichte. Seine Erklärungen waren falsch, aber sie stellen dennoch einen der frühesten Versuche einer wissenschaftlichen Geographie dar.

Es ist ein beunruhigendes Zeichen unserer Zeit, wenn heute, über 250 Jahre nach dem Beben von Lissabon, wieder von Demut vor der Natur die Rede ist. Japan hat zur Zeit ein riesiges Problem. Doch das Verharren in Demut wird, wie auch schon zu Zeiten des Bebens von Lissabons, diese Probleme nicht lösen. Lissabon wurde unter dem Motto „Die Toten begraben, für die Lebenden sorgen“ wieder aufgebaut. Der Glaube an Rationalität und die menschlichen Fähigkeiten hat die Grundlagen für die moderne Seismologie gelegt. Gibt es also eine Lehre aus Katastrophen dieser Art? Voltaire lässt seinen Kandide die schlimmsten Katastrophen und Kriege überleben. Kandide hat verstanden, dass es keine einfachen Lösungen gibt und dass unsere Welt nicht die beste aller Welten ist. Doch er erkennt, dass wir uns nicht des Schicksals fügen müssen. Kandide findet Erlösung in der eigenen Anstrengung und – im Versuch, die Natur zu beherrschen:  „Gut gesagt! recht gut! sagte Kandide, allein wir müssen unsern Garten bestellen.“

 

 

 


Redaktionshinweis: Eine erweiterte Fassung des Artikels ist unter dem Titel “Die Natur beherrschen” in der Zeitung DIE WELT vom 15.03.2011 (S. 8) erschienen. Auf WELT ONLINE kann die Online-Fassung unter dem Titel “Nach dem Erdbeben: Allein mit Demut löst Japan seine Probleme nicht” gelesen und kommentiert werden.

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