06.12.2017

Fiskalisch gelenkte Ernährung

Von Detlef Brendel

Titelbild

Foto: martinclark via Pixabay / CC0

Diabetes-Verbände plädieren für eine „gesunde Mehrwertsteuer“ und eine Lebensmittelampel. Ein neuerlicher Versuch, Menschen beim Essen zu bevormunden.

Was in den Mund der mündigen Bürger kommt, soll nach Vorstellung der Diabetes-Verbände zu einem Politikum werden. Der Staat, so die Initiative der Organisationen, soll die Ernährung seiner Bürger mit einem System von Strafsteuern reglementieren. Die zahlreichen Diabetes-Vereine, -Verbände und -Stiftungen in Deutschland haben gemeinsam eine Studie finanziert, deren Ergebnisse jetzt unter dem Titel „Die Auswirkungen der Besteuerung von Lebensmitteln auf Ernährungsverhalten, Körpergewicht und Gesundheitskosten in Deutschland“ vorgelegt worden sind.

Ein Blick auf die Ziele der Organisationen lässt auf eine breite Aufklärungsarbeit schließen. Die Organisationen wollen Menschen für die Erkrankung sensibilisieren und die Bevölkerung über Risiken aufklären, um Typ-2-Diabetes zu verhindern oder zu verzögern. Sie wollen über Diabetes mellitus aufklären und Möglichkeiten der Prävention transparent machen. Zu ihren Aufgaben zählen sie die Aufklärung der Öffentlichkeit über Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten der Adipositas sowie den Abbau von Vorurteilen gegenüber Adipösen.

Die aktuelle Forderung, der Staat solle mit Strafsteuern Ernährung beeinflussen, ist das Eingeständnis des Scheiterns dieser Organisationen, die offenbar nichts erreicht haben. Sie beklagen die steigende Zahl der Adipösen und der Diabetiker. Eine schlichte Beobachtungsstudie, wie sie für Angriffe auf die Ernährung und mehr noch auf die einzelnen Nahrungsmittel und die Lebensmittelwirtschaft oft herangezogen wird, würde zu einem klaren Ergebnis kommen: Je mehr Diabetes-Organisationen sich während der letzten Jahre gebildet haben und je mehr Millionen verpulvert worden sind, umso dicker wurden die Bundesbürger. Das ist natürlich kein Kausalbeweis. Aber auch den Funktionären dieser Organisationen reicht für ihre Agitation in vielen Fällen die Herstellung statistischer Relationen zwischen verschiedenen Variablen.

„Die Diabetes-Clubs haben bei NGOs wie Foodwatch gelernt.“

Propagiert wird das System „Ampel Plus“. Grüne, gelbe und rote Punkte auf den Nahrungsmitteln und parallel mehrwertsteuerfreies Obst und Gemüse, sieben Prozent für „normale“ Lebensmittel, 19 Prozent für Fertiggerichte, Chips oder Süßigkeiten werden es richten. Und wer eine Limo trinken will, soll mit 29 Prozent Mehrwertsteuer zur Kasse gebeten werden. In der Folge werden die Bundesbürger zu einem Volk schlanker Asketen. Paternalismus in Kombination mit schlichtem Denken kann so herrlich einfach sein.

Die Diabetes-Clubs haben bei NGOs wie Foodwatch gelernt. Die erfolgreiche Wahrnehmung einer Organisation wird nicht durch konstruktive Arbeit, sondern vor allem durch ein auf Skandalisierung von Themen setzendes Campaigning bestimmt. Diese Strategie schließt die Bereitschaft zum Diskursversagen, also das Aufgeben der positiv verstandenen Ziele und Botschaften, ein. Wenn die Institutionen, die mit der Absicht der Aufklärung zur Bekämpfung des Diabetes mellitus gegründet worden sind, mit ihrer Arbeit gescheitert sind, bleibt offenbar nur noch der Ruf nach staatlicher Bevormundung.

Überzeugende Argumente soll die Studie von Tobias Effertz von der Universität Hamburg liefern. Effertz ist wie sein Chef Michael Adams und sein Kollege Ingo Fiedler hauptsächlich dafür bekannt, bei Ernährung, Tabak, Alkohol und Glücksspiel der Regulierung und Besteuerung das Wort zu reden. Er liefert auch mit diesem Papier ein eindrucksvolles Beispiel, dass sich jede Zielvorgabe mit einem Konglomerat von Annahmen, geschickt hergestellten Relationen, Berechnungen und notwendigen Ausblendungen der Realität scheinbar begründen lässt.

Eine durch die Wissenschaft nicht gedeckte Annahme, die sich auch als inkompetente Behauptung charakterisieren lässt, ist die forsch vorgetragene Feststellung, dass es „ungesunde“ und „adipogene“ Lebensmittel geben soll. Kein seriöser Ernährungswissenschaftler würde das unterschreiben. Nicht die Sanktionierung von Fett, Salz und Zucker trägt zur Gesundheit der Menschen bei, sondern eine ausgewogene Ernährung sowie die Vitalisierung des Lebensstils.

„Komplexe Zusammenhänge erscheinen den Diabetes-Funktionären nicht vermittelbar.“

Die Auftraggeber der gefällig gestalteten Studie sollten es eigentlich wissen. Diabetes mellitus, umgangssprachlich Zucker genannt, kommt nicht vom Zuckerstreuer, sondern von zahlreichen Problemen des aktuellen Lebensstils. Körperliche Inaktivität, Stress und zunehmend als relevant erkannte genetische Faktoren spielen eine Rolle bei der Entstehung von Adipositas und Diabetes mellitus. Aber derart komplexe Zusammenhänge erscheinen den Diabetes-Funktionären nicht vermittelbar. Wer schon bei der einfachsten Aufklärungsarbeit scheitert, blendet die verwirrende Fakten-Vielfalt der aktuellen Wissenschaft gerne aus. Da lässt sich die schlichte Formel „Zucker macht zuckerkrank“ doch viel einfacher strapazieren.

Die durch keine sachliche Abwägung getrübten Annahmen der Studie gehen noch weiter. Alkohol und Tabak werden mit täglichen Nahrungsmitteln auf eine gleiche Stufe gestellt, um später daraus phantasievolle Berechnungen abzuleiten. Modellrechnungen werden als Beleg genommen, dass sich das Gewicht der Bundesbürger ebenso senken lässt, wie die Krankheitskosten im deutschen Gesundheitswesen. Eine Behauptung soll Beweiskraft vortäuschen: „Eine Veränderung der Mehrwertsteuer bei Lebensmitteln […] erzielt deutliche Reduktionen in Adipositasprävalenz und Gesundheitskosten“. Hier wird der Wunsch zum Vater des Gedankens. Und dieser verzweifelte Gedanke der Diabetes-Clubs wird dann von dem willigen Autor der Studie mit einem überzeugenden Begriff geschmückt. Es geht um die „gesunde Mehrwertsteuer“.

Die Studie will vor allem die Auswirkung einer Besteuerung auf Lebensmittel bei definierten Zielgruppen bestimmen. Es geht um die unteren sozialen Schichten sowie Personen, die bereits von Adipositas betroffen sind. Was ist mit den höheren sozialen Schichten? Was ist mit der Mehrzahl der Normalgewichtigen in der Bevölkerung, die durch ein gewichtssenkendes Strafsteuer-System eventuell in das Risiko des Untergewichts getrieben würden? Hier bietet die Studie keine Antworten.

„Was eine Brigitte-Diät nicht geschafft hat, wird das Finanzamt schon richten.“

Dabei ist sie eigentlich sehr detailversessen. So wird ausgeführt, dass heute mit 19 Prozent besteuerte Luxuslebensmittel wie Hummer oder Kaviar nur einen geringen Beitrag zur Adipositas-Epidemie leisten. Wer hätte das gedacht? Da ein von Kaviar gekrönter Hummer offenbar nicht zu den adipogenen Gerichten zählt, empfiehlt die Studie, diese „Luxusprodukte“ künftig einem reduzierten Steuersatz zu unterwerfen, um sie „auch für ärmere Bevölkerungsschichten zumindest etwas erschwinglicher“ zu machen. Vielleicht lässt sich mit kalorienarmem Hummer die Adipositas-Neigung in unteren sozialen Schichten wirkungsvoll bekämpfen.

Fantasievolle Szenarien mit großer Zahlen-Vielfalt sollen durch Berechnung der Kalorienreduktion und der Gewichtsreduktion den Eindruck fundierten Beweismaterials für den Erfolg einer fiskalisch gesteuerten Ernährung erwecken. Bei 35 bis 50 Jahre alten Männern der Mittel- und Unterschicht werde die tägliche Kalorienaufnahme bei einer „gesunden Mehrwertsteuer“ täglich um 162,31 Kilokalorien gesenkt. Die 19 bis 24 Jahre alten Männer, so wollen es uns die Propheten der nationalen Schlankheit glauben machen, werden bei dieser Besteuerung pro Jahr 4,25 Kilogramm abnehmen. Bei den adipösen Frauen im Alter von 35 bis 50 Jahren sind es jährlich immerhin 3,75 Kilogramm. Was eine Brigitte-Diät nicht geschafft hat, wird das Finanzamt schon richten.

Die Zukunft erscheint den Ernährungsideologen rosig. Der Body-Mass-Index (BMI) des Menschen wird sinken, der Anteil der Adipösen wird reduziert und die Krankheitskosten werden jährlich zwischen 4,5 und 7,1 Milliarden Euro geringer ausfallen. Das paternalistische Glaubensbekenntnis wird in einer Aussage, auch wenn diese grammatikalische Schwächen enthält, zusammengefasst: „Die veränderten Preise bewirken dann ein verändertes Nachfrageverhalten und dadurch auch zum Konsum anderer, idealerweise gesünderer Lebensmittel wie Obst und Gemüse oder verarbeiteten Produkten mit niedrigem Fett-, Salz-, oder Zuckergehalt. Dies wiederum führt dann zu einer verbesserten Gesundheit und geringeren Gesundheitskosten“. Zudem behauptet die Studie, dass eine steuerinduzierte Preiserhöhung sich auch direkt auf die konsumierte Menge an Lebensmitteln auswirkt.

Dirigistische Maßnahmen sollen nach dem Wunsch der Studie vor allem die unteren sozialen Schichten treffen. Dieses soziale Segment, so wird mehrfach betont, verzehrt mehr Kalorien, hat ein falsches Ernährungsverhalten und einen höheren BMI. Offenbar werden die Diabetes-Verbände immer noch von dem Motto „Dumm, dick, Diabetes“ angetrieben.

„Lustbefriedigung wird von den Ernährungs-Ideologen als Laster abqualifiziert.“

Die Forderung der Diabetes-Clubs, eine „gesunde Mehrwertsteuer“ parallel mit einem Ampelsystem auf Nahrungsmitteln einzuführen, ist ebenso skandalös wie die Studie. Wir haben heute ein reichhaltiges Nahrungsmittelangebot, das fett- und glutenfrei ebenso einschließt wie jede andere Variante für die individuelle Ernährung. Vom einfachen Produkt bis zur profilierten Marke gibt es für jedes Nahrungsmittel ein breites Preisband. Wem die Nobelschokolade nach Strafsteuern zu teuer wird, der steigt auf ein preiswerteres Produkt um. Genießen will er auch dann noch. Und wenn er sich ausreichend bewegt, ist das auch keineswegs zu kritisieren. Die Erfahrungen in anderen Ländern lehren, dass Strafsteuern zu negativen Entwicklungen führen. Dänemark musste nach Einführung einer Fettsteuer erkennen, dass diese primär Menschen mit niedrigem Einkommen belastet und gleichzeitig bedeutet, dass die Verbraucher auf billigere Produkte umsteigen. Die Steuer wurde wieder abgeschafft, weil der Fettverbrauch identisch blieb und sich keine positiven Auswirkungen auf die Gesundheit zeigten.

Die Einflussnahme auf die Politik, die die Diabetes-Clubs mit ihrer Studie versuchen, ist ein Angriff auf unsere Kultur. Essen ist mehr als nur die Zufuhr von Nahrung zur Versorgung des Stoffwechsels. Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, ist ein zentraler Bestandteil der Kultur einer menschlichen Gemeinschaft. Wenn hier die Axt der Bevormundung angelegt wird, ist es eine Attacke auf diese Gemeinschaft. Nicht ohne Grund gibt es den Begriff „Esskultur“, der mehr bedeutet als den unfallfreien Umgang mit Messer und Gabel. Die Ideologen sollten erkennen, dass Krankheiten, die sie anprangern, ganz wesentliche Konsequenzen der gesellschaftlichen Realität sind. So steigen die Krankheiten an, die wir in Folge eines körperlich weniger aktiven, stressbeladenen und längeren Lebens ausbilden.

Diese chronischen Leiden und Erkrankungen ausschließlich und immer wieder der Ernährung oder sogar einzelnen Nahrungsmitteln anlasten zu wollen, ist unverantwortlich. Eine Politik, die dem Bürger zunehmend Entscheidungen abnimmt und damit gleichzeitig seine Freiheiten reduziert, entmündigt die Menschen. Lustbefriedigung wird von den Ernährungsideologen als Laster abqualifiziert, speziell wenn es sich um wohlschmeckende Speisen handelt. Sauer und asketisch soll das Leben sein, am besten bitter oder zumindest geschmacksneutral.

Wir brauchen keine Gesellschaft, die Enthaltsamkeit zum wahren Genuss erhebt. Diese Vorstellung den braven Bürgern mit Hinweis auf die angeblichen Gesundheitskosten als Ausdruck sozialer Korrektheit einzubläuen, vernichtet einen der wenigen Freiräume des individuellen Lebens, den nach eigenen Vorlieben gestalteten Esstisch. Das ist die Regulierung der Freudlosigkeit, weil Vorschriften, Verbote und Empfehlungen das als verwerflich definieren, was Genuss, Freude und Vergnügen ausmacht.

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