10.01.2018
Das wichtigste Bürgerrecht
Von Kolja Zydatiss
Aktivisten und staatliche Stellen finden immer mehr Gründe, die freie Rede einzuschränken. Wir sollten die Meinungsfreiheit nicht so leichtfertig preisgeben
2003 hatte The Onion (das US-amerikanische Pendant zur deutschen Satirewebsite Der Postillon) einen besonders witzigen Einfall. „ACLU verteidigt das Recht von Nazis, das ACLU Hauptquartier niederzubrennen“, so die Überschrift des Textes. ACLU, das ist die American Civil Liberties Union (Amerikanische Bürgerrechtsunion). Der Witz bezieht sich auf die extreme Prinzipientreue der Nichtregierungsorganisation. Seit 1920 setzten sich die (meist linksliberalen) Aktivisten der ACLU für den Schutz der traditionell verbrieften amerikanischen Bürgerrechte ein, allen voran der Meinungsfreiheit. Die ACLU verteidigte Kommunisten, Vietnamkriegsgegner, den Interessenverband pädophiler Männer und den Ku-Klux-Klan. Am bekanntesten ist vielleicht ihre Klage aus dem Jahr 1977, die Neonazis ermöglichte, im überwiegend von Juden bewohnten Städtchen Skokie aufzumarschieren.
So stellt ein aktueller, von 200 der circa 1300 Angestellten der ACLU unterzeichneter, offener Brief eine tektonische Verschiebung im Selbstverständnis der Organisation dar. Die Verfasser kritisieren die „rigide Haltung“ der ACLU beim Thema Meinungsfreiheit. Nach der Gewalt bei einer Demo weißer Rassisten in Charlottesville, Virginia, die im August letzten Jahres einer linken Gegendemonstrantin das Leben kostete, sei diese Haltung nicht mehr zu verantworten. Laut dem ACLU-Geschäftsführer Anthony Romero wird die Leitung der Organisation diese Kritik zu Herzen nehmen. Nach Charlottesville habe man angefangen, die Kriterien zu überarbeiten, nach denen neue Meinungsfreiheits-Fälle angenommen werden. In Zukunft soll das erwartete „Gewaltpotential“ bei solchen Entscheidungen eine größere Rolle spielen.
„Längst trifft es nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen aus dem rechten politischen Spektrum.“
Diese Relativierung der Meinungsfreiheit als absolutes Prinzip durch eine Organisation, die traditionell zu ihren standhaftesten Verteidigern gehörte, ist Anlass zur Sorge. Die scheinbare Bereitschaft der ACLU zu einem Kurswechsel markiert den vorläufigen Tiefpunkt in einem Feldzug gegen das freie Wort, der seit einigen Jahren die gesamte westliche Welt erfasst hat.
In einigen Ländern hat die neue Zensur einen eher informellen Charakter. In den USA und Großbritannien schaffen es selbsternannte Vertreter von Minderheitsinteressen zunehmend, Veranstaltungen mit kontroversen politischen Inhalten, vor allem an Universitäten, zu verhindern (sogenannte „no-platform-policy“). Längst trifft es nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen aus dem rechten politischen Spektrum. Linke Religionskritiker dürfen ihre vermeintlich „islamophoben“ Ansichten nicht äußern. Feministinnen, die anzweifeln, dass sich ein Mann einfach so als Frau ausgeben kann, werden als „transphob“ gebrandmarkt und vom Campus verbannt.
Diese Trends schwappen auch nach Deutschland (siehe etwa die Kampagnen linker Aktivisten gegen die Professoren Herfried Münkler und Jörg Baberowski an der Berliner Humboldt-Universität). Im Unterschied zur angloamerikanischen Welt ist es hierzulande jedoch vor allem der Staat, der die freie Rede einschränkt. Wer die ‚falschen‘ Ansichten äußert, muss in Deutschland zunehmend mit Netzsperren, Hausdurchsuchungen und anderen Maßnahmen rechnen.
„Wer die ‚falschen‘ Ansichten äußert, muss in Deutschland zunehmend mit Netzsperren, Hausdurchsuchungen und anderen Maßnahmen rechnen.“
Inflation der Verletzlichkeit
Der neue Kampf gegen die Meinungsfreiheit kann nur vor dem Hintergrund eines gewandelten Menschenbildes verstanden werden. Lange dominierte im Westen ein robuster Individualismus, der Dickhäutigkeit und Selbstkontrolle würdigte. Dieses Modell hat ausgedient. Menschen gelten heute grundsätzlich als fragil und leicht traumatisierbar. Die Debatten um Selbstwertgefühl, Burn-out oder Mobbing verdeutlichen die zunehmende Fixierung der Gesellschaft auf psychologische Befindlichkeiten.
Eine neue Generation von Antidiskriminierungsaktivisten hat sich diese Verletzlichkeitsperspektive zu eigen gemacht. Diese im Englischen oft „Social Justice Warriors“ (zu Deutsch etwa „Kämpfer für die soziale Gerechtigkeit“) genannte Szene ist von der vermeintlichen Macht der Sprache besessen. Univerwaltungen werden aufgefordert, vermeintlich aufwühlende Lehrinhalte mit sogenannten Triggerwarnungen zu versehen oder sogenannte Safe-Spaces einzurichten, also „sichere“ Räume, in denen bestimmte Äußerungen verboten sind und „unterdrückerische“ Gruppen (Weiße, Männer, Heteros…) keinen Zutritt haben. Rassistische, sexistische oder homophobe Äußerungen gelten nicht bloß als unappetitlich oder verletzend, sondern werden mit körperlicher Gewalt gleichgesetzt.
Die freie Rede gilt auch als gefährlich, weil Menschen verführt werden könnten. In einer Zeit, in der Menschen als ausgesprochen schwach gelten, wird extremistischen Äußerungen eine quasi mystische Anziehungskraft zugeschrieben. Der britische Journalist Mick Hume macht in diesem Zusammenhang die interessante Beobachtung, dass die ersten europäischen Gesetze gegen Holocaustleugnung erst in den 1990er-Jahren verabschiedet wurden. In Deutschland z.B. wurde der allgemeine Volksverhetzungsparagraf erst 1994 um einen Absatz zur Holocaustleugnung erweitert. Fast 50 Jahre lang war man also (vernünftigerweise) davon ausgegangen, dass die Bürger die Ausflüsse einer kleinen Handvoll profilierungssüchtiger Spinner hören können, ohne selbst zu Holocaustleugnern zu werden. 1
„Die Problematisierung der Meinungsfreiheit hat durch die politischen Umwälzungen der letzten zwei Jahre einen zusätzlichen Schub bekommen.“
Verunsicherte Eliten
Die Problematisierung der Meinungsfreiheit hat durch die politischen Umwälzungen der letzten zwei Jahre einen zusätzlichen Schub bekommen. Seit Brexit und Trump sind die gesellschaftlichen Eliten im Westen tief verunsichert. Besondere Sorgen bereitet ihnen das Internet. Sie halten es für den Nährboden einer vermeintlichen politischen Radikalisierung, die die Bürger dazu treibt, ‚die Falschen‘ zu wählen.
In Deutschland brach 2016 eine regelrechte Moralpanik um sogenannte Hassrede und Fake-News (vorsätzlich produzierte Falschmeldungen) in den Sozialen Medien aus. Politiker überboten sich mit totalitär anmutenden Vorschlägen (etwa Vorgaben für die Verbreitung staatlich erwünschter Inhalte). Konkret hat sich Deutschland nun mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) ein Gesetz gegeben, das die Betreiber sozialer Netzwerke dazu zwingt, „Hasspostings“ zu löschen. Die Regierung beteuert, dass das am 1. Januar 2018 in Kraft getretene Gesetz nur Inhalte betrifft, die ohnehin rechtswidrig sind. Im Vorfeld hatten Kritiker jedoch vor einer Privatisierung der Rechtsdurchsetzung gewarnt. Unternehmen wie Facebook würden zum „Ermittler, Richter und Henker über die Meinungsfreiheit“. Aufgrund der hohen Bußgelder und extrem kurzen Löschfristen sei die Gefahr des „Overblockings“, also der vorsorglichen Löschung legaler aber vom politisch-korrekten Mainstream abweichender Äußerungen, hoch. Diese Befürchtungen scheinen sich nun zu bewahrheiten.
Das NetzDG institutionalisiert nicht nur die Forderung der Social Justice Warriors nach sprachlichen Schutzräumen (in einem orwellschen Kniff verkauft die Politik das Gesetz gar als Maßnahme zur Verteidigung der Meinungsfreiheit, da die „Hassrede“ im Netz Minderheiten vertreibe). Es soll wohl auch ganz profan Debatten zu kontroversen Themen – insbesondere der merkelschen Flüchtlingsaufnahmepolitik – einschränken und weiteren Zulauf zur rechtspopulistischen AfD verhindern. Trotz der vielen Probleme, auf die unter anderem Vertreter der Vereinten Nationen, des Europarats und der OSZE hingewiesen haben, gibt es Bestrebungen, das für westliche Demokratien einzigartig autoritäre NetzDG auf EU-Ebene zu kopieren.
„In einer aufgeklärten Gesellschaft sollten wir auf Argumente und nicht auf Redeverbote setzen.“
Argumente für die Meinungsfreiheit
Die zunehmenden Einschränkungen der Meinungsfreiheit sollten nicht einfach hingenommen werden. Das gilt nicht nur für staatliche Maßnahmen, sondern auch für informelle Versuche, das Meinungsspektrum einzuschränken. Hier noch einmal die fünf wichtigsten Gründe, das freie Wort zu verteidigen:
1. Es ist zu verlockend, andere mundtot zu machen
Die meisten Menschen können die meisten Äußerungen akzeptieren und möchten sie nicht verbieten lassen. Fast jeder hat jedoch rote Linien. Für viele Juden mag Holocaustleugnung unsäglich sein, für Armenier die Leugnung des Genozids an ihrem Volk. Religiöse Menschen möchten nicht, dass ihre Propheten und heiligen Schriften verspottet werden. Einige Umweltbewegte würden gerne Menschen einsperren lassen, die nicht an den menschengemachten Klimawandel glauben. Usw. usf. Die Versuchung, politische Gegner zum Schweigen zu bringen, ist hoch, schließlich können diese dann nicht mehr gegenargumentieren. Selbst wenn eine Gesellschaft nur in sehr wenigen Fällen die Meinungsfreiheit einschränkt, schafft das gefährliche Präzedenzfälle. Andere können sich darauf berufen und fordern, dass die Zensur auf Bereiche ausgeweitet wird, die ihnen wichtig sind.
Oft wird behauptet, dass Hass keine Meinung sei. Doch gerade der Hate-Speech-Begriff kann als politisches Werkzeug gegen Andersdenkende verwendet werden. Das zeigt ein aktuelles Beispiel aus den USA. Unser britisches Partnermagazin Spiked wollte an der American University in Washington D.C. eine Podiumsdiskussion über Title IX veranstalten. Title IX ist ein kontroverses Gesetz, das die Gleichstellung von Frauen an amerikanischen Bildungseinrichtungen regelt. Eine feministische Gruppierung befürchtete „Hassrede“ gegen Frauen und erreichte, dass die Hochschule die Nutzung ihrer Räume untersagte (die Debatte fand schließlich in den Räumlichkeiten des libertären Magazins Reason statt).
2. Zensur kann jeden treffen
Dieser Punkt ist mit dem oben genannten verwandt. Meinungsfreiheit muss unteilbar sein, oder sie ist wertlos. Wenn dieses absolute Prinzip relativiert wird, wird die Meinungsfreiheit von einem Recht zu einem Privileg. Die Möglichkeit, Meinungen zu äußern, kann gewährt, aber genauso gut wieder entzogen, werden. Der aktuelle Umgang mit „extremistischen“ Webplattformen verdeutlicht diese Problematik. Die meisten Linken rührten keinen Finger, als der Bundesinnenminister 2016 die rechtsextreme Webseite Altermedia verbot. Mit dem Verbot von linksunten.indymedia und den Prozessen gegen die Betreiber trifft die „wehrhafte“ deutsche Demokratie nun jedoch die eigene Seite. (Andere Linke, gegen die der deutsche Staat vorgeht, sind die Anhänger der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Ihnen wird untersagt, ihre Symbole öffentlich zu zeigen.)
3. Zensur hilft Rechtsextremen mehr, als sie ihnen schadet
Einschränkungen der Meinungsfreiheit werden oft mit der Notwendigkeit begründet, Rechtsextremismus zu bekämpfen. Die Vorstellung, nazistische Randgruppen könnten mit ihren Äußerungen die gesellschaftlichen Fortschritte der letzten Jahrzehnte zurückzudrehen, übertreibt jedoch nicht nur deren Einfluss. Sie könnte paradoxerweise diesen Gruppen sogar nutzen. Die rechte Szene neigt zu Larmoyanz und Verschwörungsdenken. Maßnahmen wie das NetzDG bestätigen Nazis und andere Extremisten in ihrer Vorstellung, Opfer eines diktatorisch agierenden politischen Establishments zu sein, und radikalisieren sie weiter. Außerdem lässt die Zensur rechte Ideen gerade für junge Menschen interessanter und subversiver erscheinen, als sie in Wahrheit sind.
4. Meinungsfreiheit ist die Voraussetzung des gesellschaftlichen Fortschritts
Die Meinungsfreiheit ist der zentrale Wert, auf dem die meisten Errungenschaften der liberalen Moderne beruhen. Ob Frauenwahlrecht oder Rassengleichstellung: Meist waren es Außenseiter mit (für ihre Zeit) kontroversen – gar häretischen – Ansichten, die die Gesellschaft wirklich vorangebracht haben. Im offenen Diskurs konnten Millionen von Menschen davon überzeugt werden, die Vorstellungen, mit denen sie aufgewachsen sind (etwa zur Rolle der Frau), zu hinterfragen.
Außerdem erlaubt uns das freie Wort, die Mächtigen zu kritisieren und zu hinterfragen. Es ist ein starkes Werkzeug, um ihr Handeln zu kontrollieren und sie zur Rechenschaft zu ziehen. Die Meinungsfreiheit ist inhärent emanzipativ. Sie ist der beste Freund der Unterdrückten, Marginalisierten und aller, die die Gesellschaft verändern wollten. Die heutige zensurverliebte Linke täte gut daran, sich daran zu erinnern.
5. Eine zivilisierte Gesellschaft sollte niemanden für Kommunikation bestrafen
In einer aufgeklärten Gesellschaft sollten wir auf Argumente und nicht auf Redeverbote setzen. Wer die Freiheit verteidigen will, indem er die Feinde der Freiheit kopiert, hat von Freiheit nichts verstanden. Wir sollten Zensur als etwas Archaisches betrachten, als Mittel, das nur Theokratien, Autokratien und totalitäre Staaten benutzen. Sofern sie nicht Teil krimineller Handlungen ist (Erpressung, Anstiftung zur Gewalt, Anfertigung von Kinderpornografie…) oder unmittelbar die öffentliche Sicherheit gefährdet (das berühmte „Feuer“-im-Theater-Rufen), sollte Kommunikation niemals ein Delikt sein.