18.10.2021

Solidarische statt privilegierte Weiße

Rezension von Sabine Beppler-Spahl

Titelbild

Foto: Blake Bolinger via Flickr / CC BY 2.0

Unterprivilegierte Weiße in Großbritannien unterstützten im 19. Jahrhundert den Kampf gegen die US-Sklaverei, wie James Heartfield in einem Band ausführt.

Am 31. Januar 1865 endete in den USA die Sklaverei. Doch ihr Schatten, so die Meinung vieler, reicht bis in die Gegenwart: „In den USA haben Diskriminierung von Schwarzen und Polizeigewalt gegen sie ihre Wurzeln in der Sklavenhalterwirtschaft des 19. Jahrhunderts, die bereits Karl Marx präzise analysierte“, heißt es z.B. in einem Beitrag in der Jungen Welt. 1 Dieser Sicht zufolge war die Befreiung von über 3,5 Millionen ehemaliger Sklaven nur ein Scheinerfolg in einer ansonsten ungebrochenen Geschichte des Rassismus und der Unterdrückung. Nutznießer dieser Geschichte seien die Weißen: „White Privilege“ (das Privileg der Weißen) ist zu einem Begriff geworden, der den strukturellen Rassismus seit der Zeit der Sklaverei kennzeichnen soll.

Dieses Bild der privilegierten weißen Rasse lässt sich bei genauer Betrachtung kaum aufrechterhalten. Zwar berufen sich viele Linke auf Karl Marx, doch der war keinesfalls der Meinung, dass die englischen – oder auch die amerikanischen – Arbeiter von der Unterdrückung ihrer schwarzen Brüder und Schwestern profitierten. Stattdessen war er von der Solidarität beeindruckt, die große Teile der arbeitenden Bevölkerung dem Anliegen der Sklavenbefreiung hatten zukommen lassen. Für ihn war die Befreiung der Sklaven eng mit dem Befreiungskampf der Arbeiter im frühindustriellen England verbunden.

„Für Marx war die Befreiung der Sklaven eng mit dem Befreiungskampf der Arbeiter im frühindustriellen England verbunden.“

Die Geschichte der Solidarität der britischen Arbeiter mit den amerikanischen Sklaven erzählt der britische Historiker James Heartfield in einem kleinen Heft mit dem Titel: „British Workers & the US Civil War: How Karl Marx and the Lancashire Weavers Joined Abraham Lincoln‘s Fight Against Slavery“. 2 Das Buch beginnt mit der berühmten Emanzipations-Proklamation Abraham Lincolns vom 1. Januar 1863, in der der US-Präsident das Ende der Sklaverei bekundete. Diese Proklamation, so Heartfield, sei der Wendepunkt im Bürgerkrieg gewesen. Sie habe die Sklaven im Aufstand gegen ihre Besitzer ermutigt und der Armee des Nordens das Ideal gegeben, das sie brauchte, um für den Sieg zu kämpfen. Die Sklaverei wurde zu dem zentralen Thema des Konflikts, dem über eine Million Menschen zum Opfer fielen und der 1865 endete.

Die Ereignisse des Krieges wurden auch in Europa genau beobachtet und schon bald zeigte sich, wer für und wer gegen die Sklaverei war. Die Südstaaten konnten auf die Sympathien der Mächtigen hoffen: Der britische Premier Lord Palmerston und Frankreichs Louis Napoleon warben für eine militärische Unterstützung des Südens und auch die bürgerliche Presse solidarisierte sich mit den Sklavenbesitzern. Der Grund lag auf der Hand, wie Heartfield schreibt: Zum einen seien die Webereien als Hauptexportindustrie des Landes von den Baumwollplantagen des amerikanischen Südens abhängig gewesen. Zum anderen sei aber auch die Freiheitsbotschaft Lincolns auf Ablehnung innerhalb der britischen herrschenden Klasse gestoßen. Wegen der eigenen kolonialen Ambitionen hatte die Regierung kein Interesse an einer Debatte über Bürgerrechte für Schwarze. Hinzu kam die Hoffnung, dass der Krieg Amerika schwächen werde und sich das Land wieder für den britischen Einfluss öffnen könnte.

Doch nicht die Irrungen der Herrschenden stehen im Zentrum des Buchs, sondern die Haltung der britischen Arbeiter, die erkannten, dass sie mehr Gemeinsamkeiten mit den nach Befreiung strebenden Sklaven hatten als mit der englischen Regierung und der sie stützenden höheren Schichten. Dieser Teil der Geschichte beginnt wenige Monate nach Lincolns Proklamation. Bei einer Versammlung in London, zu deren Initiatoren auch Karl Marx gehörte, wurde die Frage der Solidarität mit dem Anliegen der Sklavenbefreiung besprochen. Marx hatte schon im Oktober 1861 in der österreichischen Zeitung Die Presse geschrieben, dass der Krieg die Frage stelle, ob sich zukünftig 20 Millionen freier Menschen der Diktatur von 300.000 Sklavenbesitzern beugen sollten.

„Zu einer der wichtigsten Versammlungen im Herbst 1862 in Manchester kamen über 6000 Menschen, um, wie es hieß, dem Norden die Hand zu reichen und am ehrenhaften Anliegen der Sklavenbefreiung teilzuhaben.“

Die Forderung nach einem Eingreifen Großbritanniens für oder gegen die Sklaverei wurde besonders im industriellen Lancashire, wo zahlreiche Menschen ihre Arbeit verloren hatten und sich die Angst vor einer „Baumwollhungersnot“ verbreitete, kontrovers debattiert. Der Krieg und die durch die Unionisten im Norden der USA auferlegte Seeblockade hatten die Baumwolllieferungen austrocknen lassen. Die Fabriken, die vor der Blockade noch über 400.000 Arbeiter beschäftigt hatten, reagierten mit Massenentlassungen. Vor diesem Hintergrund hofften die Unternehmer, dass ihr Wunsch, die Südstaaten zu unterstützen, auch bei den Arbeitern auf Zustimmung stoßen würde. Bestärkt wurden sie von Männern wie Mortimer Grimshaw, einem bekannten Arbeiterführer, der gegen die Londoner Versammlung eintrat. Für ihn ging es um die Frage, ob sechs Millionen Textilarbeiter leiden sollten, nur um vier Millionen „Neger“ zu befreien. Er sprach auch von „teleskopischen Philanthropen“, die sich mehr um die Schwarzen aus der Karibik sorgten als um die Arbeitssklaven der heimischen Industrie.

Doch die überwältigende Mehrheit der Arbeiter wählte einen anderen Weg. Um die Forderung eines Militäreingriffs zur Unterstützung des Südens abzuwehren, wurden weitere Versammlungen organisiert und Anti-Sklaverei-Kampagnen gestartet. Zu Beginn der Auseinandersetzungen, um 1861, sei die britische Arbeiterschaft noch schlecht organisiert gewesen, so Heartfield. Der amerikanische Bürgerkrieg aber habe zu ihrer Mobilisierung beigetragen. Zu einer der wichtigsten Versammlungen im Herbst 1862 in Manchester kamen über 6000 Menschen, um, wie es hieß, dem Norden die Hand zu reichen und am ehrenhaften Anliegen der Sklavenbefreiung teilzuhaben.

Die Geschichte der Weber und Sticker in Lancashire ist die des Klassenkampfes und der Solidarität. Bevor der amerikanische Bürgerkrieg die Fabriken in eine Krise stürzte, wurden jährlich über eine Milliarde Tonnen Baumwolle aus den Südstaaten eingekauft. Den Arbeitern, so berichtet es ein Journalist des BBC, dessen Vorfahren in den Fabriken tätig waren, sei sehr bewusst gewesen, dass das von ihnen zu verarbeitende Produkt zuletzt durch Sklavenhände gegangen war; „Ihre Unterstützung für die Union [den Norden der USA] war kein abstraktes Prinzip, sondern Ausdruck menschlicher Sympathie mit Millionen schwarzen Amerikanern, die dem historischen Stereotyp der Arbeiter des 19. Jahrhunderts als ungebildetem Mob trotzt“, schreibt er. Hinzufügen sollte man, dass diese Geschichte auch das Stereotyp des Privilegs der Weißen, die alle in gleichem Maße von der Sklaverei profitierten, widerlegt. 3

„Die Solidarität der englischen Arbeiter, die alle Rassengrenzen sprengte, hat mit den Schuldgefühlen, mit denen viele der heutigen Aktivisten von Black Lives Matter arbeiten, nichts zu tun.“

Nicht die Weisheit der herrschenden Klassen, sondern der heroische Widerstand der englischen Arbeiterklasse sei es gewesen, der den Westen Europas vor einer transatlantischen Kreuzfahrt für die Verewigung der Sklaverei bewahrt habe 4, sagte Karl Marx 1864 in einer Rede vor der internationalen Arbeiterassoziation. Die Solidarität der englischen Arbeiter, die alle Rassengrenzen sprengte, hat mit den Schuldgefühlen, mit denen viele der heutigen Aktivisten von Black Lives Matter arbeiten, nichts zu tun. Für Marx und die englischen Arbeiter standen die Gemeinsamkeiten im Kampf gegen Unterdrückung im Zentrum. Ein Sieg des Nordens, so ihre Botschaft, sei auch ein starkes Zeichen für das Wahlrecht in Großbritannien. Folgerichtig wurde im Anschluss an die Versammlung von 1862 die „Union Emancipation Society“ gegründet, die sowohl für das Ende der Sklaverei in Amerika als auch für das allgemeine Wahlrecht im eigenen Land eintrat.

An diese Geschichte zu erinnern bedeutet nicht, die Gräuel der Sklaverei kleinzureden oder den Rassismus zu ignorieren. Immer wieder wurde der Rassismus dazu genutzt, die Menschen – und auch die Arbeiterschaft – untereinander zu spalten. Doch die Behauptung, alle Weißen hätten von der Unterdrückung der Schwarzen profitiert, ist irreführend und geschichtsverfälschend. Sie basiert auf einer falschen Vorstellung homogener, rassischer Gruppen. Am schlimmsten ist, dass sie leere Schuldbekenntnisse mit echter Solidarität verwechselt. Deswegen ist es richtig, dass der Mut und die Entschlossenheit der Arbeiter in Lancashire unvergessen bleiben.

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